KAPITEL 27

I n der gleichen Woche Mitte August jährte sich die Kerkerhaft von Ned und Will in Micah Tomkins’ Keller zum dritten Mal. Wegen der drückenden Hitze waren die Oberste dazu übergegangen, nur Leibwäsche zu tragen. Ned saß den ganzen Tag am Tisch und schrieb an seinen Erinnerungen, wobei er Mühe hatte, alle Belagerungen, an denen er nach Naseby teilgenommen hatte, in die richtige Reihenfolge zu bringen – Bridgwater, Sherborne, Bristol, Dartmouth, Banbury, Exeter, Oxford, Worcester … Obwohl die königliche Armee auf dem Schlachtfeld besiegt war, war die Zahl der royalistischen Widerstandsnester scheinbar endlos gewesen. Will pökelte Hammelfleisch für den Winter ein. Der enge Raum war erfüllt vom Summen der Fliegen und vom Geruch nach Blut und Fett.

Keiner der beiden äußerte sich zu dem Datum. Was gab es auch groß zu sagen? Sie konnten nichts tun und nirgendwohin gehen. Sie konnten nur beten, dass die Umstände sich änderten.

Nachdem Tomkins ihnen an jenem Abend das Essen gebracht hatte, warteten sie bis nach Mitternacht, stiegen dann die Leiter in die nun kühlere Luft hinauf und gingen durch den Lagerraum nach draußen in den Hof. Die Nacht war sehr still und klar, am Sommerhimmel leuchteten ein heller Halbmond und ein Meer aus Sternen. Sie konnten über die Straße und durch den schmalen Weg, der etwa hundert Schritt durch die Kiefern führte, bis zum Ozean sehen. Der Long-Island-Sund lag unter dem Mond da wie ein getupfter silberner See. Das Geräusch der ans Ufer plätschernden Wellen war nicht lauter als ein Atemzug, dem ein lang gezogenes Seufzen folgte. Auf einem Fleckchen Sand zwischen den Felsen zogen sie Stiefel und Kleidung aus und wateten nackt ins Wasser.

Sie schwammen eine Stunde, wobei sie darauf achteten, dass die Strömung sie nicht zu weit vom Ufer abtrieb. Sie sprachen kein Wort. Die Nacht fühlte sich zu heilig an, als dass man sie durch Gerede stören durfte, als befänden sie sich in einer riesigen Kathedrale nah bei Gott. Danach legten sie sich in den Sand und sahen hinauf zu den Sternen, bis sie einschliefen. Als Ned aufwachte, leckte er über seinen Arm, um das Salz zu schmecken. Dann holte er sein Fernrohr aus der Rocktasche und richtete es auf den Mond. Er war so hell, dass er die Gebirgszüge und die Krater erkennen konnte. Eine Sternschnuppe fiel zum Horizont. Mit dem Fernrohr folgte er ihrer langen Bahn durch die Dunkelheit von rechts nach links.

Dann sah er den dunklen Schatten eines Schiffes.

Erschrocken nahm er das Fernrohr herunter, setzte sich auf und hob es wieder ans Auge. Zuerst sah er nichts, dann fand er es wieder. Etwa eine Meile entfernt. Ein großes Schiff, das hoch über das Wasser ragte: ein Dreidecker mit drei Masten, vier großen Segeln an jedem Mast und einer riesigen Flagge am Heck. Das Schiff, dessen Silhouette sich gegen den Mondschein abhob, glitt langsam durch die ruhige Nacht. Das war kein Frachtschiff, sondern ein Kriegsschiff. Und es war nicht allein. Dichtauf folgte ein weiteres Schiff, dann noch eines und – großer Gott! – noch eines.

Er rüttelte Will wach und gab ihm das Fernrohr. »Vier Kriegsschiffe«, flüsterte er. »Westwärts.« Er zeigte zum Horizont. Alle vier waren jetzt deutlich zu sehen.

Will betrachtete die Flottille eine halbe Minute lang.

»Kannst du die Flagge erkennen?«, fragte Ned leise.

