KAPITEL 28
S perry kam kurz nach Sonnenaufgang. Sie brachen sofort mit so vielen ihrer Habseligkeiten auf, wie die Pferde tragen konnten, und ließen den Rest zurück, ohne sich die Mühe zu machen, alles zu verstecken. Was immer das Schicksal für sie bereithielt, schwor sich Ned, zu den Felsen würden sie nie mehr zurückkehren.
Sie zogen mit Taschentüchern vor dem Gesicht durch den ausgebrannten Wald, um sich gegen die Asche zu schützen, die die Pferdehufe aufwirbelten. Da und dort stiegen Rauchwolken von noch unter der Erde schwelenden Feuern auf. Dennoch war es erstaunlich, wie viele Bäume der Brandrodung widerstanden hatten. Schon zeigten sich erste grüne Triebe in der schwarzen Erde. Sie verstanden jetzt, warum Neuengland so sehr an eine englische Parklandschaft erinnerte. Bei Einbruch der Nacht hatten sie den Connecticut erreicht.
Am nächsten Tag ritten sie weiter gen Norden. Im klaren Licht des Spätherbstes strahlten die Wälder verschwenderisch in Rot und Gold und waren hier und da mit großen schwarzen Flecken durchsetzt, die wie Brandlöcher in einem türkischen Teppich wirkten. Gelegentlich erblickten sie in der Ferne Indianerlager. Um von niemand gesehen zu werden, machten sie einen Umweg durch die Wälder rund um Hartford, bevor sie schließlich in Windsor wieder auf den Fluss stießen – das war das erste Mal seit Jahren, dass sie sich in der Öffentlichkeit zeigten. Der Anblick von nur einem Dutzend Menschen an der Anlegestelle der Fähre war beunruhigend. Ned behielt die unter seinem Mantel verborgene Pistole fest in der Hand. Niemand achtete auf sie. Sie setzten über und nahmen auf der anderen Seite den Weg, der links am Fluss entlangführte. Fünf Meilen südlich von Springfield schlugen sie ihr Nachtlager auf.
Am dritten Tag erreichten sie bei Sonnenuntergang einen weit geschwungenen Bogen des Connecticuts, an dessen Scheitelpunkt sich eine winzige Siedlung befand. Das müsse Hadley sein, verkündete Sperry, auch wenn er sich nicht sicher war, sei er doch noch nie so weit in den Norden vorgedrungen. Er wies sie an, außer Sichtweite zu warten, und machte sich auf die Suche nach Reverend Russell.
Sogar im Halbdunkel der Abenddämmerung konnten sie sehen, dass sie ein herrliches Fleckchen Erde vor sich hatten – eine Wiese mit einem Kiefernhain, am Ufer riesige Weidenbäume, dahinter der Bergwald. Hoch über ihnen kreisten zwei Adler. Aber die völlige Abgeschiedenheit und Stille hatte auch etwas Gespenstisches, Schwermütiges. Ned betrachtete das Dörfchen durch sein Fernrohr. »So klein«, sagte er. »Die müssen ständig in Angst vor einem Überfall leben.«
»So weit weg von jeder anderen menschlichen Seele«, erwiderte Will. »Ist das ein Wunder?«
Es war schon fast dunkel, als Sperry eine Stunde später zurückkam. »Reverend Russell erwartet Euch. Im Dorf hat man sich schon zur Bettruhe zurückgezogen. Keine Gefahr, dass Euch jemand sieht.«
»Was ist er für ein Mensch?«, fragte Ned.
»Ein feiner Christenmensch, ein Herr. Ihr werdet ihn mögen.«
»Das hoffe ich doch, wenn wir schon den Rest unserer Tage hier verbringen sollen.« Ned hatte das als humorige Bemerkung gemeint, aber es schwang doch ein Hauch Verzweiflung mit.
»Nur ein Jahr«, berichtigte ihn Will. »Bis 1666. Dann werden wir alle erlöst werden.«
Sie stiegen wieder auf und folgten Sperry auf dem Weg, der durch die Wiese zum Dorf führte.
Es war noch nicht völlig dunkel, sodass sie die Umrisse der Holzhäuser zu beiden Seiten der breiten, grasbewachsenen Straße erkennen konnten.
Sie ritten an einem Dutzend Häuser vorbei, von denen in manchen noch eine Kerze brannte, bevor sie einige Minuten später an einer Ecke zu einem etwas größeren Gebäude kamen. Sperry stieg ab und öffnete das Tor. Die Oberste stiegen ebenfalls ab und führten die Pferde in den Hof, wo jemand sie mit einer Laterne erwartete – ein großer, breitschultriger Mann mit langem Haar in der Blüte seines Lebens. Er begrüßte sie mit festem Händedruck, der eher an den eines Soldaten denn eines Geistlichen erinnerte.
