KAPITEL 22

U m von der Felsplatte wieder nach oben zu klettern, benötigte Nayler deutlich mehr Zeit als für den Weg hinunter. Hin und her musste er über die Felswand nach oben krabbeln, musste nach festem Stand suchen, musste die Stiefelspitzen in enge Risse zwängen, musste sich an abstehende Wurzeln klammern, die sich mitunter aus dem Fels lösten. Aber seine Kraft lag im Oberkörper, in den Armen und Schultern eines Ringers, die die Schwäche seines Beins ausglichen. Schweißnass zog er sich schließlich auf die Felskuppe. Eine Zeit lang blieb er noch sitzen, bis er wieder bei Atem war. Dann stand er auf, machte sein Pferd los und hievte sich in den Sattel. Die Stute schien den Rückweg zu kennen, was ihm recht war. Sie trug ihn auf dem Hügelkamm entlang und dann den steilen Abhang hinunter in den Wald. Als Nayler an Sperrys Bauernhaus und später der verfallenen Mühle vorbeiritt, nahm er sie kaum wahr. Die Schwermut hatte ihn wieder fest im Griff.

Als er New Haven erreichte, ging bereits die Sonne unter. Der Schatten des Versammlungshauses erstreckte sich weit über den grünen Anger. Nach dem morgendlichen Tumult war in der Siedlung wieder Ruhe eingekehrt. Ein Paar ging Arm in Arm spazieren und genoss die Abendluft. Er fragte sie nach dem Weg zum Gasthaus.

Wie er vorausgesehen hatte, saßen die Männer seines Suchtrupps bei Wein und Bier in der Schankstube.

»Und, Mr Nayler, habt Ihr Euch gut amüsiert?«, rief Kapitän Kirke und hob feixend sein Glas.

»Reden wir nicht darüber. Habt Ihr die Stadt durchsucht?« Wer Nayler kannte, hätte seinen bedrohlich ruhigen Ton bemerkt.

»Wir haben immer noch keine Vollmacht.« Der Kapitän nahm einen großen Schluck Wein.

»Ach, tatsächlich?«

»Ja, in der Tat.«

»Ich glaube, Ihr habt jetzt genug getrunken.«

»Ich trinke, so viel ich will.«

»Nicht solange ich Euch bezahle.« Er trat auf Kirke zu und schlug ihm das Glas aus der Hand. Kirke fluchte und wollte aufstehen, aber Nayler holte aus und hieb ihm mit der Faust gegen die Schläfe, so fest, dass der Kapitän nach hinten zu Boden stürzte. Stöhnend versuchte er, sich aufzusetzen, fiel aber gleich wieder auf den Rücken.

Nayler leckte über seine Fingerknöchel und blickte die anderen Männer herausfordernd an. Da keiner es wagte, ihm in die Augen zu schauen, ging er die Treppe zur großen Schlafkammer hinauf und legte sich auf das erstbeste Bett. Er drehte sich zur Wand und blieb so liegen, bis er bei Einbruch der Nacht Schritte und dann Kellonds Stimme hörte. »Mr Nayler, Sir, Gouverneur Leete möchte Euch sprechen.«

»Sagt ihm, er soll verschwinden.«

»Er hat Neuigkeiten wegen der Vollmacht.«

»Ich habe mich bereits für die Nacht zurückgezogen.«

»Er lässt sich nicht abweisen.«

Nayler stöhnte, richtete sich auf und stellte die Beine auf den Boden.

Unten saß Kirke zusammengesunken am Tisch. Der Kopf lag auf den verschränkten Armen. Offensichtlich schlief er. Nayler ging davon aus, dass er von ihm keinen Ärger mehr zu erwarten hatte. Sogar die Schotten waren von ihm abgerückt, als hätte er die Pest. Leete stand in der Tür.

»Gouverneur Leete«, sagte Nayler. »Ihr wünscht mich also zu sprechen?«

»Unter vier Augen, wenn es Euch recht ist.«

»Das sind ganz neue Töne, Sir. Ich dachte, was Ihr zu sagen habt, darf jeder hören?«

»Gleichwohl.«

Die beiden Männer gingen nach draußen. Die Stille war gespenstisch. Nayler fragte sich, wie die Leute hier das nur die ganze Zeit ertrugen. Kein Wunder, dass sie halb von Sinnen waren.

»Ich wünschte, ich wäre ein einfacher Bauer«, sagte Leete seufzend. »Dann wäre mir diese Verantwortung erspart geblieben.«

»Sicherlich hat Euch niemand diese Bürde aufgezwungen. Habt Ihr die Vollmacht?«

»Ich hoffe, sie morgen in Händen zu halten.«

»Das heißt, Ihr habt sie nicht bei Euch.« Nayler wandte sich ab, aber Leete hielt ihn am Arm fest.

»Das liegt nicht an mir, Mr Nayler. Es sind die Magistrate. Sie stehen alle unter dem Einfluss von Reverend Davenport. Aber ich hege die große Hoffnung, dass sie bis morgen zur Vernunft kommen. Sehr große Hoffnung.«

»Zu spät, Sir. Zu wenig und zu spät. Ich will die Stadt nicht mehr durchsuchen. Es hat keinen Sinn mehr. Die Vögel sind ausgeflogen. Ihr habt mich zum Narren gehalten, Sir.« Er spürte, dass die Wut wieder in ihm aufstieg. »Und Ihr werdet dafür zahlen. Einer Sache könnt Ihr Euch nämlich sicher sein. Wenn die königlichen Chartas gewährt werden, dann wird es einen Staat Massachusetts geben, und es wird einen Staat Connecticut geben, aber solange es einen König auf dem Thron von England gibt, wird es niemals, niemals, einen Staat New Haven geben. Euer kleines Land im Namen Mose ist am Ende. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.«

