KAPITEL 32
E s war sieben Jahre später, Mitte August 1674, als Oberst William Goffe sehr früh am Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, Russells Haus verließ. Er trug einen prall gefüllten Leinensack bei sich.
Es war ein langer, heißer Sommer gewesen. Schon hob sich der Nebel vom Connecticut, was einen weiteren warmen Tag verhieß. Will sog den besonderen Dunst des Flusses ein – kühl, etwas faulig – und schlich zum Tor, wo er den Kopf vorstreckte und sich nach beiden Seiten umguckte. Es war bereits so hell, dass er sehen konnte, wie der Feldweg verlassen dalag.
Er wuchtete den Sack auf die Schulter, zuckte kurz zusammen, weil sich das Metall darin mit lautem Klirren verschob, öffnete leise das Tor, ging ein Stück nach links und bog dann links zur Straße ab, wo er mit hastigen Schritten auf den Rand der Siedlung zuhielt.
Östlich von Hadley, gleich hinter dem Zaun am Ende von Russells Grundstück, erstreckte sich die Kiefernebene, wie die Einheimischen sie nannten. Vereinzelte hohe Bäume ragten wie die Masten eines ankernden Schiffes über die dünne, weiße Dunstschicht hinaus. Es war eine Erleichterung, die Ansiedlung zu verlassen, auch wenn es nur für kurze Zeit war. Er hätte gern das Gefühl der Freiheit genossen, die geschmeidig federnde Grasnarbe unter seinen Sohlen und das sich ausbreitende Licht der nahenden Morgendämmerung. Aber dafür hatte er keine Zeit. Er schritt aus. Inzwischen war er sechsundfünfzig Jahre alt, aber immer noch gesund und schlank, das lange, graue Haar nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der untere Teil des Gesichts verborgen unter einem dichten, grauen Backenbart. Außerhalb des russellschen Haushalts hatte ihn seit knapp zehn Jahren fast niemand zu Gesicht bekommen. Er fühlte sich wie ein Vergessener, wie ein Relikt aus einem anderen Zeitalter. Wenn er jemand begegnet wäre, hätte der ihn vielleicht für einen ergrauten Seemann gehalten, der nach einer langen Fahrt gerade erst an Land gegangen war. Nur die Gesichtsblässe hätte ihn vielleicht verwundert – das und der unverkennbar religiöse Eifer, der in seinen dunklen Augen leuchtete, sowie die Ausbuchtung der Pistole in seiner Rocktasche.
Über die Ebene bis zum Waldrand benötigte er eine Viertelstunde. Dort musste er langsamer gehen, um im Halbdunkel nicht zu stolpern. Den Weg kannte er zwar, aber er musste vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, von Fels zu Fels und dann über den moosigen Stamm, der über den Fluss führte. Zwischen den Bäumen zu seiner Rechten bewegte sich etwas, wahrscheinlich ein Hirsch. Indianer konnten es nicht sein, die hätte er nicht gehört. Weitere zehn Minuten später sah er am Seeufer schemenhaft eine Ansammlung großer Hütten, das Lager der Norwottuck-Indianer. Er wusste, dass auf der anderen Seeseite noch mehr Wigwams standen, insgesamt etwa fünfzig. Auch hier stieg wie aus einem Dampfkessel der Nebel vom Wasser auf und vermischte sich mit dem Rauch aus den Wigwams. Als er näher herankam, bellte ein Hund. Es roch nach gerösteten Maisflocken.
Die Frau, mit der er immer Handel trieb, hockte an ihrem üblichen Platz. Ihr Alter war ihm ein Rätsel. Faltenloses Gesicht, schwarzes Haar. Er schätzte sie auf um die dreißig. Ihren Namen kannte er nicht. Sie sprachen nie miteinander. Er wusste, dass Norwottuck in ihrer Sprache »in der Mitte des Flusses« bedeutete und ihre Bezeichnung für die Flussbiegung des Connecticuts war, wo sich jetzt Hadley befand. Sie verständigten sich mit Handzeichen und gelegentlich mit Bildern, die sie in den Sand zeichneten. Mit einem großen Kreis hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass er immer am Tag des Vollmonds kommen solle.
Er verneigte sich höflich und hockte sich ihr gegenüber auf den Boden. Sie bot ihm einen Teller mit dem Maisbrei der Norwottuck an, den er zwar nicht wollte und für den er auch keine Zeit hatte, aber er aß ihn, und zwar gerade so verhalten langsam, dass er nicht unhöflich erschien. Danach öffnete er den Leinensack und nahm die Waren heraus – hauptsächlich Werkzeuge, die er in Hartford bestellt hatte: Beile, Messer, Hämmer, einen Meißel, eine kleine Säge, einen Messingkessel. Sie begutachtete alles sorgfältig, hielt jedes Teil hoch, drehte es hin und her und prüfte mit dem Daumen die Schärfe der Schneiden. Dann breitete sie ihr Angebot aus – zwei Dutzend Biberfelle von guter Größe und Qualität. Er hütete sich zu feilschen. Bei seinem einzigen Versuch dazu war sie aufgestanden und weggegangen. Zur Erheiterung der Männer war er ihr hinterhergelaufen und hatte zum Zeichen seiner Entschuldigung eine Hand auf sein Herz gelegt. Wer immer sie war, sie ließ sich nicht übers Ohr hauen. Er packte die Felle sorgfältig in den Sack, zeichnete einen Kreis in den Sand und hielt beide Zeigefinger in die Höhe. In zwei Vollmonden würde er wiederkommen. Sie nickte.