»John Russell. Gott sei gedankt für Eure Rettung.«
Reverend John Russell war achtunddreißig Jahre alt. Geboren in Ipswich in England, war er als Kind mit der Auswanderungswelle unabhängiger Religionsgemeinschaften, die sich gegen die Politik von Karl I. stellten, nach Massachusetts gekommen. Er war der erst vierzehnte Absolvent von Harvard gewesen. Wie sein Freund und Mentor Davenport hatte er sich mit den moderateren Puritanern in Neuengland zerstritten. Vor allem die Frage hinsichtlich einer Taufe jedweden Kindes, dessen Eltern das wünschten, hatte sie entzweit. Russell lehnte dergleichen strikt ab. Er hatte Wethersfield in Connecticut mit seiner Kirchengemeinde verlassen, um weitab vom Einfluss der Kirchenoberen in Massachusetts eine neue Pfarrei zu gründen.
Aber damit endeten zu Neds Freude die Gemeinsamkeiten mit Davenport. Er hatte vier Söhne: John, vierzehn (von Russells erster Frau Mary, die später wie so viele erste Frauen im Kindbett starb), und drei weitere Jungen von seiner zweiten Frau Rebecca – Jonathan, neun, Samuel, vier, und das knapp ein Jahr alte Stillkind Eleazer. Den Haushalt vervollständigten zwei schwarze Sklaven in ihren Zwanzigern, Abraham und Martha, ein verheiratetes Paar, das er auf einer Auktion in Rhode Island gekauft und die Grundzüge des christlichen Glaubens gelehrt hatte. Sie schliefen in einem der Nebengebäude. Russells knappe Rechtfertigung für ihre Versklavung lautete, dass die Bibel die Knechtschaft von Heiden billige. »Ich versichere Euch, wenn es in England einen Mangel an Arbeitskraft wie hier gäbe, dann hätten sie dort auch Sklaven.« Russell hatte nichts von Davenports träumerischem Fanatismus. Er wusste mit einer Flinte und einer Axt, einem Hammer und einem Pflug genauso viel anzufangen wie mit der Bibel. Im eigenhändig errichteten Haus hatte er im letzten Monat die nötigen Änderungen vorgenommen, damit er seine Gäste unterbringen konnte.
Der Hauptteil des Gebäudes mit den Zimmern der Familie war nach Norden ausgerichtet. An der Südseite war ein neuerer Anbau hinzugekommen, der etwa vierzig mal zwanzig Fuß maß, mit einer Diele und einer Stube im Erdgeschoss, die sich zu beiden Seiten einer Treppe und eines großen Kamins befanden. Nachdem sie ihre Taschen abgeladen hatten, führte Russell sie hinauf. Im oberen Stock zeigte er ihnen zwei geräumige Kammern, in denen bereits Kerzen angezündet waren. »Die sind nur für Euch«, sagte er. »Und jetzt seht Euch das hier an. Erst letzte Woche fertig geworden.«
Er öffnete eine Tür zu einem schmalen Gang, der hinter dem Kamin verlief und die beiden Kammern verband. Man konnte noch das Sägemehl und die frische Farbe riechen. Russell ging bis zur Mitte des Gangs und hob ein paar Bodenbretter beiseite. Er winkte sie zu sich und hielt die Laterne in die Öffnung, durch die eine Leiter hinunter in die Dunkelheit führte. »Hinter dem Kamin im Erdgeschoss verbirgt sich ein Verschlag. Wenn jemand Euch suchen kommt, könnt Ihr Euch dort verstecken.«
»Raffiniert«, sagte Ned. Das ist das Loch, in das ich mich zum Sterben verkriechen werde, dachte er.
Den Rest des Haushalts werde er ihnen am morgigen Tag vorstellen, sagte Russell. »Sie sind verschwiegen, darauf könnt Ihr Euch verlassen.« Damit zog er sich für die Nacht zurück.
Die Oberste setzten sich nebeneinander auf eines der Betten.
»Wahrhaft ein Mann Gottes«, sagte Will. »Das spürt man.«
»Das ist er«, sagte Ned matt. »Kein Zweifel.«
»Was könnte vollkommener sein? Wir haben ein Dach über dem Kopf, haben zu essen, Gesellschaft, Platz, eine Geheimkammer, jeder ein Zimmer für sich. Wir haben sogar Fenster.«
»Das ist wahr.«
»Und trotzdem bist du nicht zufrieden?«
Zufrieden? Ned hätte am liebsten laut geschrien. Wie können wir zufrieden sein? Wir sind am Rand der Zivilisation. Verstehst du nicht? Das ist das Ende unserer Wanderschaft. Wir werden England nie wiedersehen. Er sehnte sich nach seinem Haus in der Whitehall, sehnte sich nach Katherine und seiner Schwester Jane, nach Frances und den Enkeln, nach dem Lärm in der King Street, nach seinen Freunden und Kameraden, nach Cromwell und seiner Armee, nach seinem alten Leben im Mittelpunkt der Ereignisse. »Verzeih«, sagte er. »Aber ich bin einfach sehr müde.«
Sie kamen überein, dass sie tagsüber auf ihren Kammern bleiben und die Mahlzeiten getrennt vom übrigen Haushalt einnehmen sollten, um den Kontakt mit den Kindern so gering wie möglich zu halten und auf diese Weise Fragen nach ihrer Identität und den Gründen für ihre Anwesenheit zu vermeiden. Bei Einbruch der Nacht durften sie das Haus verlassen und sich – unter der Maßgabe, dass sie darauf achteten, nicht gesehen zu werden – auf Russells drei Tagwerk großem Grund die Beine vertreten. Aber da die Häuser weit voneinander entfernt standen, außerdem der Winter nahte und sich ohnehin kaum noch Leute draußen aufhielten, stellte das keine große Gefahr dar. Als im November der erste Schnee fiel und der Wind den Berg herab über den eiskalten Fluss brauste, war Ned davon überzeugt, noch nie eine solche Kälte erlebt zu haben.
