KAPITEL 23

I m nächsten Frühjahr – genauer, am Sonntag, dem 2. März 1662, um acht Uhr morgens – konnte man vier Mitt- und Endfünfziger, alle im tristen puritanischen Sonntagsstaat und mit einer Bibel in der Hand, durch die City von London gehen sehen. Darin offenbarte sich eine gewisse Renitenz, denn nach den Gesetzen der Regierung unter König Karl II . war es höchstens fünf Puritanern erlaubt, sich zu irgendeiner Zeit zu treffen. Eine größere Versammlung wurde als Konventikel betrachtet, als heimliche Zusammenkunft außerkirchlicher religiöser Gemeinschaften, die mit Gefängnis bestraft wurde. Ihr Auftritt war also legal, wenn auch nur ganz knapp.

Begleitet vom Glockengeläut der Kirchen in der Stadt gingen die Männer vom Fluss in nördlicher Richtung durch die Coleman Street, bogen nach rechts in eine mit Handelshäusern gesäumte Gasse ein, die Swan Alley, und blieben dort vor einem hohen, schmalen Gebäude stehen, das aussah, als hätte es sich nachträglich in die Häuserreihe gequetscht.

Frances Goffe schenkte ihrem Onkel William gerade ein Glas Wasser ein, als die Besucher an die Haustür klopften. Der alte Prediger saß wie immer über seine Papiere gebeugt am Schreibtisch. »Das sind wahrscheinlich meine Gäste«, sagte er, ohne den Kopf zu heben. »Lass sie bitte herein. Das wird dich interessieren, sie sind gerade erst aus Amerika eingetroffen.«

Amerika. »Glaubst du, sie bringen Neuigkeiten von Will und Vater?«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

Sie lief durch den Flur, strich ihr Kleid glatt, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und öffnete dann die Tür. Der älteste der vier Männer musterte sie kurz und lächelte dann feierlich.

»Habe ich die Ehre, mit Mrs Goffe zu sprechen? Mrs Frances Goffe?«

Die Aufregung hatte sie noch nicht so überwältigt, dass sie ihre Vorsicht vergaß. »Darf ich fragen, wer das zu wissen wünscht?«

»Verzeiht.« Er berührte den Rand seines hohen Puritanerhutes. »Meine Name ist John Winthrop, Gouverneur der Kolonie von Connecticut. Das sind Major Robert Thompson aus Guilford in New Haven, Hauptmann John Scott aus Long Island und Mr Nathaniel Whitefield, ebenfalls aus Guilford. Wir würden gern mit Reverend Hooke sprechen.«

»Kommt bitte herein. Mein Onkel erwartet Euch.« Sie trat zur Seite und ließ sie ein, schaute schnell hinaus auf die Straße, ob ihnen jemand gefolgt war, und führte die Besucher dann in die Stube.

Sie blieb in der Tür stehen, weil sie hoffte, ein paar Fragen stellen zu können, aber Onkel William sagte bestimmt: »Danke, Frances. Deine Tante wartet sicherlich schon auf dich. Schließ bitte die Tür.«

Es war grausam, sie aus dem Gespräch auszuschließen, dachte sie. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit sie Will oder ihren Vater zuletzt gesehen hatte. Abgesehen von Wills kleiner Notiz, hatte sie in der ganzen Zeit von keinem der beiden einen Brief erhalten. Obwohl sie tränenreich darum gefleht hatte, ihnen schreiben zu dürfen, hatte man ihr jegliche Kontaktaufnahme verboten, sogar nach dem Tod ihrer Mutter. Das Risiko wurde als zu groß eingeschätzt. Sie versuchte das Gespräch der Männer zu belauschen, konnte aber nichts verstehen. Schließlich ging sie nach oben zu Tante Jane und den Kindern.

