KAPITEL 29
E in paar Tage später sorgte ein Vorfall dafür, das seine Beziehung zu Will sich veränderte.
Es geschah am Nachmittag des bis dahin kältesten Tages im Winter. Ein Schneesturm mit Graupeln wie winziger Flintenschrot peitschte über die toten, weißen Felder. Die Unwirtlichkeit draußen hatte Will ins Haus getrieben. Ned saß in seiner Kammer am Fenster, das wie das von Will nebenan nach Süden ging, mit Blick über den Hof und die Straße zu den abseits liegenden Häusern. Er starrte hinaus in den Schnee, die Gedanken so verhangen wie die Aussicht, als auf einmal ein Mann erschien, der sich mühsam am Straßenrand entlangbewegte. Er stemmte den gesenkten Kopf gegen den Wind, auf seinen Schultern lag irgendetwas Schweres. Er blieb an Russells Tor stehen und sah zum Haus. Ned zog den Kopf zurück. Als er sich wieder vorbeugte, hatte der Mann das Tor geöffnet und ging auf die Haustür zu.
Er holte seine Pistole unter dem Kopfkissen hervor und ging auf den Flur, der die beiden Kammern verband. Will lag auf dem Bett und guckte an die Decke. Als Ned hereinkam, setzte er sich auf. Ned legte den Finger an die Lippen. »Da ist jemand gekommen«, flüsterte er. »Ein Fremder.« Er bedeutete Will mit dem Zeigefinger, ihm zu folgen.
Sie gingen in den Flur und hoben die Bodenbretter beiseite. Ned stieg die Leiter hinunter. Will blieb nach ein paar Sprossen stehen, griff nach oben, setzte die Bretter wieder ein und kletterte dann auch nach unten. Es war das erste Mal, dass sie sich verstecken mussten. Ohne eine Kerze anzuzünden, standen sie dicht beieinander im Dunkeln hinter dem warmen Kamin und lauschten den murmelnden Stimmen, konnten durch das dicke Mauerwerk aber nichts verstehen. Wenig später hörten sie jemand auf der Treppe. Schritte gingen über sie hinweg und verstummten dann. Die Bretter wurden entfernt. John Russells Kopf erschien.
»Ihr habt Besuch.«
»Wer ist es?«, fragte Ned.
»Er sagt, er heißt James Davids und dass er Euch beide kennt. Erst will er Euch sehen, dann verrät er mehr.«
»Glaubt Ihr ihm?«
»Ja. Er sagt, er kommt aus Holland.«
»Holland?«
»Woher weiß er, dass wir hier sind?«, fragte Will.
»Von unseren Freunden in Boston. Weshalb er wohl die Wahrheit sagt. Sie müssen ihm vertrauen, wenngleich sie sich in dem Brief, den er von ihnen dabeihat, natürlich sehr bedeckt halten. Sie haben ihn mit einem Führer hergeschickt.«
»Was meinst du, Ned?«
Ned dachte nach. »Wenn er weiß, dass wir hier sind, ist es sowieso schon zu spät. Jedenfalls kenne ich niemand, der James Davids heißt.«
»Ich auch nicht. Hört sich ganz nach einem erfundenen Namen an.«
Sie kletterten aus ihrem Versteck, klopften sich den Staub von der Kleidung und folgten Russell nach unten in die Stube – Will voll gespannter Neugier, dahinter Ned mit seiner Pistole. Er war argwöhnischer.
Der Fremde stand vor dem Kamin und wärmte sich auf. Ein alter Lederbeutel lag vor ihm auf dem Boden. Er sah aus wie ein Landstreicher – schmales, ausgemergeltes, von der Kälte fleckiges Gesicht, die Haare und der Bart mit den ersten grauen Strähnen lang und zerzaust. Er nahm den Hut ab. »Oberst Whalley. Oberst Goffe. Ich freue mich aufrichtig, Euch lebend anzutreffen.«
Als er mit ausgetreckter Hand auf die beiden zuging, sagte Will erstaunt: »Ich glaube, ich kenne Euer Gesicht.« Und gleich darauf erinnerte sich auch Ned verschwommen. Unter den Verwüstungen, die die letzten sechs Jahre geschlagen hatten, erkannten sie John Dixwell – Oberst der Rundköpfe, wohlhabender Gentleman, Parlamentsabgeordneter, Richter im Prozess gegen den König und Mitunterzeichner des Todesurteils für Seine Majestät.