Der Suchtrupp verließ die Stadt am nächsten Morgen – nicht allzu früh, denn dafür gab es jetzt keinen Grund mehr, sondern erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Die Männer ritten an der Küste entlang nach Milford. Dort wartete Nayler draußen vor dem Krämerladen, während drinnen Kellond und Kirke (der inzwischen zahm wie ein Lämmchen war) den Besitzer Micah Tomkins befragten. Er bestätigte, dass die Königsmörder im März hier Zwischenstation gemacht und Vorräte gekauft hätten und dann in Richtung Neu-Amsterdam weitergeritten seien. Er behauptete, erst hinterher erfahren zu haben, um wen es sich bei ihnen handelte. Nayler bestand darauf, den Laden, die Nebengebäude und das Nachbarhaus auch ohne Vollmacht zu durchsuchen. Sie fanden nichts. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Er hatte lediglich darauf bestanden, weil Tomkins so lautstark auf seine Rechte gepocht hatte und weil er davon überzeugt war, dass Tomkins Teil der Verschwörung war. Die Schotten sorgten dafür, dass etliche seiner Waren zu Bruch gingen.

Nachdem sie zwei Tage scharf geritten waren, erreichten sie Neu-Amsterdam und begaben sich sofort ins Fort zu Generaldirektor Peter Stuyvesant. Er war ein übellauniger, etwa fünfzig Jahre alter Mann, der auf den Westindischen Inseln durch eine Kanonenkugel ein Bein verloren hatte. Ein englisches Gesuch würde er schlecht ausschlagen können. Hier in Neu-Niederlande verfügte er nicht über die militärischen Mittel, sich gegen die in der Gegend zahlenmäßig überlegenen Engländer zur Wehr zu setzen. Er stapfte auf dem Holzstumpf durch sein Arbeitszimmer, um sie zu begrüßen. Dann las er mit der Gründlichkeit eines holländischen Kaufmanns die königliche Verfügung und Endecotts Brief und befahl einem Untergebenen, wenn auch mit starkem Akzent, in korrektem Englisch, dass alle Schiffe im Hafen zu durchsuchen seien. Er erteilte außerdem den Befehl, jede Person mit Namen Whalley und Goffe oder Richardson und Stephenson daran zu hindern, Neu-Amsterdam zu verlassen. Mehr könne er ohne die Genehmigung durch seine Herren in Holland nicht tun, sagte er entschuldigend, und da die holländische Regierung bislang alle Ersuchen abgelehnt habe, diejenigen Königsmörder zu verhaften, die sich innerhalb Hollands Grenzen aufhielten, könne er ihnen nicht allzu viel Hoffnung machen.

»Sind Euch Berichte über Whalley und Goffe zu Ohren gekommen?«, fragte Nayler. »Oder über Personen, die sie sein könnten und möglicherweise unter falschem Namen in Euer Hoheitsgebiet eingereist sind?«

»Nein, Sir.«

»Na bitte«, sagte Nayler mit einem hämischen Grinsen zu Kellond und Kirke. »Eine falsche Fährte.«

Nach dem Treffen ritten sie mit einer von Stuyvesant unterzeichneten Vollmacht vom Fort hinunter zu den Monhatoes-Docks. Während seine Leute von Schiff zu Schiff gingen, setzte sich Nayler, der die Befragung der Kapitäne für Zeitverschwendung hielt, auf ein Ankerspill, rauchte eine Pfeife und hörte mit halbem Ohr den schroffen holländischen Stimmen zu. Es war ein warmer Nachmittag unter einem klaren blauen Himmel. Möwen kreisten kreischend über dem kabbeligen Wasser, auf dem Bojen tänzelten. Jenseits der in der Fahrrinne ankernden Schiffe lag das flache, graue Band von Long Island, wo sich die Umrisse einiger Häuser und einer Windmühle gegen den Himmel abhoben. Ihm fiel auf, dass das Fort im Vergleich zu Boston nur schwach geschützt wurde. Höchstens zwanzig Kanonen. Er durfte nicht vergessen, das in London zu berichten.

Der Lärm der Möwen und das auf dem Wasser spielende Licht erinnerten ihn an seine Ankunft in Amerika und die vielen falschen Hoffnungen, die er gehegt hatte. Was für ein Narr er doch gewesen war! Plötzlich sehnte er sich nach London mit seinen eleganten Gebäuden, nach seinen Räumen im Essex-Haus und seinem Arbeitszimmer im Whitehall-Palast, nach dem vertrauten ländlichen England mit seinen eng beieinanderliegenden Dörfern, seinen steinernen Kirchen und kleinen, schmalen, von Hecken umgebenen Feldern. Sogar für den Gestank der Themse bei Ebbe und die Abwasser entlang der Strand hatte er einen zärtlichen Gedanken übrig.

Ein paar Minuten später erschienen Kellond und Kirke. Der Jüngere hatte eine Art Registerbuch unter dem Arm. Zu Naylers Überraschung trugen sie ein triumphierendes Lächeln zur Schau. »Habt Ihr etwas entdeckt?«

»Und ob«, sagte Kirke. »Vielleicht war es am Ende doch keine so falsche Fährte.«

Kellond gab Nayler den in Leder gebundenen Band. Er klemmte sich die Pfeife zwischen die Zähne und balancierte das Buch auf den Knien. Er öffnete es an der mit einem eingelegten Zettel markierten Stelle.

»Was ist das?«

»Die Ladeliste der Vliegende Draeck – der Fliegender Drache . Der Zollmeister hat uns seine Kladde kurz ausgeliehen, damit wir Euch das zeigen können. Das Schiff hat am 3. April mit Ziel Rotterdam abgelegt, es hat hauptsächlich Tabak geladen, außerdem sind zwölf Passagiere an Bord. Der siebte und der achte Name sind interessant.«

Nayler schaute auf den unteren Abschnitt der Liste.

Edw. Richardson.

Wm. Stephenson.

Brummend legte er den Kopf schräg. »Das passt ein bisschen zu gut, meint Ihr nicht auch?« Trotzdem blickte er weiter mit gerunzelter Stirn die Namen an.