Die einzige andere Person in Hadley, die über ihre Anwesenheit Bescheid wusste, war Peter Tilton, Magistrat des Dorfs, Diakon der Kirche und Russells Stellvertreter. Er stammte aus Warwickshire, war ein paar Jahre älter als Russell, ruhiger als dieser, aber von ähnlichem Charakter. Er kam zweimal in der Woche ins Haus, am Sabbat und am Donnerstag, um mit den Obersten zu beten und in der Bibel zu lesen.
Anfangs schliefen sie viel und erholten sich von den Strapazen. Im Dezember bat Will um eine nützliche Beschäftigung. Er wurde zum Holzhacken in die Scheune geschickt, sodass Abraham auf den Feldern arbeiten musste. Ned und Will hielten die Sklaverei für unchristlich. Für jede Bibelstelle, die sie rechtfertigen sollte, konnte Will mindestens zwei Stellen anführen, die das Gegenteil besagten. Kurz danach erbot sich Will, sein altes Handwerk des Einpökelns wieder aufzunehmen, woraufhin Abraham aus der Kälte in die Scheune zurückkehren konnte. Es gab keinen Krämerladen in Hadley und auch noch kein Versammlungshaus. Die Familien tauschten Waren unter sich aus: Kleidung gegen Feuerholz, Feuerholz gegen Fleisch, Fleisch gegen Getreide … Falls irgendeinem auffiel, warum die Russells plötzlich eingepökeltes Schweinefleisch übrig hatten, so wurde das jedenfalls nie angesprochen. Vorrang in jener abgeschiedenen Gegend hatte schlicht, den Winter zu überleben.
Ned verbrachte die Tage in seiner Kammer vor dem Kamin sitzend, auf den Knien eine Decke und ein Tablett, auf dem das Manuskript mit seinen Erinnerungen lag. Außer schreiben hatte er nichts zu tun, zudem bedrängte ihn die Ahnung, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. In jenem Winter starrte er oft stundenlang in die brennenden Holzscheite, manchmal lauschte er den Geräuschen im Hof, wo die Jungen der Russells Schneeballschlachten veranstalteten. Es entsprach mehr seinem Wesen, im Bürgerkrieg zu kämpfen, als darüber zu schreiben. Aber wenn er den Mut für das eine aufgebracht hatte, musste er dann nicht auch die Kraft für das andere aufbringen können? Er schaute zum Fenster, wo sich auf dem Sims der Schnee sammelte, und dachte an die schrecklichen, ewig langen Winter Mitte der Vierzigerjahre zurück, wo ihnen der Sieg für immer zu entgleiten schien. Wie sollte er das alles Frances erklären – die Schritte, die unausweichlich zur Hinrichtung des Königs und zur Zerstörung ihres gemeinsamen Lebens führten? Schließlich nahm er die Feder wieder zur Hand.
Im Winter 1646 auf 1647 erkrankte Cromwell so schwer am Fieber, dass ein tödlicher Ausgang für sehr wahrscheinlich erachtet wurde. Hinterher erzählte er mir, dass er das Todesurteil mit Freuden entgegengenommen hätte, weil er auf diese Weise hatte lernen können, dem Herrn zu vertrauen, denn alle Dinge des Fleisches zählten weniger als nichts.
In jenem Frühjahr lag ich mit der Armee bei Saffron Walden, als die Nachricht eintraf, das Parlament habe beschlossen, die Hälfte aller Regimenter aufzulösen. Seit vielen Monaten ohne Sold, argwöhnten meine Männer, ihre Sache solle verraten werden, und reichten eine Beschwerdebittschrift ein. In den anderen Regimentern fühlte man ebenso, und so wurde in der Jungfrauenkirche eine große Versammlung mit ihren Abgesandten abgehalten, zu der General Cromwell und andere Heerführer kamen, um sich die Klagen der Männer anzuhören.
Er hielt inne. In den überfüllten Kirchenbänken in Saffron Walden hatte er Will zum ersten Mal gesehen, damals Hauptmann in Oberst Prides Fußregiment. Er hatte zu den militantesten Protestierern gehört und Forderungen nach Amtsenthebung ihrer Parlamentsgegner mit apokalyptischen Schilderungen vermischt, wie Gott ihm im Traum erschienen sei. Er forderte nicht Verhandlungen mit dem König, sondern dessen Vernichtung. Jetzt hörte er ihn draußen in der Scheune Holz hacken. Wie glücklich doch der Mann, der nie einen Zweifel kannte!