Nachdem Dixwell sich an jenem Abend gewaschen und ein paar alte Sachen von Reverend Russell angezogen hatte, setzten sich die vier Männer zum Essen in die Stube, und er erzählte ihnen von seinen Abenteuern. Nach der Wiedereinsetzung der Monarchie im Sommer 1660 hatte er zunächst eingewilligt, sich unter den Bedingungen der Akte des Verzeihung zu stellen. Dann hatte er jedoch eine Krankheit vorgeschützt, das Datum seiner Kapitulation aufgeschoben und die Zeit dazu genutzt, Teile seines Besitzes zu veräußern. Als er schließlich genug Geld für ein bequemes Leben beisammen hatte, floh er heimlich aus England und ging nach Rotterdam. Von da zog er weiter nach Hanau in Deutschland, wo er zwei Jahre blieb und in geringer Entfernung zu Valentine Walton, John Barkstead und John Okey lebte. Fast wäre er in dieselbe Falle wie Barkstead und Okey getappt, aber etwas an der Einladung nach Delft war ihm nicht geheuer erschienen.
»Ich habe ihnen gesagt, seid nicht so dumm, aber Okey hat dieser Schlange Downing vertraut. Ich war nicht überrascht, als ich dann hörte, was passiert war. Und ich wusste sofort, dass ich aus Hanau verschwinden muss.«
Er zog weiter in die Schweiz nach Lausanne, um sich mit Edmund Ludlow zu treffen. Der hatte ihm versichert, dass es dort sicher sei. Dann war Ludlow von ein paar irischen Abenteurern fast entführt worden, und John Lisle, der im Nachbarort wohnte, war auf der Straße erschossen worden. Also hatte er die Schweiz wieder verlassen und war nach Holland zurückgegangen. Aber dann fiel Neu-Amsterdam, und plötzlich wurde allenthalben über einen Krieg zwischen England und den Holländern geredet. Weil er im Falle des Falles als Engländer lieber nicht in Holland bleiben wollte, hatte er ein Schiff nach Boston genommen, war dort im Dezember angekommen, und jetzt war er hier.
»Scheint ganz so, als folgte, wohin Ihr auch geht, die Katastrophe auf dem Fuße«, sagte Ned.
Will lachte und schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Ned, das ist ungerecht. John war einfach schlau.«
John …
Mit Dixwell war Ned von Anfang an nicht warm geworden. Aus jedem seiner Worte sprach Selbstgefälligkeit, eine gewisse Herablassung, die Will nicht aufzufallen schien. Ned schätzte, dass er etwa zehn Jahre jünger als er und zehn Jahre älter als Will war. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs war er Parlamentsabgeordneter für Dover gewesen und zum Oberst ernannt worden, obwohl er nie in einer richtigen Schlacht gekämpft hatte, zumindest konnte sich Ned an keine erinnern. Aber er erinnerte sich, dass Dixwell im Unterhaus für den Prozess gegen den König gestimmt und als Richter daran teilgenommen hatte, dann aber wie viele andere auch versucht hatte, sich um die Unterschrift unter das Todesurteil zu drücken. Er hatte zu den Abgeordneten gehört, die Cromwell am Tag der Hinrichtung aus der Kammer in den Raum, wo das Urteil auf dem Tisch lag, zerren und die Schreibfeder buchstäblich in die Hand drücken musste.
Trotzdem bemühte sich Ned um einen freundlichen Umgangston. »Wie lange wollt Ihr bei uns bleiben, Oberst Dixwell?«
»Das hängt ganz von Mr Russells Wohlwollen ab.«
»Ihr könnt so lange bleiben, wie Ihr wollt«, sagte Russell.
Was Dixwell darauf erwiderte, kam Ned seltsam bekannt vor. »Ich bin davon überzeugt, dass sich unser Schicksal wenden wird, wenn unsere Sache im Jahr 1666 mit der Wiederkunft Christi neu erblüht.«
»So lange wollt ihr bleiben?«, sagte Ned.