»Das mag schon sein«, sagte Kirke. »Andererseits – was haben wir für Beweise, dass sie nicht an Bord der Fliegender Drache gegangen und stattdessen nach New Haven zurückgekehrt sind? Keinen außer dem Wort von diesem Dennis Crampton, dem einzigen Menschen, der behauptet, sie dort gesehen zu haben – ein ausgewiesener Galgenvogel mit einem Groll gegen die Stadtväter. Und wo steckt Crampton jetzt? Nach Leetes Ankunft in New Haven ist er wie vom Erdboden verschwunden.«

»Allerdings haben sich Leete und die Magistrate nicht gerade wie Männer aufgeführt, die nichts zu verbergen haben.«

»Und sie hatten sehr viel zu verbergen«, sagte Kellond. »Ihre Verwicklung in die Flucht ist offensichtlich. Vielleicht wollten sie sichergehen, dass alle Hinweise auf die Königsmörder beseitigt sind, bevor wir uns auf die Suche machten. Oder sie wussten nicht sicher, ob Whalley und Goffe schon weg waren, und wollten ihnen mehr Zeit verschaffen.«

Nayler dachte darüber nach. »Das ist möglich«, sagte er. Er gab Kellond die Kladde zurück. »Aber ich bin nicht überzeugt. Wahrscheinlich ist die ganze Geschichte ein Trick, der uns dazu bringen soll, die Suche aufzugeben.«

»Das heißt, wir suchen weiter?«

»Auf jeden Fall. Ich werde nicht ruhen, bis ich sie habe oder sicher weiß, dass sie tot sind.«

Kellond und Kirke wechselten einen kurzen Blick. »Verzeiht, Mr Nayler«, sagte Kellond. »Im Hafen liegt ein Schiff, das morgen nach Boston ausläuft.«

»Und?«

»Wir haben darüber nachgedacht, die Gelegenheit zu nutzen, damit wir nicht auf dem Landweg zurückmüssen. Hier gibt es für uns ja wohl nicht mehr viel zu tun.«

Wie verschlagen Kellond doch aussah, dachte Nayler. Er hatte eine Eingebung. »Und dieses Schiff, trägt das ganz zufällig den Namen Charles? «

»Ja, in der Tat.«

»Wie das Schiff, das Eurer Familie gehört? Tja, noch so ein passender Zufall. Jetzt verstehe ich, warum Ihr so scharf auf Neu-Amsterdam wart.« An der Seite des Ankerspills klopfte er seine Pfeife aus und blies dann den Holm durch. Er wusste, wann er verloren hatte. »Ich stimme zu, die Spur hier ist kalt. Die können wir eigentlich begraben. Unter einer Bedingung: Ihr verliert kein Wort über diese Ladeliste. Ich will diesen Puritanergouverneuren nicht noch eine Ausrede für ihr Nichtstun liefern. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Während Chapin und die Schotten sich im Pferdesattel auf den Heimweg machten, gingen Nayler, Kirke und Kellond am nächsten Nachmittag an Bord des Schiffes nach Boston.

Diesmal seid ihr mir entwischt, dachte Nayler, als er am Schandeck stand und die zurückweichende Küstenlinie betrachtete. Aber ich habe so laut Zeter und Mordio gegen euch geschrien, dass euer Leben, wenn ihr denn noch hier seid, wohl ziemlich erbärmlich sein wird. Ihr könnt euch nicht für immer verstecken. Eines Tages kriege ich euch.

Sein ruheloser Geist schmiedete schon Pläne für einen Besuch in Holland. Und wenn der erfolglos blieb, stünde eben eine weitere Expedition nach Neuengland an.

*

Naylers geheimer Wunsch ging in Erfüllung. Seit der Beinahbegegnung in der Höhle verlief das Leben der beiden Oberste ungemein erbärmlich. Fast schien es, als wären sie mit einem Fluch belegt.

Aus Angst, der Eindringling könne ihnen draußen vor der Höhle mit der Pistole auflauern, blieben sie zunächst im Dunkeln und wagten es kaum, sich im Flüsterton zu unterhalten.

»Wie viele waren das?«

»Ich glaube, nur einer.«

»Ist er weg?«

»Bin mir nicht sicher.«

»Vielleicht sind noch mehr in der Nähe.«

»Vielleicht hat er uns gehört und holt jetzt Verstärkung.«

Als sie sich schließlich durchgerungen hatten, es zu riskieren und sich durch den Spalt ins Freie zu zwängen, dämmerte es schon. Wenn Sperrys Sohn ihnen etwas zu essen hatte bringen wollen, dann hatten sie ihn verpasst. Der Wasserfall sorgte zumindest dafür, dass sie ausreichend zu trinken hatten. Als Ned im Halbdunkel nach Feuerholz suchte, stolperte er über ein kleines, indianisch aussehendes Beil. Anlässlich des Fundes tauften sie ihren Zufluchtsort Kriegsbeil-Herberge und dankten Gott für ihre Befreiung. Die Erleichterung währte jedoch nur kurz. Damit man sie von der Stadt aus nicht sehen konnte, beschlossen sie, nachts kein Feuer zu machen. Das hätte am nächtlichen Himmel nur wie ein Komet geblinkt. Außerdem fühlten sie sich in der Höhle hinter dem engen Eingangsspalt wie eingesperrt, weshalb sie wieder einmal unter den Sternen schliefen.

Sperrys Sohn erschien am zweiten Nachmittag und machte sich mit piepsiger Stimme bemerkbar. Sie ließen das Seil hinab und zogen dann den Korb nach oben, der allerdings nur einen kümmerlichen Vorrat an Brot und Käse enthielt. Beides hatten sie im Nu verschlungen. Am dritten Morgen hörten sie den Vater rufen. Sie ließen das Seil hinunter, worauf Sperry zu ihnen auf die Felsplatte kletterte. Als Erstes fragte er, ob jemand vorbeigekommen sei, und sie erzählten ihm von dem Mann, der in der Höhle reglos in der Dunkelheit gestanden und gelauscht habe. Will sagte, der Mann sei höchstens zwanzig Schritt von ihnen entfernt gewesen. Sie hätten sogar seine Atemgeräusche gehört.