Nachdem er sich in der Jungfrauenkirche die Ansichten der Armee angehört und seine Unterstützung für ihr Anliegen versprochen hatte, kehrte General Cromwell nach London zurück. Ende Mai bat er mich zu einem kleinen privaten Treffen in sein Haus in der Drury Lane. Der König befand sich unter Aufsicht des Parlaments im Holdenby-Haus in Northamptonshire. Aus Angst, die beiden Parteien würden eine Übereinkunft erzielen und diese als Vorwand nutzen, die Regimenter aufzulösen, schlug General Cromwell vor, dass die Armee Seine Majestät selbst in Gewahrsam nehmen solle.
Wer war noch anwesend gewesen? Natürlich Ireton, inzwischen mit Cromwells Tochter Bridget verheiratet. Der Prediger Hugh Peter. Olivers Sekretär John Thurloe. Vielleicht ein halbes Dutzend Offiziere, die im Raum nebenan um Führung beteten. Er erinnerte sich, dass Betty Cromwell ständig mit Essensplatten und Bierkrügen hereinkam. Pfeifenrauch. Aufrührerische, gefährliche Gespräche.
Kornett George Joyce hatte vierhundert Mann in der Nähe von Oxford. Er stimmte zu. Er könnte den König festsetzen.
Ein Befehl wurde aufgesetzt.
Ned hatte Cromwell beiseitegenommen. »Das kannst du nicht machen, Oliver.«
»Warum nicht?«
»Weil du die Befugnis nicht hast.«
»Du Milchbart. Was nutzt uns denn eine gewonnene Schlacht nach der anderen groß, solange das Parlament uns den Krieg verliert?«
»Fairfax ist der Oberbefehlshaber, nicht du.«
»Auf dem Schlachtfeld ist Fairfax ein Löwe, und ich würde ihm in die Hölle folgen, aber in der Politik ist er ein Siebenschläfer. Er wird es mir danken, ihm die Entscheidung aufgezwungen zu haben.«
Nach dem Treffen kehrte ich zur Armee zurück, die jetzt bei Newmarket lag. Ein paar Tage später wurde ich zu General Fairfax gerufen. Er habe gerade die Nachricht erhalten, dass der König von Kornett Joyce unter Gewaltanwendung aus Holdenby abgeholt worden und nun auf dem Weg nach Newmarket sei.
»Euer Vetter steckt dahinter.«
Das war ein peinlicher Augenblick für Ned. Er stand mit dem Helm in der Hand in Habtachtstellung vor dem Oberbefehlshaber.
»Das muss General Cromwell selbst beantworten, Eure Exzellenz.«
General Fairfax befahl mir, mit meinem Regiment sofort auszurücken, ihn abzufangen und sicherzustellen, dass Seine Majestät gut behandelt und die Gelegenheit gegeben werde, nach Holdenby zurückzukehren.
Auf der Straße etwa vier Meilen westlich von Cambridge war er am nächsten Nachmittag auf die Kolonne von Joyce gestoßen. Der war ein junger Heißsporn, noch keine dreißig, und kam sich aufgrund der Tatsache, den König von England in Gewahrsam zu haben, enorm wichtig vor. Ned zeigte ihm den Befehl von Fairfax. »Von jetzt an übernehme ich, Kornett.«
»Er steht Euch zur Verfügung, Oberst.«
»Stellt mich ihm vor.« Während sie an der angehaltenen Kolonne entlanggingen, fragte Ned: »Wie ist seine Stimmung?«
»Wenn man ihm resolut entgegentritt, dann ist er ganz umgänglich.«
Ned hatte den König noch nie zu Gesicht bekommen. Auf dem großen Pferd und umringt von seinen Bediensteten, sah er winzig aus. Er betrachtete verträumt die Landschaft mit ihren sommerlichen Hecken, die von cremefarbenem Hagedorn und rosa Hundsrosen überquollen.
Ohne sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten, verkündete Joyce: »Das hier ist Oberst Whalley, Eure Majestät, den Euch General Fairfax zur Gewährleistung Eurer Sicherheit schickt.«
Ned nahm den Helm ab und verneigte sich. Der König blickte kurz herab und streckte dann die Hand aus. Ned zögerte. Er verabscheute den Mann, dennoch war Karl immer noch sein Souverän. Außerdem war er nervös, auch wenn er das möglichst zu verbergen suchte. Er trat vor, nahm die königliche Hand und küsste sie – eine sehr weiche, weiße und zarte Hand war das gewesen, wie die einer Dame. Wie er jetzt in seiner eingeschneiten Kammer an der Grenze der Zivilisation saß, konnte er seiner Erinnerung kaum glauben.