»Wenn es mir gestattet ist.« Dixwell sah Russell an, der nur nickte. »Es wird ein glorreicher Tag sein, den wir zusammen erleben dürfen.«
»Amen«, sagte Will. »Letzte Nacht erschien mir Gott im Traum und zeigte mir die Vision einer Welt in Flammen, und ein großes Licht kam vom Himmel herab, und ein Mann, von Kopf bis Fuß in Weiß gehüllt, schritt unbeschadet durch die Flammen. Unser Herr und Retter, der gekommen ist, uns zu erlösen.«
Schweigend ließen sie das auf sich wirken.
»Aber ist das alles wirklich so sicher?«, platzte es schließlich aus Ned heraus. »Ich bin kein Gelehrter der Heiligen Schrift, aber die Prophezeiung scheint mir eine Vermutung zu sein. Wenn die Zahl 666 wirklich das Ende aller Tage bezeichnet, hätte dann die Wiederkunft nicht zur Zeit der Sachsen stattfinden müssen? Auf etwas zu warten, was vielleicht gar nicht eintrifft, erscheint mir recht müßig.«
»Verzeiht meinem Schwiegervater«, sagte Will. »Manchmal glaube ich, er hat das Zeug zu einem Presbyterianer.«
Ein Presbyterianer, er? Ned war gekränkt. Er stand ruckartig auf, entschuldigte sich und ging nach oben in seine Kammer. Er wusste, dass er launisch, ja kindisch war, dass er sich in einen dieser gereizten, halsstarrigen Alten verwandelte, die er in seiner Jugend so verachtet hatte. Er würde sich entschuldigen. Er lag noch ein, zwei Stunden wach, weil er annahm, Will würde Dixwell seine Kammer überlassen und dann zu ihm kommen. Aber als er schließlich die Schritte auf der Treppe hörte, zogen sich beide Männer in Wills Kammer zurück. Begleitet vom Geräusch ihrer gemurmelten Unterhaltung schlief er ein.
Am nächsten Morgen sagte er mit gezwungenem Lächeln: »Du und der Oberst, da haben sich ja zwei gefunden.«
»Wir haben uns überlegt, dass es am besten ist, wenn ich meine Kammer mit ihm teile, solange er hier ist.«
»Wie du willst.«
»Bist du gekränkt?« Besorgt legte Will die Hand auf Neds Arm. »Ich dachte, das sei dir recht. Du bist viel öfter drinnen als ich. Dann kannst du ungestört schreiben.«
»Ich denke darüber nach, das mit dem Buch bleiben zu lassen.«
»Warum?«
»Es ist nicht immer angenehm, sich so in der Vergangenheit zu vergraben.«
»Aber was willst du dann die ganze Zeit machen? Ich kann ja wenigstens noch arbeiten.«
Es war nicht unfreundlich gemeint. Trotzdem versetzte es Ned einen Stich. Da war es – das Unausgesprochene schließlich doch ausgesprochen. Er stand in seinem siebenundsechzigsten Lebensjahr, seine alten Verletzungen schmerzten, er hatte kaum noch Muskeln an den dünnen Armen. Er war eine Last, zu alt, zu nichts mehr nütze. Er konnte nur noch mit seinen Erinnerungen in seiner Kammer hocken.
»Tja, du hast wohl recht.«
Er stand am Fenster und beobachtete die beiden jüngeren Männer, wie sie über den Hof zur Scheune gingen.
Meine liebste und einzige Tochter, ich muss jetzt über das Ereignis sprechen, das uns in die gegenwärtige unglückliche Lage gebracht hat, die Hinrichtung des Königs.
Nachdem der König wieder gefangen war und auf der Isle of Wight im Kerker saß, flackerte der Bürgerkrieg wieder auf – den wir schon gewonnen geglaubt hatten –, und eine Zeit lang war unsere Lage ziemlich hoffnungslos. Eine riesige schottische Armee marschierte im Norden auf, um Seine Majestät zu befreien. Unsere Ratgeber waren unterschiedlicher Meinung: Die im Parlament glaubten, eine Vereinbarung mit dem König sei noch möglich, die überwiegende Mehrheit in der Armee dagegen hielt Karl Stuart für den Satan. Überall im Land gab es royalistische Aufstände. Im Mai 1648 trennten sich die Wege von General Cromwell und mir. Er ging nach Westen, um dort die königlichen Truppen niederzuhalten, während ich nach Osten ging, um mich in Kent und Essex der gleichen Aufgabe zu widmen.