»Das war sicher dieser Nayler«, sagte Sperry. »Der ist den ganzen Weg von London gekommen, um Euch zu schnappen. Heißt es jedenfalls.«

»Wer soll das sein?«

»Ein wahres Ungeheuer, das kann ich Euch verraten. Der hat meine Frau in Angst und Schrecken versetzt.«

»Ist er noch in der Stadt?«

»Er ist mit seiner Suchmannschaft nach Neu-Amsterdam aufgebrochen. Aber Mr Jones meint, bei den ganzen Strafandrohungen und mit der ausgesetzten Belohnung von diesem Nayler wäre es in ganz Neuengland nicht mehr sicher für Euch. Ich soll Euch sagen, dass Ihr Euch von den Städten fernhalten sollt, bis er andere Ratschläge für Euch hat.«

»Aber wir können nicht ewig hier oben bleiben«, protestierte Ned.

»Hier nicht. Ich habe ein besseres Versteck.«

Sie sammelten ihre Habseligkeiten zusammen und folgten ihm die Felsplatte entlang, bis er die gesuchte Stelle fand. Dann ging er genauso vor wie beim ersten Mal. Er kletterte die Felswand hoch, warf das Seil nach unten, zog ihre Taschen hoch und half erst Will und dann Ned nach oben.

Das zweite Versteck hatte gegenüber dem ersten einige Vorteile. Es war weniger eine Höhle denn ein Hügel aus einem halben Dutzend massiver Felsbrocken – wie ein heidnischer Tempel, dachte Ned, ein natürliches Stonehenge. Der Unterschlupf war etwa vierzig Fuß im Geviert groß und zwanzig hoch, mit einem Tunnel zwischen zwei der gewaltigen Felsblöcke und einer Felsplatte hoch über dem Boden, wo sie schlafen konnten. Der Platz war durch Bäume rundum gut abgeschirmt, doch wenn sie ganz nach oben kletterten, dann bot sich ihnen eine noch imposantere Aussicht als von ihrem ersten Versteck, nicht nur hinunter auf die Stadt und das Meer, sondern auch in nördlicher Richtung über den Wald hinweg.

»Da unten ist ein Bach«, sagte Sperry. »Da gibt es Fische, und da findet Ihr auch genug Feuerholz. Wenn Ihr auf der anderen Seite Feuer macht, dann kann man von der Stadt aus nichts sehen. Die Indianer nennen das hier den Totenfels. Sie glauben, dass sich hier die bösen Geister versammeln. Die Indianer werden Euch hier jedenfalls nicht stören. Habt Ihr Eure Pistolen?«

Ned klopfte auf seine Manteltasche.

»Tragt sie immer bei Euch. Es gibt hier Wölfe, Bären und Berglöwen, die könnten Euch schon stören. Ein Schuss in die Luft, das vertreibt sie. So bald wie möglich schicke ich Euch wieder meinen Jungen mit Essen. Er stellt den Korb ab, und Ihr holt Euch das Essen, wenn er wieder weg ist. Den Korb lasst Ihr stehen, den holt er wieder ab. Und lasst Euch nicht blicken. Mr Jones hat versprochen, Euch zu holen, sobald Ihr gefahrlos weiterziehen könnt.«

»Wann das wohl sein wird?«, sagte Will.

Sperry zuckte die Achsel.

Sie wussten von Anfang an, dass sie sich auf ausreichend Nahrungsnachschub durch Sperrys Sohn nicht verlassen konnten. Die Familie hatte offensichtlich selbst kaum genug. Sie waren also gezwungen, auf ein paar der Indianermethoden zurückzugreifen, die sie auf dem Weg nach Connecticut kennengelernt hatten. Mit dem Netz, das sie in Milford gekauft hatten, fischten sie im Bach und dünsteten ihren Fang in Blätter gewickelt in der Glut, wie Gookin es ihnen gezeigt hatte. Wenn sich der Fang als zu dürftig erwies, bauten sie, wie sie es bei den Eingeborenen gesehen hatten, eine trichterförmige Steinreuse. Sie sammelten essbare Pflanzen, die sie von ihren Gewaltmärschen in England her kannten – Wasserkresse, Erdbeeren, Haselnüsse. Außerdem sammelten sie ihnen unbekannte amerikanische Beeren, Pilze und Kräuter, die sie erst in winzigen Mengen mit der Zungenspitze prüften, ob sie giftig waren. Einmal bekam Ned trotz aller Vorsicht grässliche Magenkrämpfe, und Will mischte ihm eine Arznei aus Holzkohle und Wasser. Fast den ganzen Tag über saß Ned vor dem Loch, das er etwa fünfzig Schritt von ihrem Versteck entfernt mit dem Beil gegraben hatte, und übergab sich.

Nachts hörten sie manchmal ziemlich nah Wölfe heulen. Dann lagen sie wach auf ihrem mit Laub gestopften Fischernetz und wagten es nicht, den Finger vom Abzug ihrer Pistolen zu nehmen.

Mitte der zweiten Woche ihres Daseins in der Wildnis wurde Ned bei Morgengrauen von einem Hirsch geweckt, der um ihre Feuerstelle herumschnüffelte. Ned hob sehr leise seine Pistole und schoss dem Hirsch in die Flanke. Der stakste noch ein paar Schritte, fiel dann auf die Seite, und Ned gab ihm mit dem Beil den Rest. Sie weideten das Tier aus, schnitten das Fleisch in Würfel und kochten es. Aus Zweigen bauten sie ein Gitter und zogen das Fell daran zum Trocknen auf.