Richard war jetzt fast zwei, die Ähnlichkeit mit seinem Vater stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er lief schon so forsch durch die Wohnung, dass sie oben im Flur ein Gitter hatten anbringen müssen, damit er nicht die Treppe hinunterfiel. Betty und Nan neigten immer noch zum Kränkeln, aber Judith war ein kräftiges Mädchen. Frankie war eine große Hilfe mit den Kleinen – auch wenn das nicht gerade ein großartiges Leben für eine Zehnjährige war. Sie war eingesperrt in einem gemieteten Haus und musste die abgelegten, von Kirchenmitgliedern gespendeten Kleider auftragen. Frances’ eigene Kleider waren allerdings auch nicht besser. Die Leute waren freundlich, sie stellten keine Fragen. Trotzdem wusste sie, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Sie war nicht nur die Frau, sondern auch die Tochter von Königsmördern, Männern auf der Flucht, die man hängen, ausweiden und vierteilen würde, wenn man ihrer habhaft wurde. Das war ein weiterer Grund, warum sie die Kinder möglichst nicht aus dem Haus ließ. Sie wollte sie so lange wie möglich vor der Wahrheit abschirmen. Das Geld war knapp. Sie machte für andere Leute die Wäsche und arbeitete als Näherin, damit sie über die Runden kamen.

Tante Jane hatte Richard auf den Schoß genommen, auf dem Tisch lag aufgeschlagen die Bibel. Sie hatte mit der Bibelstunde auf Frances gewartet. Frances hielt Judiths Hand und versuchte sich zu konzentrieren, besonders während der Gebete, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zu den Männern in der Stube, und als sie ein paar Stunden später Stimmen hörte, entschuldigte sie sich und lief nach unten.

Die Gruppe verließ gerade die Stube. Sie spürte sofort, dass harte Worte gefallen waren. Thompson und Whitefield, die Männer aus Guilford, standen mit dem Rücken zu Winthrop, der verzweifelt die Arme ausgebreitet hatte, als wäre ein eben von ihm vorgetragenes Ansinnen von den beiden zurückgewiesen worden. »Meine Freunde, ich bitte Euch«, sagte Onkel William klagend und folgte ihnen in den Flur. »Wir dürfen uns nicht entzweien. Unduldsamkeit ist die Sünde, die für den traurigen Zustand verantwortlich ist, in dem wir uns derzeit befinden.«

»Nein, Sir«, sagte Whitefield. »Es ist eher die übertriebene Duldsamkeit, die uns zugrunde richtet. Schluss jetzt, damit ist alles gesagt. Gott sei mit Euch, Mr Hooke. Und Mr Winthrop … möge Gott Euch zu einem besseren Verständnis führen.«

Whitefield, Thompson und Scott gingen. Winthrop sah ihnen kopfschüttelnd hinterher. »Da seht Ihr es, Mr Hooke. Die Lage ist ziemlich verzweifelt.« Er seufzte. »Nun, ich danke Euch für Eure Bemühungen. Nun bleibt uns nichts, als abzuwarten, wie die Dinge sich entwickeln.«

Als er auf die Haustür zuging, rief Frances von der Treppe: »Mr Winthrop, bevor Ihr geht, ich flehe Euch an … Habt Ihr Nachrichten von meinem Mann und meinem Vater?«

Er blieb stehen und drehte sich um. »Wir haben alles, was wir wissen, Eurem Onkel berichtet.«

»Bitte, erzählt es auch mir, Sir. Verzeiht, aber ich habe schon so lange nichts mehr von ihnen gehört.«

»Ich erzähle dir später alles, mein Kind«, sagte Hooke.

»Habt Ihr sie gesehen? Sind sie gesund?«

»Frances!«

»Schon gut, Mr Hooke«, sagte Winthrop freundlich. »Ja, Mrs Goffe. Ich habe sie gesehen. Vor einem Jahr. Sie sind durch Hartford gekommen. Und ja, es ging ihnen gut. Müde vom Reisen, aber sonst guter Dinge.«

»Und jetzt? Wo sind sie jetzt?«

»Irgendwo in der Kolonie von New Haven, glaube ich. Der genaue Ort ist geheim, den kennen nur eine Handvoll Leute. Es ist sicherer so.«

»Wie ist ihr Leben? Ist es hart?«

»Sie leben, Mrs Goffe, und sie sind unter Freunden, soweit ich weiß. Das ist schon etwas. Der Rest liegt in Gottes Hand.«

»Wenn Ihr sie seht, richtet Ihr ihnen aus, dass es mir und den Kindern gut geht und dass ich jeden Tag für sie in der Hoffnung bete, dass wir bald wieder vereint sind? Bitte!«

»Wenn ich sie sehe, richte ich es ihnen aus, das verspreche ich.« Winthrop lächelte und berührte den Hutrand. »Ich wünsche Euch beiden einen guten Tag, und sei Gott mit Euch.«

Er trat hinaus auf die Straße, und sein Lächeln verschwand. Eines wusste er mit Sicherheit. Er würde sich hüten, dass ihm die beiden Oberste jemals wieder unterkamen. Als er das letzte Mal von ihnen gehört hatte, hieß es, sie hausten in einer Höhle. Wenn das stimmte, wie sollten sie da den Winter überlebt haben? Unglücksraben, dachte er. Tot wären sie besser dran.