Die Kämpfe in jenem Sommer und Herbst waren viel unbarmherziger und verzweifelter gewesen als alle Schlachten zuvor. Ihn graute bei der Erinnerung daran. Niemals hatte er damit gerechnet, so etwas in England erleben zu müssen. Feldfrüchte, Scheunen und Windmühlen wurden in Brand gesteckt, um den Feind auf dem Land auszuhungern. Oberst Shambrooke wurde mit einer giftigen Kugel erschossen, die zuvor in Eisenvitriol gekocht worden war. In Chelmsford lagen die Leichen von zwanzig Royalisten aufgereiht auf dem Boden, vornehm bleiche Herren in eleganter Kleidung, alle in den Hinterkopf geschossen. In Colchester hatten seine Männer eine Granate in das Schießpulverlager des Feindes geworfen und mehr als hundert Mann in Stücke gerissen. Die königlichen Kommandeure Sir Charles Lucas und … Wie hieß doch gleich der andere? Richtig, Sir George Lisle! … wurden, obwohl sie kapituliert hatten, im Schlosshof nach einem Standgericht erschossen. So viele gute Männer waren dahin.
Um alles daraus Folgende zu verstehen, Frances, musst Du erst wissen, was ihm vorausging.
Nachdem General Cromwell die Waliser in Pembroke und dann die Schotten in Preston geschlagen hatte, sammelten sich die Truppen des neuen Musterheers in London, um die Sache mit dem König ein für alle Mal beizulegen. Ich traf zusammen mit dem Hauptteil der Streitmacht am Samstag, dem 2. Dezember, ein. Wir besetzten die Paläste Whitehall und St. James und schliefen dort in den königlichen Gemächern, in den Prunksälen, in den Dienstbotenkammern – wo immer ein Mann sich hinlegen konnte. Trotz Anwesenheit vieler Tausend Soldaten verabschiedete das Unterhaus am nächsten Dienstag ein Gesetz, das die Fortführung der Verhandlungen mit dem König verfügte. Es war offensichtlich, dass diese Versammlung einem Prozess gegen den König niemals zustimmen würde. Deshalb entschied der Rat der Armee, alle jene Parlamentsabgeordneten auszuschließen, die für eine Vereinbarung gestimmt hatten.
Es war das Regiment, in dem Will unter Oberst Pride diente, das radikalste in der Armee, dem die Ehre zuteilwurde, die Kammer des Unterhauses zu umstellen. Will war mittendrin im Geschehen gewesen. Sie schleiften vierzig Abgeordnete, die zu protestieren gewagt hatten, in eine nahe gelegene Schenke, die ihnen vorübergehend als Gefängnis diente, und hinderten doppelt so viele Abgeordnete mit vorgehaltener Muskete daran, ihren Platz einzunehmen. Ned hatte den windigen Maulhelden William Prynne mit seinem ohrlosen Schädel und verunstalteten Gesicht aus der Kammer gezerrt.
Du magst Dich über das Vorgehen einer Armee wundern – und das taten viele, auch ich –, die im Namen des Parlaments in den Krieg gezogen war und nun so rüde mit seinen Abgeordneten umsprang, wie es der König nie gewagt hätte. Aber wir wussten, dass Gott auf unserer Seite war. Wie sonst hätten wir so viele Siege erringen können? Wir waren davon überzeugt, dass wir sein Werk verrichteten.
Unter vier Augen hatte er mit Cromwell sogar über ihre Methoden gestritten. Es muss doch einen einfacheren Weg geben, den König loszuwerden, als dieses pompöse Prozessspektakel. Seine Majestät hat oft genug versucht zu fliehen. Gib ihm die Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen, und erschieß ihn auf der Flucht. Das wäre doch gerecht, oder? Aber Cromwell erwiderte nur, das Werk des Herrn dürfe nicht im Dunkeln verrichtet werden. Das Volk müsse sehen, dass Karl Stuart seiner Verbrechen angeklagt und seiner gerechten Strafe nach dem Gesetz zugeführt werde. Für ihn stand fest, dass es für den König keine vollkommenere Demütigung gab. Ned war sich dessen nicht so gewiss.