Will kniff die Augen zusammen und stellte das Fernrohr schärfer. »Engländer, kein Zweifel.« Er gab Ned das Fernrohr zurück. »Das ist eine Militärexpedition.« Sein blasses Gesicht im Mondschein verdüsterte sich. »Ob die nach uns suchen?«

»Das ist gut möglich.«

»Du meinst, die könnten nur unseretwegen den weiten Weg gekommen sein?«

»Vielleicht.« Wir könnten bis ans Ende der Welt fliehen, dachte Ned, und trotzdem würden sie nie aufgeben. »Wir sollten zurück in den Keller.«

Als Tomkins ihnen an jenem Morgen das Essen brachte, erzählten sie ihm von den Schiffen. Die Neuigkeit versetzte ihn so in Panik, dass er ganz vergaß, wütend zu sein, weil sie die Flottille ja nur ihres Nachtausflugs wegen hatten sehen können.

Am Nachmittag tags darauf war er in Begleitung von Davenport bei ihnen.

Der Pfarrer kam gleich zur Sache. »Eine Expedition englischer Kriegsschiffe hat in der Gravesend-Bai angelegt. Vier Schiffe mit vierhundert Soldaten.«

»Wo ist die Gravesend-Bai?«, fragte Ned.

»Am äußersten Ende von Long Island.«

»Weiß man, warum sie hier sind?«

»Das erste Mal sind sie vor drei Wochen in Boston vor Anker gegangen, um ihre Vorräte aufzufüllen. Sie haben Gouverneur Endecott ihre Befehle gezeigt. Sie haben vom Herzog von York den Auftrag, die Kapitulation von Neu-Amsterdam zu erzwingen – und Euch gefangen zu nehmen.«

Sie hätten gern mehr Zeit zur Vorbereitung gehabt, aber Tomkins blieb hart. Er könne nicht ausschließen, dass man sie in den letzten drei Jahren vielleicht einmal nachts gesehen habe, besonders seit sie es sich zur Gewohnheit gemacht hätten, seine Anweisungen zu missachten und auch jenseits des Obstgartens herumzustreifen. Die zweihundert Pfund Belohnung seien immer noch ausgesetzt, und wenn man sie auf seinem Grund entdeckte, würde er hängen. Er wolle, dass sie bis zum nächsten Morgen verschwänden.

»Und wohin sollen wir jetzt?«, fragte Ned.

»Nun ja.« Davenport druckste herum. »Das ist die Frage.«

Sie besprachen sich nur kurz und kamen zu dem unausweichlichen Schluss, dass die einzige Möglichkeit ihr altes Versteck in den Felsen oberhalb von New Haven war.

»Ich gebe William Jones Bescheid«, sagte Davenport, der sichtlich erleichtert war, dass eine Rückkehr in sein Haus nicht zur Sprache gekommen war. »Wir versorgen Euch mit Vorräten, sobald das gefahrlos möglich ist, und in der Zwischenzeit schaue ich mich nach einem neuen Versteck für den Winter um.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Wer Euch angesichts der neuen Umstände aufnehmen könnte, kann ich jetzt noch nicht sagen. Es muss jedenfalls weit weg vom Meer sein.«

Nachdem der Besuch gegangen war, saß Ned zusammengesackt auf dem Stuhl gegenüber Will. Es graute ihm vor weiteren Wochen in der Wildnis, ohne dass ein Ende absehbar war. Er war fünfundsechzig. Seine alten Verletzungen waren das Erste, was er morgens, und das Letzte, was er abends spürte. Er war sich nicht sicher, ob er das überleben würde. »Ich weiß, ich war immer der, der auf die Flucht gedrängt hat«, sagte er schließlich. »Aber jetzt frage ich mich auch, ob wir nicht tatsächlich besser dran wären, wenn wir uns ergäben.«