An manchen Tagen im Juni war das Wetter unerträglich heiß, und sie mussten frisches Holz verbrennen, um die Insekten auszuräuchern. An anderen Tagen heulte der Wind um ihre exponierte Behausung, und der Regen blies mit solcher Kraft von See, dass es unmöglich war, der Feuchtigkeit zu entgehen. Sie zogen sich die nasse Kleidung aus, und Ned schnitt aus dem Hirschfell breite Streifen, die sie wie einen Schurz um den Leib trugen. Im Laufe der Zeit fanden sie die Art, sich wie die Indianer zu kleiden, immer angenehmer. Die entblößten Körperpartien warfen in der Sonne zunächst Blasen, wurden dann aber braun. Haare und Bärte wurden länger. Will sagte lachend zu Ned, mit dem grauen Haar und dem grauen Bart sähe er aus wie Methusalem. Doch so oft sie auch im Bach badeten, sie schafften es nie, sich vollständig von Läusen zu befreien.

Mein Gott, dachte Ned eines Nachmittags, als er Will im Wasser stehen sah: fast nackt, regungslos wie eine Statue, mit dem selbst gebauten Speer in der Hand beim Versuch, einen Fisch aufzuspießen. Wir sind keine christlichen Gentlemen mehr. Wir haben uns in Wilde verwandelt, nur ohne deren Anmut und ohne deren Fähigkeiten.

Sie sprachen fortwährend über ihre schlimme Lage und wie sie sie lindern könnten. Sollten sie ihr Glück in einer anderen Stadt versuchen? Aber wenn New Haven schon nicht mehr sicher war, wo sollten sie dann sicher sein? Außerdem hatten sie nur verschwommene Kenntnisse von der lokalen Geografie. Sie könnten sich zur Küste durchschlagen und dem Weg nach Neu-Amsterdam folgen. Aber das war nun einmal die Richtung, so hieß es, den dieser mysteriöse Nayler und sein Suchtrupp eingeschlagen hatten. Gut möglich, dass die Holländer gastfreundlicher wären, aber die Oberste sprachen deren Sprache nicht und hatten nur wenig Geld. Sie waren so augenfällig Fremde, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis jemand sie auslieferte, um die Belohnung zu kassieren. Vielleicht, meinte Will, sollten sie sich einfach ergeben. Aber Ned schreckte davor zurück. »Gott hat uns diese Prüfung nicht ohne Grund auferlegt. Es ist unsere Pflicht, sie zu bestehen.«

Als Erstes am Morgen und später am Nachmittag beteten sie. Will vermerkte sorgfältig jeden neuen Tag, indem er Kerben in einen der Felsen ritzte. Am Sabbat hielten sie länger Andacht als sonst, Will las laut aus der Bibel, wobei er mit dem Oberkörper vor und zurück wippte, weil er sich dann, so sagte er, besser konzentrieren könne. Er kam oft auf die Geschichte von Jesu vierzig Tagen und vierzig Nächten in der Wildnis zurück, wie in den Evangelien von Lukas und Matthäus berichtet: Wie Jesus gefastet habe und hungrig geworden sei und wie ihm der Satan erschienen sei, um ihn in Versuchung zu führen.

Eines Nachmittags in der sechsten Woche ihrer Abgeschiedenheit stieg Will mit der Bibel in der Hand von der Felsplatte herunter. Seine dunkelbraunen Augen, die wegen der Auszehrung größer wirkten als früher, leuchteten hell vor Erregung. Ned saß am Feuer, stocherte in der Glut herum und bereitete das Essen vor.

»Ich glaube, Ned, ich habe jetzt endlich den Sinn von alldem begriffen.«

»Und was ist der Sinn, Will?«

»Gott hat uns aus dem gleichen Grund in diese Wildnis aus Felsen und hohen Bergen geschickt wie Jesus – um uns zu prüfen, um uns zu lehren, dass wir allein durch den Glauben leben sollen, nicht durch das Brot und durch weltliche Versuchungen.« Er rezitierte aus dem Gedächtnis. »›Da sprach Jesus zu ihm: Heb dich weg von mir, Satan, denn es stehet geschrieben, du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen. Da verließ ihn der Teufel; und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm.« Er zählte die Kerben in dem Felsen. »Übermorgen, am 23. Juni, dem Tag des Herrn, sind wir den vierzigsten Tag hier.« Er überprüfte seine Rechnung. »Ja, da bin ich mir sicher. Heute ist Freitag, dann ist es am kommenden Sabbat.«

»Was ist dann?«

»Das Ende unserer Prüfung. Der Tag, wo wir die Wildnis verlassen sollen, wie es unser Erlöser getan hat, um in die Welt der Menschen zurückzukehren.«

»Und wohin sollen wir dann gehen?«

»Zum Versammlungshaus in New Haven und dort unseren Glauben verkünden.«

Ned war die plötzlichen Anfälle religiösen Eifers seines Schwiegersohnes gewohnt. Er versuchte immer, ihnen mit Achtung zu begegnen. Hatte nicht Oliver höchstpersönlich erklärt, Will trage den Geist von Jesus Christus in sich? Aber das hier war zu viel.

»Das wäre Wahnsinn. Wir müssen warten, bis Jones uns Bescheid gibt, dass wir gefahrlos von hier wegkönnen.«

»Nein, da liegst du falsch. Was, wenn Jones nie kommt? Wir müssen an den Plan glauben, den Gott für uns gemacht hat.«

»Gott hat uns auch den Verstand gegeben, die Hand nicht im Glauben ins Feuer zu halten, dass sie nicht verbrenne.«

Sie stritten bis zum Einbruch der Nacht. Es war der erste ernsthafte Streit, seit sie in der Wildnis lebten. Als sie sich schlafen legten, musste Ned zu seinem Entsetzen feststellen, dass Will entschlossen war, in die Stadt zu gehen, einerlei ob er ihn begleitete oder nicht. Der Gedanke, völlig allein zurückzubleiben, erschreckte ihn. Er lag noch lange wach und versuchte sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Als er schließlich einschlief, wurde er von Träumen geplagt. Der Satan war hinter ihm her, eine Bestie mit gelben Augen, die Geräusche von sich gab, die er noch nie zuvor gehört hatte – ein gespenstisches tiefes, hohles Knurren, das ihm alle Haare zu Berge stehen ließ.