Sechs Wochen später wurde der König schwer bewacht nach London gebracht und in ein Haus an der Themse gesperrt. Es befand sich innerhalb der Mauern von Westminster, das derzeit einem bewaffneten Heerlager glich. Ned war einer der einhundertfünfunddreißig zu Richtern ernannten Männer – Offiziere, Parlamentsabgeordnete, Advokaten. Der Prozessbeginn in der Westminster-Halle, dem größten Saal in England, wurde auf Samstag, den 20. Januar, festgelegt.
Schon beim Anblick der riesigen, von Soldaten umringten, mit Hunderten Zuschauern gefüllten Halle hatte er ein ungutes Gefühl. Die Hälfte der zum Richter bestellten Männer war aus Angst nicht erschienen. Ihre Plätze blieben leer. Beim namentlichen Aufruf gehörte auch General Fairfax zu den Abwesenden. Die Leute fragten sich flüsternd: Wo ist er? Von der öffentlichen Zuschauertribüne rief eine Frau: »Er ist zu gewitzt, als dass er sich hierherbegibt.« Nur wenige erkannten sie, Ned schon. Es war Lady Fairfax.
Der Prozess verlief genau so, wie er befürchtet hatte. Er kannte Karl Stuart besser als jeder andere im Saal. Als der König die Stufen zur Halle hinaufstieg, eine schmächtige Gestalt, umringt von Oberst Hacker und seinen Soldaten, sah Ned sofort, dass er völlig ungebeugt war. Ihm war kein Verteidiger zugewiesen worden. Man hatte ihn nicht über die Anklagepunkte unterrichtet. Er nahm seinen Platz ein und schaute sich um. In seinem Blick lag die für ihn typische Mischung aus Neugier und Geringschätzung. Er begutachtete die Männer auf der Richterbank – die ihm bis auf Cromwell und Ireton wohl eher unbekannt waren –, und sein Blick verharrte kurz auf Ned, bevor seine Augen nach einem verächtlichen Zucken weiterwanderten. Als der Ankläger John Cooke die Anklageschrift verlas, worin der König beschuldigt wurde, seinen Krönungseid verletzt und Krieg gegen das eigene Volk geführt zu haben, beugte sich Karl vor und klopfte Cooke mit seinem Stock auf die Schulter. Weil dieser nicht reagierte, schlug er ihm noch einmal auf die Schulter, und zwar so hart, dass der Silberknauf abbrach, herunterfiel und über die Steinplatten kullerte. Er wartete darauf, dass ihm jemand den Knauf zurückgab, und als das niemand tat, hob er ihn selbst auf.
Der Vorsitzende Richter Bradshaw fragte ihn nun, worauf er plädiere.
»Zunächst würde ich gern erfahren, kraft welcher Amtsgewalt ich hierherzitiert wurde – kraft welcher rechtmäßigen Autorität.« Seine Stimme war klar und fest. »Es gibt viele unrechtmäßige Autoritäten auf dieser Erde, Diebe und Straßenräuber. Vergesst nicht, ich bin Euer König, Euer rechtmäßiger König.«
Er lehnte es ab, sich schuldig oder unschuldig zu bekennen, bevor man ihn über die rechtliche Grundlage des Gerichts aufklärte. Und da es diese nicht gab, drängte er sie alle in die Defensive – und zwar so sehr, dass man am späten Nachmittag, als er aus dem Saal geführt wurde, sogar »Gott schütze den König« rufen hörte.