»Bildest du dir etwa ein, dass sie uns gegenüber Gnade walten lassen würden?«

»Nein. Uns würde das gleiche Schicksal blühen wie Okey und den anderen. Aber man würde uns für die Hinrichtung nach London bringen, wo wir uns wenigstens von unseren Lieben verabschieden könnten. Und wir würden mannhafte Entschlossenheit beweisen und den Märtyrertod sterben, nach dem du dich doch immer so gesehnt hast.«

Will erwiderte nicht sofort darauf, dann griff er nach seiner Bibel und suchte darin eine bestimmte Stelle. »›Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.‹ Das schreibt Paulus an die Korinther.« Er legte Ned die Hand auf den Arm und sah ihn eindringlich an. »Noch ein Jahr, höchstens anderthalb, dann ist alles gut, das verspreche ich dir.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe oft mit Davenport darüber gesprochen. Es ist geweissagt. Im Jahr des Herrn 1666 kehrt Jesus Christus zurück, und hier in Amerika wird die Herrschaft der Engel anbrechen. Du hattest recht. Wir müssen den Glauben bewahren, Ned, so wie Paulus es uns gelehrt hat – den Kampf kämpfen, den Lauf vollenden, um Gottes Königreich auf Erden zu erleben.«

In seiner Stimme lag so viel Überzeugungskraft, dass Ned sich kurz in seinem Lebensmut bestärkt fühlte. Will hatte Olivers Talent, sich mit einer bestimmten Stelle in der Heiligen Schrift dafür zu rechtfertigen, dass er seinen Eingebungen folgte. Als sie jedoch ihre Taschen packten und Ned klar wurde, dass er entweder seine Erinnerungen oder stattdessen etwas anderes zurücklassen musste, entschied er sich gegen die Bibel. Er sagte sich, dass sie keine zwei benötigten und er nötigenfalls auf Wills Bibel zurückgreifen könne.

Sie saßen mit den gepackten Taschen zwischen den Beinen auf den Stühlen und warteten schweigend.

Sobald der Himmel über dem Metallgitter sich verdunkelte, wurde die Falltür geöffnet, und Tomkins stieg die Leiter herunter, um sie zu verabschieden. Obwohl Ned sich danach gesehnt hatte, dem Keller zu entfliehen, spürte er jetzt bei dem Gedanken, dass er ihn nie wiedersehen würde, ein Ziehen in den Eingeweiden. Es war nicht nur das harte Leben in der Wildnis, vor dem er zurückschreckte, es war die Welt da draußen. Dummer alter Trottel, dachte er wütend, die Dunkelheit hat dich so weich und weiß wie eine Made gemacht. Er lehnte Tomkins’ stützende Hand ab, sprach ein paar knappe Worte des Dankes, schulterte seine Tasche und stieg die Leiter hinauf. Danach hielt Will eine aufwendigere Dankesrede und sprach zudem ein Gebet für die Familie Tomkins. Eine Minute später traten die Oberste hinaus auf die Straße und marschierten im Mondschein gen Osten, um bis Tagesanbruch so viele Meilen wie möglich zwischen sich und die englischen Schiffe zu legen.

Sie hatten Glück, dass in der letzten Augustwoche und den ersten Tagen im September 1664 in Neuengland ein zunehmender Mond schien. Der bläuliche Glanz auf Ebene und Wald war hell genug, scharfe Schatten zu werfen. Sie schritten aus, bis die ersten Vögel erwachten und zu singen begannen und über den Baumwipfeln die Sonne aufging. Etwa eine Meile vor New Haven verließen sie die Küstenstraße und bahnten sich mit ihren Schwertern einen Weg durchs Unterholz in den dichten Wald. Auf einer von mächtigen Kiefern umgebenen Lichtung rasteten sie und aßen das Brot und den Käse von Tomkins. Danach legten sie sich hin und schliefen so gut wie Männer, die wussten, dass ihnen vierhundert Soldaten auf den Fersen waren. Bei Einbruch der Dunkelheit setzten sie ihren Weg fort.