Hooke rief Frances in die Stube. Sie wollte sich entschuldigen, aber er schien ihr gar nicht zuzuhören. Er setzte sich mit dem Rücken zu ihr an den kleinen Tisch, seinen Schreibtisch, wo er sein »Intelligenzblatt« verfasste. Da es ihm verboten war zu predigen, verwandte er fast seine gesamte Anstrengung auf diese Mitteilungen, die eigentlich kleine Zeitungen voller Tatsachen und Gerüchte waren, die er in der Stadt aufschnappte. Kopien davon versandte er an die puritanischen Gemeinden außerhalb von London, auf dem Kontinent und in Amerika. Sie lebten wie Rebellen im Untergrund. An seinen neuesten Mitteilungen arbeitete er seit einer Woche. Die Feder huschte über das Papier.

»Ich befürchte, dass dein Vater und dein Mann Anlass für tiefe Zerwürfnisse unter unseren Freunden in Neuengland sind«, sagte er. »Die Männer aus New Haven, vor allem Davenport, haben offen – anscheinend zu offen – ihre Gastfreundschaft gezeigt und die offizielle Fahndung nach ihnen behindert. Es heißt nun, dass der König die Kolonie von New Haven auflösen will. Wenn das geschieht, werden die Siedlungen höchstwahrscheinlich Connecticut zugeschlagen. Die Männer aus New Haven verlangen von Gouverneur Winthrop die Zusicherung, dass er dieser Abtretung nicht zustimmt. Man hat mich gebeten, als ehrlicher Vermittler zu fungieren.«

»Und Winthrop verweigert diese Zusicherung?«

Hooke nickte. »So ist es. Er ist nach London gekommen, um für seine Kolonie eine eigene Charta auszuhandeln. Er meint, dem König den Gehorsam zu verweigern mache Connecticut verdächtig.«

»Und was meinst du?«

»Ich verstehe beide Seiten. Das ist eine meiner ewigen Schwächen.« Er beendete seine Arbeit und blies über die Tinte. »Laut Thompson wird ein Verbindungsmann von ihm, ein Kaufmann namens Samuel Wilson, morgen nach Boston segeln. Er teilt unseren Glauben und nimmt das Wagnis auf sich, für uns Nachrichten zu befördern. Ich hatte bereits eine Auswahl für Davenport zusammengestellt und habe gerade noch etwas über das Treffen heute Morgen angefügt – in Andeutungen, aber er wird die Botschaft schon verstehen. Wärst du so nett, den Brief diesem Wilson zu überbringen? Er hat ein Haus am Fluss. Ich würde ja selbst gehen, aber ich werde oft beschattet und bin auch nicht mehr so flink auf den Beinen.« Er faltete die Seiten zusammen und versiegelte sie mit Wachs. »Hier ist Wilsons Adresse. Ich gehe jetzt zu Jane und berichte ihr die Neuigkeiten über ihren Bruder.«

Frances holte ihren Mantel aus der Küche, und als sie zurückkam, war ihr Onkel schon verschwunden. Auf dem dicken Konvolut stand Reverend John Davenport, New Haven . Samuel Wilsons Haus befand sich in der Pfarrei der Kirche Sankt Peter und Paul. Sie drehte den Brief zwischen den Fingern hin und her. Er stellte die wenn auch schwache Verbindung zu ihrem Mann dar. Die Versuchung war unwiderstehlich. Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier, tauchte die Feder ihres Onkels in das Tintenfass und hielt sie kurz über die leere Seite. Ihre Nachricht durfte nur die knappste Andeutung ihrer Liebe enthalten – keine Einzelheiten über ihre tatsächliche Lage, nichts, was ihren Aufenthaltsort verriet, nichts darüber, wer der Absender oder der Adressat war. Beim letzten Punkt musste sie auf Davenports Verschwiegenheit vertrauen.