Genau so verhielt er sich am Montagnachmittag, wo das Gericht wieder zusammentrat, und auch am Dienstag. Jetzt saß nicht mehr der König auf der Anklagebank, sondern die Armee und ihre Legitimität. Eine Änderung der Taktik war vonnöten. Am Mittwoch votierten die Richter in einer Hinterzimmerabstimmung dafür, den Angeklagten von der Verhandlung auszuschließen und die Zeugen der Anklage in seiner Abwesenheit zu hören. Am Samstagmorgen sprachen sie ihn hinter verschlossenen Türen schuldig. Am Nachmittag wurde er zur Verkündung des Urteils wieder in die Westminster-Halle geführt. Bradshaw fragte ihn, ob er vor der Verkündung des Urteilsspruchs noch etwas sagen wolle. Er lehnte es zwar immer noch ab, das Gericht der Armee anzuerkennen, bat aber darum, in einer gemeinsamen Sitzung der Lords und Unterhausabgeordneten sprechen zu dürfen. Bradshaw lehnte das ab, was zu einem außergewöhnlichen Vorfall führte. Einer der Parlamentsabgeordneten, ein Niemand namens John Downes, der zwei Plätze neben Ned saß, rief: »Haben wir denn alle ein Herz aus Stein? Sind wir überhaupt noch Menschen?«
Er schüttelte die Hände derjenigen ab, die ihn von beiden Seiten zur Zurückhaltung mahnten, und erhob sich. Cromwell, der in der Bank vor ihm saß, drehte sich um und blickte ihn böse an. »Was ist los mit Euch, Mann? Seid Ihr verrückt? Setzt Euch und haltet den Mund.«
»Nein, Sir. Ich kann nicht schweigen. Und wenn es mich das Leben kostet, ich muss Einspruch erheben.«
Bradshaw war sichtlich verängstigt und vertagte die Verhandlung, und die Richter zogen sich in ihre Kammer zurück, wo Cromwell Downes für dessen Feigheit wüst beschimpfte. Ein paar Richter ergriffen jedoch das Wort für ihn. »Könnten wir uns nicht zumindest anhören, was Seine Majestät zu sagen hat? Vielleicht hat er ein Angebot zu machen, das den Landesfrieden bewahrt.«
»Um Gottes willen, versteht Ihr denn nicht? Das ist bloß noch so ein Winkelzug von ihm. Wir sind nicht so weit gekommen, dass wir jetzt umfallen. Ihr Weichlinge …«
Eine halbe Stunde lang wütete er gegen die Abweichler, dann erlahmte deren Widerstand, und sie gaben nach wie eine Festung unter Beschuss, worauf sie alle – bis auf den in Tränen aufgelösten Downes – für die Urteilsverkündung wieder in der Westminster-Halle Platz nahmen.
»… auf dass besagter Karl Stuart als Tyrann, Verräter, Mörder und Volksfeind zu Tode gebracht werde durch Abtrennung des Kopfes von seinem Leibe.«
»Wollt Ihr mir noch ein Wort zugestehen, Sir?«, sagte der König mit ruhiger Stimme.
»Nach dem Urteilsspruch steht Euch kein weiteres Wort zu«, sagte Bradshaw. »Führt ihn ab.«
Der König schaute verblüfft. »Ich darf nach dem Urteil sprechen …« Und als die Wachen hereinkamen, um ihn abzuführen, verlor er zum ersten Mal die Fassung. »Mit Verlaub, haltet ein. Das Urteil, Sir … Ich sage, Sir, ich …«
Die restlichen Worte gingen im Geschrei der Soldaten unter. »Aufs Schafott! Gerechtigkeit! Aufs Schafott!« Er wurde die Stufen hinuntergeführt, seinem Schicksal entgegen, und verschwand aus dem Blickfeld.
Ned lehnte sich erschöpft auf seinem Stuhl zurück. Er spürte einen scharfen, stechenden Schmerz hinter den Augen, und seine Arme kribbelten. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr an die Ereignisse während des Prozesses gedacht – jedenfalls nie an die Einzelheiten. Wie immer wartete er ab, bis die Symptome wieder verschwanden. Woran konnte er sich noch erinnern? Daran, dass der nächste Sonntag ein Tag des Gebets und der Andacht war. Dass am Montag das Todesurteil auf dem Tisch in der Gemalten Kammer ausgelegt war (einer der prachtvollsten Räume der königlichen Gemächer, den Oliver dafür beschlagnahmt hatte) und er zusammen mit Cromwell vom Whitehall-Palast hinübergegangen war, um es zu unterzeichnen. Zwei Dutzend der Richter warteten schon und wärmten sich am Feuer des gewaltigen Kamins. Es war ein eiskalter Tag. Auf dem Tisch war ein türkischer Teppich ausgebreitet worden. Bradshaw unterzeichnete als Erster, dann Lord Grey, der einzige Adelige unter ihnen, dann Cromwell, der bester Stimmung war – er schnipste Henry Marten Tinte ins Gesicht, woraufhin der gleich zurückschnipste. Danach reichte Oliver die Feder an Ned weiter, der als Vierter unterschrieb und sein Siegel mit dem Familienwappen mit den drei Luft speienden Walen hinzusetzte. Er tat es ohne Skrupel. Die Strafe war gerecht. Sie war Gottes Wille. Nur der Prozess war ein Fehler gewesen. Er gab die Feder an John Okey weiter. Er erinnerte sich, dass Will auch anwesend war, gerade zurückgekehrt von einem Besuch beim König. Er stand vor dem Kamin und schilderte, wie er aus Barmherzigkeit versucht habe, Karl Stuart zu einem Gebet mit ein paar puritanischen Geistlichen zu überreden, die er mitgebracht hatte. Er sei wortlos abgewiesen worden.