Sie gingen in einem Bogen um New Haven herum, dessen Dächer sie im Schein des Mondes deutlich sehen konnten, und schlugen den vertrauten Weg nach Norden ein. Als sie am frühen Morgen erschöpft die verlassene Mühle erreichten, breiteten sie die Mäntel über das Unkraut und besprachen, ob sie Sperry Bescheid sagen sollten. Es waren Jahre vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Woher sollten sie wissen, ob er ihnen helfen würde oder ob man ihm überhaupt noch trauen konnte? Sie entschieden sich dagegen.

Am vierten Tag standen sie wieder in ihrem alten Zuhause zwischen den Felsen. Sie suchten die Gegend ringsherum ab, fanden aber keine Anzeichen dafür, dass in der Zwischenzeit jemand hier gewesen war. Ihr Fischwehr stand noch genauso im Fluss, wie sie es zurückgelassen hatten. Nach einer halben Stunde Kopfzerbrechen und einer längeren Buddelei fand Ned schließlich ihre vergrabenen Werkzeuge und Fischernetze wieder. Als die Sonne unterging, machten sie Feuer und dünsteten den Fisch, den Will gefangen hatte, das erste warme Essen seit fast einer Woche. Vielleicht lag es nur am vollen Magen, aber als Ned sich in jener Nacht zum Schlafen auf den Boden legte, tat er das mit einem merkwürdigen Gefühl des Wohlbefindens, ja fast des Glücks. Sie waren noch zusammen und noch gesund. Sie waren ihren Verfolgern einen Schritt voraus. Mit Gottes Hilfe würden sie überleben.

Ein Tag, und es war, als wären sie nie weg gewesen. Ihr Leben verlief wieder in der vertrauten Bahn. Sie gingen auf die Jagd, stellten Fallen und fischten, sammelten Beeren, Kräuter und Pilze, zogen Tierhäute ab und trockneten sie, schliefen mit gespannter Pistole und lauschten auf die Geräusche von Wölfen. Beim ersten Licht des Tages kletterte Ned mit seinem Fernrohr auf den höchsten Felsen und suchte die Gegend ab, zuerst New Haven und das drei Meilen entfernte Meer und dann im Uhrzeigersinn die Gehöfte der Engländer in der Ebene, die Wälder bis zu Sperrys Bauernhof, den Hügelkamm, die weiten Waldflächen im Norden, wieder den Hügelkamm und zurück zum Meer.

Am Freitag, dem 5. September, war Vollmond. Mit abnehmendem Mond schlug das Wetter um. Stürmischer Wind kam auf, es regnete in Strömen, die Tage wurden kürzer und die Nächte kühler. Ned nähte aus den Fellen gefangener Kaninchen eine Decke, die sie, wenn es aufhörte zu regnen, auf den Felsen zum Trocknen ausbreiteten. Mit dem Indianerbeil fällten sie ein paar Bäume und fütterten damit ein Feuer, das sie die Nacht hindurch brennen ließen. Die Nächte des 19. und 20. Septembers waren mondlos, und am Abend des 21. blieb Ned wach und wartete auf den ersten Streifen des neuen Mondes. Als er schließlich am Horizont über Long Island auftauchte, flüsterte er unwillkürlich ein Dankesgebet, bis er zur Besinnung kam und sich zusammenriss. Als Nächstes würde er noch die Sonne und die Sterne anbeten.

Anfang Oktober stand er eines Morgens auf dem höchsten Felsen, als er aus dem Wald im Norden Rauch aufsteigen sah. Es war zu weit weg, als dass er Genaueres erkennen konnte. Er rief Will nach oben.

Will schaute durch das Fernrohr. »Ob das ein Soldatenlager ist?«

»Wahrscheinlich Indianer.«

»Da, schau, die Bäume brennen.«

Er gab Ned das Fernrohr zurück. Orange leuchtende Flammen breiteten sich über das Blätterdach aus. Etwas weiter weg stieg Rauch von einem zweiten Feuer auf. Sie hatten vom Brauch der Indianer gehört, zum Herbstanfang das Land abzubrennen, hatten es aber nie mit eigenen Augen gesehen. In der nächsten Stunde beobachteten sie ehrfürchtig die immer weiter ausgreifende Feuersbrunst. Das wogende Meer aus Flammen schickte gewaltige Wolken aus Ruß und Asche in den Himmel, bis die Sonne zu einer braunen Scheibe verblasste und schließlich ganz verschwand. Der nach versengtem Holz riechende Nordwind blies ihnen mit einem gespenstischen Brausen ins Gesicht.