Liebste Frances, Du kannst Dir vielleicht vorstellen, wie ich mich fühlte. Ich stellte mich dem König vor, übermittelte die Grüße von General Fairfax und sagte, ich stünde zu seiner Verfügung, ihn zurück nach Holdenby zu geleiten, worauf er antwortete, er zöge es vor, wie ihm von Kornett Joyce versprochen, nach Newmarket zu reisen und dort die Führung der Armee zu treffen. Seine Antwort kam überraschend und brachte mich in Verlegenheit. Der Tag neigte sich, und es musste eine angemessene Unterkunft für den König gefunden werden, während ich auf frische Befehle wartete.
Unsicher hatte er auf der Straße gestanden.
»Dürften wir einen Vorschlag machen, Oberst Whalley?« Den König schien seine missliche Lage zu amüsieren.
»Eure Majestät?«
»Schloss Childerley befindet sich ganz in der Nähe. Zwar ist Sir John Cutts vor wenigen Monaten verstorben, dennoch sind wir anzunehmen geneigt, dass es Lady Cutts eine Ehre wäre, uns als ihren Gast zu empfangen.«
Ehre oder nicht, die Witwe konnte sich kaum dagegen wehren, dass ein Kavallerieregiment ihr Anwesen überschwemmte. An jenem Abend stand Ned am Fenster seiner Kammer und schaute hinaus in den Hirschpark, wo fünfhundert seiner Soldaten lagerten und die Pferde auf dem kurzen Rasen grasten. An den Toren des Parks und jeder Tür des Hauses waren Wachen postiert, während der König sich in seine Gemächer zurückgezogen hatte.
Der König wiederholte seinen Wunsch, so schnell wie möglich nach Newmarket weiterzureisen. Er zog es vor, mit der Armee und nicht mit dem Parlament zu verhandeln. Ned bat ihn zu warten, bis er auf seine Depesche an Fairfax eine Antwort mit weiteren Anweisungen erhalten habe.
Am Montag kamen Fairfax, Cromwell, Ireton und ihre Leibwächter in den Hof des Anwesens geritten. Fairfax küsste die königliche Hand, Cromwell und Ireton taten dies für alle Anwesenden sichtbar nicht. Nach der höflichen, aber kühlen Besprechung bat Cromwell Ned zu einem Spaziergang in den Garten. »Hast du gesehen, wie gerissen er ist? Er gibt vor, zugänglich zu sein, dabei versucht er die ganze Zeit einen Keil zwischen uns und das Parlament zu treiben. Weich ihm nicht von der Seite. Erweise ihm den gebührenden Respekt. Aber sorge in Gottes Namen dafür, dass er nicht flieht.«
Mein Kind, sicher kannst Du Dir Deinen alten republikanischen Vater nur schwerlich an der Seite des Königs von England vorstellen, und doch habe ich ihn in den folgenden sieben Monaten fast jeden Tag gesehen – im Lauf des gesamten Krieges viel öfter als jeder andere auf der parlamentarischen Seite. Was für eine seltsame Mischung er war – gut gelaunt in der einen Minute, hochnäsig in der nächsten. Er schien die Welt durch eine dicke Glasscheibe zu sehen, getrennt von allen anderen Sterblichen. Ich kann mich nur an eine einzige unangenehme Begebenheit erinnern. Das war an dem Tag, wo ihn ein Offizier besuchte, der die Insignien des Hosenbandordens zurückgeben wollte, die dem verstorbenen Prinzen von Oranien gehörten. Sie gingen auf und ab, und es kam mir vor, als hielten sie eine Art Geheimkonferenz ab. Als ich eingreifen wollte, stieß mich der König jedoch mit beiden Händen weg und hob seinen Stock in die Höhe, als wollte er mir einen Schlag auf den Kopf versetzen.
Meine Befehle lauteten, dass er sich zur bequemeren Aufnahme von Verhandlungen wie auch für den Fall eines Befreiungsversuchs immer in Reichweite der Armee aufzuhalten habe. Als die Armee schließlich wieder die Außenbezirke von London erreichte, wurde der König in seine frühere Residenz Hampton Court zurückgebracht. Hier war es ihm gestattet, seine Freunde und kleineren Kinder zu empfangen, sich mit seinen früheren Dienern zu umgeben und nach Belieben im königlichen Park auszureiten. Er traf sich oft mit Cromwell, um über eine Vereinbarung zu diskutieren, die dauerhaft den Frieden bewahren würde – die ihm seinen Thron erhalten, die Rechte des Parlaments garantieren und Glaubensfreiheit gewähren würde. Manche Eigenschaften des Königs machten Eindruck auf Oliver – seine offensichtliche Kinderliebe, sein tiefreligiöses Empfinden, sogar die Weigerung, um welchen persönlichen Preis auch immer seinen Grundsätzen untreu zu werden. Tatsächlich …
Er hielt inne.
Tatsächlich …
Tatsächlich was?