Er öffnete die Augen und sah im blassen Schein des schmalen Mondes und des Sternenhimmels die Umrisse eines Tieres, das keine zwei Schritte von ihm entfernt auf der Felsplatte kauerte. An den zitternden Hinterläufen erkannte er, dass es kurz vor dem Sprung war. Einen Augenblick lang war er vor Angst wie gelähmt, doch dann war sein Verstand plötzlich sehr klar, und er tastete am Rand des Bettlagers nach seiner Pistole.

Diese leise Bewegung musste das Tier gereizt haben. Es sprang in dem Augenblick, wo er die Pistole hochriss. Ned spürte das schwere Gewicht auf seine Brust fallen und roch den heißen, stinkenden Atem des Tiers, als er den Lauf der Pistole in das Fell des muskulösen Körpers presste und abdrückte. Die Explosion war ohrenbetäubend. Ned nahm wahr, dass das Ding auf seinem Brustkorb lag – ob tot oder lebendig, konnte er nicht sagen – und wie Will schrie. Er wand sich unter dem Gewicht, versuchte sich aufzurichten und rief um Hilfe. Zusammen mit Will schaffte er es, das Tier von der Felsplatte in die Tiefe zu werfen, wo es hart auf dem Boden aufschlug.

Ned ließ sich keuchend auf den Rücken fallen. Will fragte, ob er verletzt sei, und Ned antwortete, er glaube nicht. Trotzdem bewegte er sich nicht, sondern blieb mit weit aufgerissenen Augen liegen, während die zweite Pistole gespannt und geladen auf seiner Brust ruhte. Auch Will neben ihm lag regungslos da.

Beim ersten Tageslicht kletterten sie nach unten, um das tote Tier zu untersuchen. Es handelte sich nicht um den Satan, sondern um einen Berglöwen, eine Löwin. In Neds Erinnerung war es ein riesiges Tier gewesen, aber in der grauen Morgendämmerung entpuppte es sich als fast winzig, nicht viel mehr als drei Fuß lang und sehr mager, mit vorstehenden Rippen und kleinem Kopf. Das Rückenfell war gelbbraun, das am Bauch blass und dort, wo die Kugel eingedrungen war, von dem getrockneten Blut verfilzt. Die Kugel hatte die Löwin anscheinend ins Herz getroffen. Halb verhungert, dachte Ned, genau wie wir. Er empfand plötzlich Mitleid.

Will zeigte auf Neds rechte Schulter. »Du bist verletzt.«

Ned schaute auf seinen Oberarm. Schnitte und Kratzer, rot, von Zähnen oder Krallen, aber kaum Blut. Ein paar Narben mehr in seiner Sammlung. Er ging hinunter zum Bach, um die Wunden auszuwaschen. Er wusste, Will würde den Vorfall als ein Zeichen Gottes deuten, dass sie ihr Versteck verlassen müssten. Und als Beweis würde er irgendwelche Bibelstellen anführen, was er auch sogleich tat, indem er aus den Psalmen zitierte: »Die jungen Löwen müssen darben und hungern; aber die den Herrn suchen, haben keinen Mangel an irgend einem Gut.« Aber das war nicht der Grund, warum er seine Meinung änderte. Ihm war nun klar, dass er an diesem einsamen Ort mit all seinen Gefahren und Entbehrungen ohne seinen Schwiegersohn unmöglich würde überleben können. So weit waren sie nun zusammen gekommen, zusammen würden sie auch weiterziehen – wie es in der Bibel hieß, bis an der Welt Ende .

Um dem mosaischen Gesetz zu gehorchen, worauf Will nach wie vor bestand, mussten sie sich bei Sonnenuntergang innerhalb von zwei Meilen Entfernung zum Versammlungshaus befinden. Die naheliegende Lösung war, die verfallene Mühle wieder aufzusuchen. Sie konnten sich nicht dazu entschließen, zwei Felswände hinunterzuklettern, vor allem wegen Neds verletztem Arm, was bedeutete, dass sie den langen Weg außen herum würden gehen müssen. Ned nahm die Löwin aus, schnitt das wenige Fleisch in kleine Stücke und warf es in einen Topf. Während es köchelte, zog er das Fell ab und spannte es für den Fall, dass sie umzukehren gezwungen wären, auf das Holzgitter.

Es schien keine Rolle zu spielen, wie lange das Fleisch kochte, es blieb zäh und hart, hatte aber dennoch einen kräftigen Wildgeschmack, der an Bärenfleisch erinnerte. Was sie nicht aßen, nahm Ned für den Abend in seiner Tasche mit. Dann zogen sie ihre englische Kleidung an, traten das Feuer aus und machten sich auf den Weg.

Sie gingen zunächst auf dem Bergkamm einige Meilen nach Norden, bis das Gelände abfiel, dann durch den Wald nach Süden und schließlich, als der Weg allmählich ebenerdig wurde, in Richtung Osten. Zur Bestimmung ihrer Position richteten sie sich nach dem Stand der Sonne. Es war ein mühsamer Marsch in unwegsamem Gelände bei großer Hitze, zumal in den ledernen Armeemänteln. Und dann die Bisse der bösartigen Moskitos, die sich an ihrem Blut labten. Aber die Wochen unter freiem Himmel hatten sie auch abgehärtet, und die Monate des Umherziehens hatten sie gelehrt, sich in der Wildnis zu orientieren. Am späten Nachmittag sahen sie Sperrys Bauernhof. Kurz erwogen sie, einen Zwischenhalt einzulegen, entschieden sich aber dagegen. Es hatte ohnehin den Anschein, dass niemand zu Hause war.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Mühle. Ned war so erschöpft, dass er nur noch ein paar Brocken kaltes Löwenfleisch essen konnte und dann auf seinem Mantel ausgestreckt sofort einschlief.