Gegen Abend überzog ein tiefroter Glanz den Himmel. Noch um Mitternacht war es so hell, dass sie das Gesicht des anderen deutlich erkennen konnten, und sie befürchteten allmählich, dass die Feuersbrunst sie aus ihrem Lager vertreiben könne. In jener Nacht regnete es jedoch so stark, dass die Flammen am nächsten Morgen fast alle gelöscht waren. Nur ein paar vereinzelte hohe Kiefern brannten noch. Wie Fackeln standen sie in der schwarzen Aschelandschaft.

»Armageddon«, sagte Ned.

»Noch nicht«, sagte Will. »Aber bald.« Aus seinem Mund klang das fast schon lustvoll.

Eine Folge des Feuers war, dass die Waldtiere in größere Höhen flüchteten und sich die Fallen und Schlingen der Oberste mit Eichhörnchen und Kaninchen füllten. Will erlegte mit ihrem Bogen und einem der selbst geschnitzten Pfeile einen hungernden Hirsch.

Es wurde jetzt kälter. Der Winter kam. Zweimal wachten sie auf, und ihre Mäntel und Decken waren dick mit Raureif überzogen. Ned nähte aus Hirschleder zwei Paar Handschuhe. Ihre Essensvorräte, so seine Schätzung, würden zwei Monate reichen. Was er am meisten fürchtete, war nicht der Hunger, sondern das Wetter. Will würde wahrscheinlich überleben, er aber würde im Schnee nicht lange durchhalten. Er traf für sich eine Entscheidung für den Moment, wo es so weit war. Er würde sich nachts, wenn Will schlief, aus dem Lager schleichen und so lange gehen, bis er umfiel und in der Kälte sanft entschlief. Er hatte jede Menge Soldaten erlebt, die dem schottischen Winter nicht standgehalten hatten. Das war kein so schlechter Tod, und ohne die Sorgen um einen alten Mann hätte Will eine größere Überlebenschance.

In der dritten Oktoberwoche liefen zwei englische Kriegsschiffe in die Bucht von New Haven ein.

Die Oberste sahen sie durch das Fernrohr in die Hafenmündung segeln und Anker werfen. Eine halbe Stunde später ließen beide Fregatten je zwei Beiboote voller Soldaten zu Wasser. Die Distanz war zu groß, als dass sie die genaue Zahl feststellen konnten. Die Soldaten in ihrer roten Uniform verschmolzen in der Ferne zu einem einzigen auf dem dunklen Wasser leuchtenden Farbtupfer.

»Wie viel Mann je Boot, was meinst du?«, fragte Will.

»Zwei Dutzend«, schätzte Ned.

»Also insgesamt vielleicht so um die hundert.« Er schob das Fernrohr zusammen. »Was würdest du an ihrer Stelle tun?«

»Wenn ich nach Lehrbuch vorginge? Ich würde mir erst die Stadt vornehmen. Straßenposten, damit niemand hinaus- oder hineingelangen kann, und gleichzeitig jedes Haus durchsuchen. Dann erst aufs Land hinaus.«

»Aber da du kein Trottel bist …«

»Würde ich es genau anders herum machen. Straßenposten aufstellen, um die Stadt abzuriegeln, aber mit der Suche auf dem Land anfangen und hoffen, dass uns das in Richtung New Haven treibt.«

»Also, was werden sie tun? Worauf müssen wir uns einstellen?«

»Wir sollten die erste Regel der Kriegführung befolgen: Gehe immer davon aus, dass dein Feind nicht dumm ist.«