Tatsächlich hatte Seine Majestät Ned gegenüber im Vertrauen angedeutet, er würde Oliver möglicherweise zum Grafen ernennen und ihm das Kommando über die Armee des Landes übertragen, sobald eine konstitutionelle Vereinbarung erreicht wäre. Allein die Vorstellung – Cromwell, Graf von Ely, und Betty eine Gräfin!
Tatsächlich wurde ihr Verhältnis so alarmierend freundschaftlich, dass der König sich eines Abends im September, als er mit seinen Kindern gespielt hatte und Ned ihn zurück zu seinen Gemächern geleitete, dazu herabließ, ihn in eine private Unterhaltung zu verwickeln.
»Seid Ihr verheiratet, Oberst Whalley?«
»Ja, Eure Majestät.«
»Kinder?«
»Vier, Sir.«
»Ihr solltet sie herbringen. Wir haben fünfzehnhundert Räume und keinen Hofstaat mehr, der der Rede wert wäre. Platz ist also genug. Sprecht mit Sir Jack.«
Bei Sir Jack handelte es sich um Sir John Ashburnham – gut aussehend, reich, etwas dämlich, als ehemaliger Kammerjunker des Königs engster Höfling.
Natürlich unternahm Ned nichts dergleichen. Aber ein paar Tage später suchte Ashburnham ihn auf und sagte, Seine Majestät habe ihm aufgetragen, Mrs Whalley und ihre vier Kinder einzuladen, auf Hampton Court zu wohnen. »Falls Euch das genehm wäre.« Ihm sei auch aufgetragen worden, den Oberst und seine Frau, General und Mrs Cromwell sowie General und Mrs Ireton zum Diner mit dem König zu laden.
Und so war das Unglaubliche geschehen – unglaublich damals und sogar noch unglaublicher mit fast zwanzig Jahren Abstand. Nach monatelanger Trennung hatten sich Ned und Katherine in der Wohnung eines Höflings in einem verlassenen Flügel des Schlosses auf den frisch gewaschenen und nach Lavendel duftenden Laken vereinigt, bevor er und der Begründer der Eisenseiten sich mit dem König zu einem formellen Festmahl niederließen. Ein herrschaftlicher Tisch mit an einer Seite aufgestellten Stühlen und Blick in die große Halle, wo die Höflinge standen und dem Schauspiel zusahen. Betty Cromwell war rechts neben Seine Majestät platziert worden und Katherine zu seiner Linken. Bridget Ireton – Olivers älteste Tochter – saß neben Ned und Oliver neben Katherine. Auf Neds anderer Seite stand jedoch ein leerer Stuhl. Henry Ireton hatte sein Kommen verweigert.
Deine Mutter sah wunderschön aus und wurde vom König charmiert, der Wein und das Essen waren von allererster Güte, der Abend verlief in äußerst aufgeräumter Stimmung …
Als die Nachricht die Armee erreichte, die nur sieben Meilen von Hampton Court entfernt bei Putney an der Themse lagerte, war die Empörung groß – nicht zuletzt aufgestachelt durch den radikalen jungen Mann, der jetzt ein Oberstleutnant war, William Goffe.
An jenem Abend saßen sie in Neds Kammer vor dem Kamin und rauchten ihre Pfeifen. Draußen in der Dunkelheit fiel Schnee. Was für eine Stille.
»Ich habe heute über die Diskussionen innerhalb der Armee in Putney nachgedacht«, sagte Ned.
»Warst du überhaupt jemals dort? Ich dachte, du warst die ganze Zeit auf Hampton Court, mit deinem Freund, dem König.« Sogar nach all der Zeit lag noch ein Hauch von sarkastischer Bitterkeit in Wills Worten.
»Ganz am Anfang. Ich erinnere mich noch an deine Rede am ersten Tag.«
»Hat sie dir gefallen?«
»Sie war hitzig.«
»Ich habe gesprochen, wie der Herr es mir gewiesen hat.«
Die Führung der Armee hatte sich in der Frauenkirche von Putney eingefunden, um die politische Linie festzulegen. Cromwell leitete die Versammlung. Will war zur Kanzel gegangen wie jemand, der in die Schlacht zog. Er verkündete, ihre Siege hätten gezeigt, wie Gott die Verherrlichung alles Fleisches verdamme. In einem Traum sei ihm die Vision zuteilgeworden, dass Verhandlungen mit dem König rundum abzuweisen seien. »Eine Stimme vom Himmel hat zu uns gesprochen, dass wir gesündigt haben wider den Herrn, weil wir uns eingelassen haben mit seinen Feinden.« Seine Worte wurden mit stürmischer Begeisterung aufgenommen. Es war jene Rede gewesen, auf die Cromwell eine Entschuldigung gefordert – und auch bekommen – hatte.
Nach der ersten Sitzung hatte Ned zusammen mit Oliver die Kirche verlassen und einige Anmerkungen zu der hässlichen Stimmung gemacht.