Der Vormittag war schon weit fortgeschritten, als sie etwa drei Dutzend Unterschriften hatten. »Das reicht nicht«, sagte Cromwell. Ned ging mit ihm hinunter zum Unterhaus, um die Abgeordneten zu holen, die sich um ihre Pflicht drücken wollten. Vor der Tür blieben sie kurz stehen. »Alle, die da drinnen sind, sollen unterschreiben. Ich will ihre Unterschriften jetzt.« Cromwell ging hinein. Einer war Dixwell, der niederträchtige Downes ein anderer. Cromwell legte Downes einen Arm um die Schulter und führte ihn zur Gemalten Kammer. Er sagte ihm, das sei seine Gelegenheit, in den Augen Gottes und seiner Kameraden seine Schuld zu tilgen.
Wenig später machte Ned sich auf den Weg die King Street hinauf, um sich um die Vorbereitungen zur Hinrichtung zu kümmern – die Errichtung des Schafotts, den Abbruch eines Teils des Mauerwerks vom Banketthaus, damit der König auf das Schafott hinaustreten könne, die Anlieferung des »strahlenden Richtbeils« aus dem Tower von London. Es waren so viele Einzelheiten, dass er sich nicht mehr an alle erinnern konnte. Es dauerte die ganze Nacht. Am nächsten Tag in aller Frühe betrat er wieder Cromwells Zimmer. Harrison und Ireton lagen schlafend auf dem Bett. Cromwell war schon auf. Das Todesurteil und der Hinrichtungsbefehl lagen auf dem Tisch. Die drei Offiziere, die ausersehen waren, die Enthauptung zu überwachen – Hacker, Axtell und Huncks – umringten ihn. In letzter Minute weigerte sich Huncks, seine Aufgabe zu erfüllen, worauf Cromwell ihn einen »schwerfälligen, mürrischen Burschen« nannte. Zweifel, Zweifel, noch in allerletzter Sekunde Zweifel. Aber Ned war fest entschlossen. Es war wie bei einer Kavallerieattacke: Kopf runter, die Beine verschränkt mit dem Nebenmann und mit voller Kraft gegen den Feind.
Ich kehrte zum Banketthaus zurück, um sicherzustellen, dass nicht noch im letzten Augenblick jemand versuchte, den König zu befreien. Ich war anwesend, als er auf das Schafott ging, um seinem Tod entgegenzutreten. Er streifte mich leicht, schien mich aber nicht zu sehen. Man hatte mir gesagt, er werde wegen der Kälte ein zusätzliches Hemd tragen, weil niemand glauben solle, er zittere vor Angst. Er starb sehr tapfer, das muss ich sagen.
Konnte ein schlechtes Leben durch einen guten Tod wettgemacht werden? Ned stand am Fenster, als der König seine letzten Worte sprach. »Ich lasse ein vergängliches Königreich hinter mir und betrete ein unvergängliches, wo kein Aufruhr ist, kein Aufruhr in der Welt.« Er sah das Beil niederfahren, hörte das Aufstöhnen der Menge, sah den abgetrennten, in die Höhe gehaltenen Kopf. Später hatten sie den Kopf wieder an den Rumpf angenäht und die Leiche im St.-James-Palast in einem offenen Sarg ausgestellt, damit die ausländischen Botschafter und andere Würdenträger sich davon überzeugen konnten, dass Karl Stuart tot war.
Er überflog noch einmal, was er geschrieben hatte. Er starb sehr tapfer … Das war nicht ganz richtig, es war mehr als tapfer. Er starb gleichmütig, fast heiter. Er musste gewusst haben, dass er mit seinem Verhalten vor Gericht und auf dem Schafott schließlich doch noch einen Sieg über seine Feinde errungen hatte. Erst in diesem Augenblick begriff Ned, dass der König genau so gestorben war wie die Königsmörder viele Jahre später – in der absoluten Gewissheit, im Recht zu sein.