Den restlichen Tag und den ganzen nächsten Morgen räumten sie ihr Lager – füllten die Latrine auf, legten alle Werkzeuge zurück in das Loch, das Ned bereits drei Jahre zuvor ausgehoben hatte, vergruben die Taschen, die Nahrungsmittel, die Holzscheite und schütteten die Feuerstelle mit Erde zu. Nachdem das alles erledigt war, gab es keinen Hinweis mehr auf ihre Gegenwart – außer die alten Datumskerben, die Will in ihrem ersten Sommer in den Felsen geritzt hatte. Daran war nichts mehr zu ändern. Sie gingen ein Stück in den Wald hinein und kletterten mithilfe von Sperrys altem Seil in eine mächtige Eiche, deren untere Äste so breit und gerade waren, dass sie in voller Länge darauf liegen konnten. Schwerter und Pistolen hatten sie mitgenommen, falls es zum Kampf kommen sollte.

Ein nächtlicher Regenguss durchnässte sie bis auf die Haut. Als der Morgen graute, kündigte sich bei Ned mit klappernden Zähnen eine Erkältung an.

Am Nachmittag hörte er trotz Fieber von weitem Männerstimmen. Er hob den Kopf und sah auf dem Hügelkamm vier von Westen kommende Rotröcke, die Musketen mit aufgestecktem Bajonett trugen. Sie gingen um die Felsen herum und stocherten im Boden und im Unterholz herum. Sie blieben stehen. Einer der Soldaten kletterte auf den höchsten Felsen, zog ein Fernrohr hervor und suchte die umstehenden Bäume ab. Sein Standpunkt lag höher als ihr Versteck. Ned drückte die Wange gegen die raue Astrinde und presste die Zähne zusammen, um das Klappern zu unterbinden. »Hauptmann, hier!«, rief jemand. Ned hob den Kopf und wagte einen Blick zur Seite. Der Offizier hatte das Fernrohr weggesteckt und kletterte ein Stück nach unten, um sich etwas genauer anzusehen. Wahrscheinlich hatten sie Wills Kalender entdeckt. Die Männer unterhielten sich aufgeregt. Ned hörte, dass sie die Bajonette abnahmen und die Musketen schussbereit machten. Sie kamen auf die Bäume zu und gingen im Gänsemarsch unter der Eiche hindurch.

Die Geräusche verblassten. Nach ein paar Minuten flüsterte Will: »Sind sie weg?«

»Das glaube ich kaum. Es ist höchstens noch drei Stunden hell. Um sich nicht zu verirren, gehen sie wahrscheinlich den gleichen Weg zurück, auf dem sie hergekommen sind.«

»Sollen wir sie uns schnappen?«

Die Versuchung war groß. Aber wenn vier Männer vermisst wurden, würden sicher andere kommen, um sie zu suchen. »Nur wenn sie uns entdecken.«

Ein Schuss hallte durch den Wald. Unwillkürlich drückte Ned das Gesicht wieder gegen den Ast. Zwei weitere Schüsse in schneller Folge. Rufe. Das Geräusch von Körpern, die sich durchs Gebüsch schlugen, dann lange nichts. Ned wagte kaum zu atmen. Schließlich hörte er wieder Stimmen, wütende, streitende Stimmen. Die Soldaten kamen zurück und gingen unter ihnen hindurch.

»Ich sag’s euch, ich hab was gesehen!«

»Ja, ja, ein Gespenst.«

»Wahrscheinlich zu viel Rum gehabt gestern Abend.«

Einer lachte. Der erste Sprecher verteidigte sich wieder. Die Stimmen verblassten.

Die Oberste blieben im Baum liegen, bis es dunkel wurde.

Inzwischen zitterte Ned so stark, dass er es kaum schaffte, nach unten zu klettern. Er ging zu ihrem Lagerplatz und legte sich hin. Will grub ein paar ihrer Tierhäute aus und deckte ihn damit zu, dann brachte er ihm eine Tasse Wasser und etwas kaltes Fleisch. Sie sprachen auch weiterhin im Flüsterton und wagten es nicht, ein Feuer zu machen, für den Fall, dass die Soldaten in der Nähe lagerten. O Herr, betete Ned, vergib mir meine Schwäche. Ich ertrage es nicht. Lass mich heute Nacht sterben.