»Hässlich? Bei Gott, das ist sie! Voller Wut – und das vielleicht mit einigem Recht. Es war törichte Eitelkeit, dass wir uns zu einer öffentlichen Schlemmerei haben hinreißen lassen. Henry war schlau, dass er nichts damit zu tun haben wollte. Hast du das gehört? Sie haben mir mit Anklage und Absetzung gedroht. Sie haben mich sogar vor einem Anschlag der Levellers auf mein Leben gewarnt.« Ned hatte ihn noch nie so besorgt erlebt. »Die Armee ist Gottes Werkzeug. In ihrer Wut empfangen wir das Echo seiner Stimme. Wenn wir die Armee nicht für uns einnehmen können, dann müssen wir auf sie zugehen. Du reitest am besten noch heute Abend zurück nach Hampton Court, und ich werde sehen, was ich morgen bei unseren Freunden ausrichten kann.«
Ned beugte sich vor und stocherte im Feuer. »Ich wollte dich nicht beleidigen, Will. Oliver hat dich für deine Gottgefälligkeit immer geachtet.«
»Aber wir hatten recht«, sagte Will erbittert. »Wir hätten mit Karl Stuart nie eine Verständigung erreicht. Wir hätten es nie versuchen sollen.« Er warf Ned einen misstrauischen Blick zu. »Manchmal frage ich mich wirklich, was du da schreibst.«
Er klopfte seine Pfeife aus und ging in seine Kammer.
Die Armee debattierte zwei Wochen in Putney und suchte nach der Führung Gottes, während ich auf Hampton Court blieb. An den meisten Tagen erhielt ich Berichte, worin von der starken Stimmung gegen den König die Rede war. Als Ergebnis ihrer Beratungen am 11. November schickte General Cromwell mir einen Brief und wies mich an, diesen auch dem König zu zeigen. Nicht ohne Grund erinnere ich mich an jedes Wort. »Mein lieber Vetter Whalley, im Ausland laufen Gerüchte um, dass ein Anschlag auf Seiner Majestät Leben beabsichtigt ist. Deshalb flehe ich Dich an, behalte die Wachen gut im Auge, denn sollte tatsächlich Derartiges geschehen, würde dies als eine höchst grauenvolle Tat angesehen werden.«
Noch am gleichen Nachmittag eilte ich damit zum König. Ich versicherte ihm bei meiner Ehre, dass ich zu seinem Schutz geschickt worden sei und nicht, um ihn zu ermorden. Er könne sich darauf verlassen, dass unter meiner Aufsicht nichts Derartiges geschehen und ich als Schutzschild vor seinen Füßen sterben würde. Dafür dankte er mir. »Ihr habt unsere Person immer mit höchstem Respekt behandelt, Oberst Whalley.«
Ich verstärkte wie befohlen die Wachen, aber eigentlich hätte es vier- oder fünfhundert Soldaten bedurft, alle Eingänge eines derart weitläufigen Schlosses zu sichern, und ich hatte kaum ein Viertel der Mannzahl zur Verfügung.
Es war des Königs Angewohnheit, am Donnerstag – und dies war ein Donnerstag – Briefe an die auswärtigen Ländereien zu schreiben. Danach verließ er üblicherweise zwischen fünf und sechs Uhr abends sein Schlafgemach, ging zum Gebet und nahm das Abendessen ein, bevor er sich für die Nacht zurückzog. Ein Unwetter tobte, es stürmte und regnete in Strömen. Um fünf Uhr betrat ich also den Raum neben seinem Gemach und fragte seine Diener nach dem König. Sie sagten, er schreibe noch. Um halb sechs und dann um sechs fragte ich wieder nach. Um sieben bekam ich es allmählich mit der Angst zu tun, und ich fragte einen seiner Kammerdiener, Mr Mawle, ob dem König vielleicht unwohl sei, er solle nachschauen. Er antwortete, er habe die strikte Anweisung des Königs, ihn nicht zu stören, und er wage es nicht, diese zu missachten. Außerdem sei die Tür verriegelt. Ich guckte durch das Schlüsselloch, konnte Seine Majestät aber nicht sehen.
Als es auf acht Uhr zuging, bat ich Mr Smitheby, den Kämmerer, mit mir zusammen durch den Garten – wo ich Wachen postiert hatte – zum Hintereingang zu gehen. Dort stiegen wir die Treppe hinauf und gingen von Zimmer zu Zimmer, bis wir schließlich den Raum neben Seiner Majestät Schlafgemach betraten, in dessen Mitte sein Umhang auf dem Boden lag, was mich höchst erstaunte.