Mein Allerliebster, schrieb sie. Gott hat uns getrennt, aber dank seiner Barmherzigkeit geht es den Kindern gut, und dank seiner grenzenlosen Gnade glaube ich fest daran, dass wir eines Tages wieder vereint sein werden.

Sie hielt inne und überlegte, ob sie ihrem Vater mitteilen sollte, dass ihre Stiefmutter gestorben und dass es eine Erlösung für sie gewesen sei. Aber sie fand nicht die richtigen Worte und wollte ihm in seiner Lage nicht zusätzlichen Kummer bereiten.

Sie faltete das Blatt zweimal und versiegelte es mit einem Tropfen Wachs. Dann brach sie das Siegel an dem Bündel für Reverend Davenport. Es enthielt einen Wechsel von Puritanern der Gemeinde über zwanzig Pfund. Das Geld hätten sie selbst gut gebrauchen können, aber natürlich gönnte sie es ihm. Sie schob den eigenen Brief zwischen die acht eng beschriebenen Seiten und versiegelte das Bündel an vier Stellen wieder mit dem Ring ihres Onkels. Sie begutachtete das Bündel. Niemand würde erkennen, dass sie daran herumgepfuscht hatte.

Von oben waren Geräusche zu hören. Ihr Onkel kam die Treppe herunter. Sie legte schnell alles auf dem Schreibtisch so hin, wie sie es vorgefunden hatte, nahm das Briefbündel und den Zettel mit Wilsons Adresse und trat auf die Straße.

Das Haus des Kaufmanns befand sich nur eine gute Meile entfernt nahe am Fluss in Blackfriars. Sie fragte den Küster der Kirche von Sankt Peter und Paul nach dem Weg und klopfte, eine halbe Stunde nachdem sie von Hookes Schreibtisch aufgestanden war, an Wilsons Tür. Er war jünger als erwartet und ganz in puritanisches Schwarz gekleidet. Sie hörte lachende Kinder, was sie irgendwie beruhigte.

»Mein Onkel hat mich gebeten, Euch dies auf Eure Reise nach Amerika mitzugeben.«

Er las den Namen auf dem Bündel und verzog das Gesicht. »Das muss besonders gut versteckt werden.«

»Aber Ihr nehmt es mit?«

»Ja, ich verspreche es.«

»Gott segne Euch, Ihr seid ein guter Mensch.«

Die Leidenschaft, mit der sie sprach, schien ihn zu überraschen. »Möchtet Ihr für einen Augenblick hereinkommen?«

»Nein danke. Ich muss zurück zu meinen Kindern.«

Nach knapp der Hälfte des Rückwegs bemerkte sie, dass die kräftige Frau in dem braunen Kleid und mit der dunkelgrünen Haube, die ihr schon in der Wilson Street aufgefallen war, keine fünfzig Schritte hinter ihr ging. Sie schlüpfte in die Kirche der heiligen Maria vom Bogen, ging schnell durch das Hauptschiff und dann durch die Tür des Altarraums wieder nach draußen auf die Straße, wo sie nach links in die Old Jewry einbog. Die Frau war ihr immer noch auf den Fersen, folgte aber schon etwas weiter zurück. Frances betrat einen Innenhof, lief über das Kopfsteinpflaster, fand eine unverschlossene Tür und duckte sich in den Durchgang. Hatte das zu bedeuten, dass Wilson beschattet wurde? Oder waren sie hinter ihrem Onkel her? Wenn dem so war, sollte sie dann zu Wilson zurückgehen und ihn warnen, dass er durch ihre Schuld möglicherweise in Schwierigkeiten geraten könnte?

Sie verharrte fast eine ganze Stunde. Als die Kirchenglocke zwölf schlug, wagte sie es und verließ ihr Versteck. In der schmalen Gasse keine Spur von der Frau. Sie schlug zurück nach Hause in die Swan Alley einige Umwege ein und drehte sich immer wieder um. Anscheinend hatte sie ihre Verfolgerin abgeschüttelt.

Sie erzählte Onkel William sofort, was passiert war. Er schien nicht weiter beunruhigt zu sein. Er ging große Risiken ein, um den Glauben am Leben zu erhalten, und nahm die Gefahren hin. Und das würde auch Wilson. »Alles liegt in Gottes Hand«, sagte er.