Am nächsten Morgen schulterten sie ihre Taschen und machten sich wieder auf. Nach etwa einer Meile war in der Ferne die läutende Glocke des Versammlungshauses zu hören. Als sie eine Viertelstunde später in die Stadt kamen, lagen die breiten Straßen wie ausgestorben da. Alle Bürger waren beim Gebet. Sie marschierten über den Anger, Will voraus, hinter ihm Ned, den die Vorahnung plagte, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatten. Und als sie das Versammlungshaus betraten und die dicht gedrängte Gemeinde sich zu ihnen umdrehte, wusste er, dass er damit richtig lag.

Ihr Erscheinen – sowohl die Tatsache an sich wie auch ihr Aussehen nach fast sechs Wochen in den Wäldern – rief Ausrufe des Entsetzens hervor. Davenport stand auf der Kanzel und hielt die Predigt. Vielleicht zum ersten Mal in seiner langen Laufbahn schien es ihm kurz die Sprache zu verschlagen. Es dauerte ein paar Augenblicke, aber dann stieg er unter dem lauter werden Gemurmel der Gemeinde von der Kanzel und ging ihnen mit abweisenden Handbewegungen entgegen, als wären sie zwei wilde Tiere, die sich aus dem Wald hierher verirrt hätten. Gouverneur Leete und William Jones erhoben sich von ihrem Platz in der ersten Reihe und folgten Davenport. Die drei Männer schoben die Oberste nach draußen. Jones drehte sich um, schloss die Tür und fuhr wieder herum.

»In Gottes Namen«, sagte er leise. »Habe ich Euch nicht gesagt, dass Ihr in Eurem Versteck bleiben sollt, bis ich Euch Bescheid gebe? Warum seid Ihr hier?«

Will hob aufmüpfig das Kinn. »Wir waren vierzig Tage und vierzig Nächte in der Wildnis, und es steht geschrieben, dass unsere Prüfung nun beendet ist und die Engel sich unser annehmen werden.«

»Wo steht geschrieben, dass Eure Prüfung beendet ist?«, fragte Davenport.

»Matthäus, Kapitel vier.«

»Das ist nicht die Bedeutung des Absatzes.«

»Ich glaube schon.«

»Wollt Ihr Euch anmaßen, mir die Heilige Schrift zu erklären?«

»Nein, Sir.«

»Behauptet Ihr, Christus zu sein, Oberst Goffe? Wenn ja, dann ist das schwerwiegendste Blasphemie.«

Zum erste Mal schien Will verunsichert zu sein. »Ich will nicht behaupten, dass einer von uns beiden Jesus ist, nur dass wir demütig seinem in der Heiligen Schrift offenbarten Beispiel folgen.«

Leete schüttelte ungläubig den Kopf. »Eure Rückkehr bringt uns in eine höchst gefährliche Lage. Ganz Neuengland hat sich seit Eurem Verschwinden gegen unsere Kolonie gewandt. Mr Davenport schwebt in ernster Gefahr, verhaftet zu werden – und Mr Jones und ich ebenso.«

»Das tut uns leid«, sagte Ned.

»Wir haben den Vertretern der Krone versichert, dass wir nichts über Euren Aufenthaltsort wissen – und jetzt taucht Ihr hier auf. Die ganze Stadt hat Euch gesehen.«

»Geht«, sagte Jones und wiederholte die schrecklichen abweisenden Gesten Davenports, die Ned als den Augenblick in Erinnerung behalten sollte, wo ihr Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft besiegelt wurde. »Geht jetzt. Wir werden sagen, dass Ihr die Berge verlassen und Euch nach Boston aufgemacht habt, um Euch zu ergeben.«

»Aber das ist nicht christlich«, sagte Will.

Ned nahm ihn am Arm. »Komm, Will«, sagte er sanft. »Das sind unsere Freunde. Wir können nicht mehr von ihnen verlangen, als was in ihrer Macht steht.« Er wandte sich an Jones. »Den Sommer können wir im Freien überstehen. Aber wenn das Wetter schlechter wird, dann …« Er brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden.

»Wir tun, was wir können«, sagte Jones. »Ihr habt unser Wort darauf. Ich werde zu Euch kommen, wenn wir einen Plan ausgearbeitet haben. Aber geht jetzt, bitte.«

Will schien weiter mit ihnen streiten zu wollen, aber Ned zog ihn weg. Nach ein paar Schritten gab Will nach, und zusammen gingen sie über den Anger zurück. Als sie wieder auf der Straße waren, drehte Ned sich noch einmal um. Die drei Männer schauten ihnen hinterher. Als er sich eine Minute später noch einmal umblickte, waren sie wieder hineingegangen.

Die Oberste mussten weiter in der Wildnis ausharren, weitere sechsundfünfzig Tage, die Will – zusammen mit den Vollmondnächten am 11. Juli und 9. August – sorgfältig mit in den Fels geritzten Kerben festhielt. Die Tage verschmolzen miteinander, sodass sie ohne Wills akribisch geführten Kalender keine Vorstellung von der verstrichenen Zeit gehabt hätten.