Wieder zurück auf der anderen Seite gab ich Mr Mawle nunmehr den Befehl, in das Schlafgemach einzudringen. Er sagte, er werde gehorchen, ich solle aber draußen bleiben. Ich versprach es und stellte mich neben die Tür. Mr Mawle kam augenblicklich wieder heraus und verkündete, der König sei verschwunden. Wir gingen jetzt alle zusammen hinein, und einer der Diener sagte: »Vielleicht ist der König in seinem Kabinett.« Mr Mawle ging hinein und rief gleich: »Hier ist er nicht, aber er hat einen Brief für Euch zurückgelassen.«
Ned spürte die Trockenheit im Mund, als er diesen Augenblick noch einmal durchlebte – wie er die Botschaft des Königs gelesen hatte, in der er ihm für seine Dienste dankte (»ich versichere Euch, dass nicht der Brief, den Ihr mir heute zu lesen gabt, zu diesem Entschluss geführt hat, sondern, ich gestehe es ein, der Unwille, mein Dasein unter dem Vorwand der Sicherheit für mein Leben in Gefangenschaft zu fristen«), wie er den Soldaten befohlen hatte, in der nassen, stürmischen Novembernacht zu Pferd und zu Fuß den Park zu durchkämmen, und an Fairfax und Cromwell sofort Depeschen geschickt hatte, um sie von der Flucht des Königs in Kenntnis zu setzen.
Oliver war um Mitternacht aus Putney eingetroffen. Zu Neds Überraschung war der General gelassener, ja fast fröhlicher Stimmung. Nachdem er sich den ganzen Bericht angehört hatte, legte er Ned tröstend einen Arm um die Schultern. »Nimm’s nicht zu schwer, Vetter. Das war eine unmögliche Aufgabe, die wir dir aufgehalst haben – ihn als Gefangenen zu halten und ihm gleichzeitig auf diesem riesigen Gelände freien Auslauf zu gewähren. Außerdem, vielleicht entpuppt sich seine Flucht ja als Vorteil für uns. Er hat unser Vertrauen missbraucht, hat seinen wahren Charakter offenbart und uns von der Bürde befreit, mit ihm verhandeln zu müssen. Bezüglich Karl Stuart können wir jetzt alle Levellers sein.«
»Und wenn er es schafft, ins Ausland zu fliehen?«
»Umso besser – dann sind wir ihn los. Aber ich glaube kaum, dass er so weit kommt.«
Natürlich behielt er recht. Wie so vieles andere in seiner Regentschaft, war die Flucht des Königs im Plan überstürzt und in der Ausführung schlampig. Nachdem er Hampton Court verlassen hatte, traf er sich verabredungsgemäß mit Ashburnham und zwei weiteren loyalen Unterstützern, Sir John Berkely und William Legge. Die vier ritten sofort nach Süden durch die königlichen Wälder in Richtung Küste. Der König hatte geschworen, er kenne den Weg. In jener garstigen Nacht verirrten sie sich jedoch und hatten es bei Tagesanbruch nur bis Sutton geschafft. Seine Majestät schlug vor, nun nach Southampton zu reiten, allerdings musste Ashburnham gestehen, dass dort keine Vorkehrungen für eine Überfahrt nach Frankreich getroffen worden seien. Folglich änderten sie die Route wieder, steuerten Lymington an und benachrichtigten Robert Hammond, den Gouverneur der Isle of Wight, den der König für einen loyalen Gefolgsmann hielt. Hammond war bereit, ihn zu empfangen, nahm ihn allerdings bei seiner Ankunft auf Burg Carisbrooke fest und unterrichtete London darüber.
Später entdeckten wir das ganze Ausmaß von Karl Stuarts Verrat. Er hatte mit den Schotten ein Geheimabkommen geschlossen, in England einzumarschieren und ihn wieder als König einzusetzen. Auch schrieb er an die Königin von Frankreich, dass er sich an Zusagen gebunden fühle, die man ihm unter Zwang abgepresst habe, und dass er zu gegebener Zeit wissen werde, wie er mit den Schurken zu verfahren gedenke, denen man »anstelle eines seidenen Hosenbandes einen Strick aus Hanf anpassen sollte«.
Das war der wahre Charakter jenes Mannes. Fragst Du Dich immer noch, meine Tochter, warum wir ihn hinrichten mussten? Solange er gelebt hätte, wäre niemals Frieden eingekehrt.
Ned hob den Kopf. Der Tag war in den Abend übergegangen. Schatten waren in die Ecken seiner Kammer gekrochen.
Er wollte nicht mehr weiterschreiben. Es war beunruhigend, den Bodensatz der Vergangenheit aufzuwühlen, alte Ängste und Verdächtigungen zu schüren. Jener Brief von Cromwell beispielsweise, den er dem König zu zeigen befohlen hatte. Jetzt kam ihm der Gedanke, dass er damit den König nicht warnen, sondern zu einem Fluchtversuch provozieren wollte. Wenn das stimmte, war Cromwell vorsätzlich das Wagnis eingegangen, seinen Vetter der Demütigung auszusetzen, vor einem Kriegsgericht zu landen und damit sogar vor einem Erschießungskommando zu enden. Und das nur, um sich den Verhandlungen mit dem König zu entziehen und sein Verhältnis zur Armee wieder in Ordnung zu bringen?
Er blies die Tinte trocken, schob den dicken Papierstapel wieder in seine Tasche und legte sich aufs Bett. Er schloss die Augen. Bei Oliver konnte man nie sicher sein. Ehrgeiz und Frömmigkeit, Eigennutz und hehre Anliegen, das unedle Metall umwickelt mit Gold.