Aber am nächsten Morgen lebte er immer noch.

Drei Tage lang plagte ihn das Fieber. Er war sich bewusst, dass Will ihn wie ein kleines Kind umsorgte. Am Morgen des vierten Tages wachte er auf und fühlte sich nicht mehr heiß an. Will lag schnarchend neben ihm. Ned stand mühsam auf und ging auf wackeligen Beinen zwischen die Bäume, um sich zu erleichtern. Danach fühlte er sich viel besser – die herrliche Euphorie nach einer überstandenen Krankheit. Er nahm sein Fernrohr und kletterte vorsichtig auf ihren Ausguckfelsen. Über der Ebene stieg milchiger Dunst auf, aber das Meer lag im Glanz der aufgehenden Sonne klar wie Glas da.

Die Hafenmündung war leer, die Kriegsschiffe verschwunden.

An jenem Nachmittag bekamen sie zum ersten Mal seit fast zwei Monaten freundlichen Besuch.

William Jones brachte Lebensmittel – frisch gebackenes Brot, Käse, Schinken, Bier und Tabak. Der Waliser zeigte sich halbwegs überrascht, sie noch lebend anzutreffen. Er entschuldigte sich, dass er sie so lange allein gelassen habe. Es sei ihm zu gefährlich erschienen, angesichts der vielen Soldaten in der Gegend die Stadt zu verlassen. Er setzte sich zu den Obersten auf einen Felsen, und während sie aßen, berichtete er ihnen von den neuesten Entwicklungen.

Stuyvesant hatte die holländische Kolonie kampflos an die englische Expeditionsarmee übergeben. Neu-Niederlande gab es nicht mehr. Neu-Amsterdam war zu Ehren des Bruders des Königs umbenannt worden. Es hieß nun New York. Kaum war die militärische Mission erfüllt, hatten sich die Rotröcke in New Haven, Milford, Guilford und der umliegenden Gegend auf die Suche nach den Obersten gemacht. Sie hatten Reverend Davenport, Mr Leete und die Magistrate hart angefasst, was dafür sprach, dass sie über gute Informationsquellen verfügen mussten. Aber sie hatten nichts herausgefunden. Frustriert seien sie am gestrigen Tag nach Boston zurückgesegelt.

»In der Zwischenzeit waren wir nicht untätig und haben bei Euren Freunden in Amerika Geld für Euch aufgetrieben. Mr Hooke hat ebenfalls Geld geschickt, das er in London gesammelt hat. Und wir haben ein neues Versteck für Euch vorbereitet.«

Ned sog genießerisch an seiner Pfeife. »Für den Winter?«

»Nein, zu guter Letzt haben wir eine dauerhafte Unterkunft gefunden.«

»In einem Keller? Oder einem Nebengebäude?«

»Nein. In einem Haus bei einer Familie. Richard Sperry kommt morgen mit den Pferden. Er bringt Euch hin.«

»Mit den Pferden?« Ned hatte angenommen, sie würden zu Fuß nach New Haven zurückkehren. »Wohin wird Sperry uns denn bringen?«

»Nach Hadley in Massachusetts.«

Jones schaute zu Will, der aber nur die Achsel zuckte. »Kenne ich nicht.«

»Das kennt keiner, was ja das Gute ist. Hadley ist eine neue Gemeinde achtzig Meilen nördlich von hier am Connecticut, die am weitesten entfernte englische Niederlassung in ganz Amerika. Es ist alles vorbereitet. Ihr kommt bei John Russell unter, dem Pfarrer, ein alter Freund von Reverend Davenport. Im gesamten Ort leben nur fünfzig Familien. Niemand wird Euch da stören. Zumindest was die Außenwelt angeht …« Er lächelte und breitete die Arme aus, als entließe er zum Abschluss eines Zaubertricks eine Taube in die Freiheit. »Ihr habt aufgehört zu existieren.«