Sie bauten Schlingfallen, um Kaninchen zu fangen, und schnitzten aus dem Ast eines Hickorybaums einen Bogen. Den bespannten sie mit einer Schnur, die sie aus den Fasern von Nesselstängeln flochten. Sie schnitzten Pfeile aus Birkenholz, an denen sie oben spitze Kiesel und unten Federn befestigten. Das sparte Munition, es vertrieb die Zeit und war bei der Jagd auf Hirsche überraschend wirkungsvoll. Sie hungerten nicht. Tatsächlich ernährten sie sich mit dem gekochten und gebratenen Fleisch, dem gedünsteten Fisch, den Beeren und anderen essbaren Pflanzen womöglich gesünder als vorher. Nur die Aussicht auf den Herbst und den Winter machte Ned Angst. Er war davon überzeugt, dass sie an ihrem ungeschützten Standort das kalte Wetter nicht überleben würden. Also machten sie sich auf die Suche nach einer geeigneteren Unterkunft, wobei sie jedes Mal tiefer in den Wald eindrangen.

Bei einem dieser Ausflüge trafen sie auf Indianer. Will sah sie als Erster – drei männliche Gestalten, die regungslos zwischen den Bäumen standen. Eine halbe Minute schauten sich die beiden Parteien an, dann hob Ned die Hand zum Gruß, worauf die Indianer sich umdrehten und im Wald verschwanden. Sie sahen sie nie wieder. Aber seitdem spürten sie, dass sie unter Beobachtung standen, was ihre Unruhe nur verstärkte. Eines Nachts hörten sie Geräusche, die sich nach einem Bären anhörten, der am Lagerfeuer an ihren Essensvorräten herumschnüffelte. Am nächsten Morgen fanden sie ihre Speisekammer leer vor. Das Gefühl, dass ihr Überleben gänzlich von diesem unaufhörlichen Kampf abhing, hinterließ allmählich Spuren – dass nämlich feindselige Tiere oder auch Menschen sie beobachteten und nur auf einen Fehler von ihnen warteten, der dann ihr Ende besiegelte. Am Tag, wenn sie ihren Beschäftigungen nachgingen, war es erträglich, aber in den länger werdenden Nächten wurde ihre Vorstellungswelt zunehmend von Ängsten beherrscht. In der Dunkelheit war das Land laut, leer, gespenstisch. Jedes Vogelkreischen, jedes Heulen und Rascheln beschwor böse Geister. Ned fragte sich, ob sie allmählich durchdrehten.

An einem Montagnachmittag, nach Wills Kalender der neunzehnte Tag im August, saß Ned auf dem höchsten Ausguckfelsen und sah durch sein Fernrohr vier Gestalten, die in ihre Richtung ritten. Halt, es waren keine vier Gestalten, sondern nur zwei. Die beiden anderen Pferde waren reiterlos. Das waren keine Indianer. Das waren Europäer. Er beobachtete sie eine Zeit lang, dann nahm er das Fernrohr herunter und wischte sich den Schweiß vom Auge. Er beugte sich nach unten und warnte Will. Als er wieder hindurchschaute, erkannte er die Männer als Jones und Sperry.

Die Zeit war zu knapp, als dass sie sich hätten umziehen und die beiden Männer in ihrer englischen Kleidung empfangen können. Sie begrüßten sie so, wie sie waren, Will mit dem Bogen über dem Arm, Ned mit dem Löwenfell über den Schultern. Er sah das Entsetzen in Jones’ Augen – und nicht nur das, er sah den Ekel.

Die Besucher schauten sich im Lager um. Sie sahen den getrockneten Fisch, die Tierhäute und die offene Grube, in die sie die Knochen der von ihnen gefangenen Tiere geworfen hatten. Der aus Nordost kommende Wind drehte etwas und wehte den Gestank der Latrine herüber.

»Es ist so weit«, sagte Jones. »Und keinen Augenblick zu früh, so wie es hier aussieht. Wir haben einen Platz für den Winter für Euch gefunden.«

»Wo soll das sein?«

»Ihr werdet schon sehen. Sucht Eure Sachen zusammen.«

Sie benötigten eine Stunde, bis das Lager geräumt und ihre Taschen gepackt waren. Ned brachte es nicht über sich, das Beil, das er gefunden hatte, und die Werkzeuge, den Bogen und die Pfeile, den Speer und die Trockengestelle, die sie alle selbst gebaut hatten, einfach zurückzulassen. Er vergrub sie zusammen mit ihrem Fischernetz in einem Loch.

Die Route, die Jones und Sperry ausgesucht hatten, führte sie am Hügelkamm entlang und dann in den Wald hinunter, wo sie sich aber nicht nach Süden wandten, sondern in einem großen Bogen um New Haven herum in Richtung Südwesten. Gegen Ende des Nachmittags machten sie am Rand des Waldes Rast, aßen und tranken etwas, warteten den Sonnenuntergang ab und zogen dann weiter. Wohin wir auch gehen, dachte Ned, sie wollen, dass wir im Dunkeln ankommen.

Sie durchquerten abermals eine weite Ebene, die mit großen Bäumen besprenkelt war und einer englischen Parklandschaft glich. Nach und nach wurde klar, dass sie auf die Küste zuhielten. Im abendlichen Dämmerlicht erschien eine kleine Siedlung, aber erst als sie bei Dunkelheit die Küstenstraße erreichten, erkannte Ned, dass sie in Milford waren. Wenig später standen sie vor Micah Tomkins’ Krämerladen. Jones klopfte, und Tomkins erschien mit einer Laterne. Er bat sie nicht ins Haus, sondern schaute sich nervös um, gab ihnen kurz die Hand und führte sie dann über den Hof in ein Nebengebäude. Es war zu dunkel, als dass man viel hätte sehen können – Fässer, Säcke, Bauholz. Er schob ein paar Dinge zur Seite, öffnete eine Falltür und hielt die Laterne darüber.

»Da ist es wenigstens trocken. Da unten seid Ihr sicher. Ich komme morgen früh wieder.«

Er gab Will die Laterne, der ihm dankte und damit die Leiter hinunterstieg. Ned guckte in das dunkle Loch. Nicht dass er erpicht darauf gewesen wäre, es näher zu erkunden, aber er war wohl kaum in der Lage, sich zu beschweren. Er zögerte kurz, dann folgte er Will die Leiter hinunter. Über ihnen schloss sich die Falltür.