Als er ging, folgten ihm wie immer die Blicke der Männer, aber diesmal sah er kein lächelndes Gesicht. Sie besaßen inzwischen Musketen, wie ihm aufgefallen war. Engländern war es verboten, den Eingeborenen Waffen zu verkaufen. Er nickte beim Vorbeigehen. Sie erwiderten seinen Blick – feindselig, wie ihm schien, obwohl die Norwottuck als freundlich gesinnt galten. Nach halber Wegstrecke spürte er, dass sie ihm folgten. Er steckte die Hand in die Tasche, umfasste die Pistole und drehte sich wieder um. Sie waren verschwunden, was aber nichts zu bedeuten hatte. Als er den Wald hinter sich gelassen hatte und die Ebene erreichte, atmete er erleichtert auf. Hier bot der inzwischen nur noch fadenscheinige Nebel einem Angreifer keinen Schutz mehr. Mit gelegentlichen Schulterblicken lief er nun schneller und war um sechs Uhr, gerade als die Sonne über den Horizont lugte, wieder sicher zu Hause in Hadley.
Er verstaute die Felle in seiner Kammer – später würde er sie nach Boston senden, wo ihm die Pelzhändler einen guten Preis dafür zahlten – und ging dann über den Flur nach nebenan, um nach Ned zu sehen.
Wie jeden Morgen schaute er als Erstes nach, ob Ned noch lebte. Er berührte ihn an der Wange. Die Augen des alten Mannes öffneten sich und schauten ihn an. »Guten Morgen, Ned. Gott segne dich.« Die Antwort war ein Lallen. »Lass uns dem Herrn Dank sagen für einen weiteren Tag.« Er schob einen Arm unter, zog ihn hoch und hob ihn aus dem Bett. Beim Schlurfen zum Latrinenstuhl hielt er ihn fest. Ein kurzer Blick zeigte Will, dass Ned sich in der Nacht nicht eingenässt hatte. Das war immer ein guter Tagesbeginn. Er zog ihm das Nachthemd die abgemagerten Beine hoch, bugsierte ihn in die richtige Position, stellte sich dann hinter ihn und schob ihm zur Stütze seine Ellbogen unter die Achseln. Während er darauf wartete, dass Ned sich erleichterte, sang er mit seiner schönen Stimme, die Gott ihm für den Gesang von Psalmen geschenkt hatte:
Ned, Ned, der liegt im Bett,
Die Beine taub, im Kopf nur Staub.
Über diesen albernen kleinen Vers von Will hatte Ned anfangs immer laut lachen müssen. Die meiste Zeit schien er zu verstehen, was man zu ihm sagte, auch wenn er selbst nicht sprechen konnte. Inzwischen lächelte er bei dem Kinderreim nur noch, so auch diesmal. Aus seinem Mundwinkel lief ein Spuckefaden. Will nahm ein Taschentuch und wischte ihn ab.
Das war nun seit sieben Jahren ihre tägliche Routine.
Nach dem morgendlichen Stuhlgang zieht Will ihn an. Was keinen praktischen Sinn ergibt, da der alte Mann die Kammer ohnehin nicht verlässt. Aber es würde ihn traurig stimmen, Ned, der früher so penibel auf seine Erscheinung geachtet hat, den ganzen Tag im Nachthemd zu sehen. Er muss alles für ihn erledigen – ihn mit Russells selbst gekochter speckiger Seife aus Lauge und Talg waschen, ihn mit dem Löffel füttern, ihm den Becher an die Lippen halten, ihm die Haare, den Bart und die Fingernägel schneiden, ihn aufrecht in seinen Stuhl setzen (im Winter vor den Kamin, im Sommer neben das offene Fenster, gerade so weit weg, dass man ihn von der Straße nicht sehen kann), ihm vorlesen, mit ihm reden, ihn abends zu Bett bringen. Ein endloser Kreislauf, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Das ist schwere körperliche Arbeit. Zwar hat das Alter Oberst Whalley schrumpfen lassen, aber er ist immer noch ein schwerer Mann. Kein Wunder, dass Will selbst so kerngesund ist, mit kräftigeren Armmuskeln als in seiner Jugend, so als hätte Ned ihm seine Stärke quasi vererbt.
Ihm macht das alles nichts aus. Im Gegenteil. Er verrichtet Gottes Werk. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Galater, 6:2) Oder: Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und siehet seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibet die Liebe Gottes bei ihm? Meine Kindlein, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. (1. Johannes, 3:17,18) Mit jeder Aufgabe, die er verrichtet – besonders den geringsten und schmutzigsten –, fühlt er sich Gott näher.
Nach Neds erstem Zusammenbruch zog Reverend Russell einen Arzt in Springfield zurate. Die in seinem medizinischen Lehrbuch beschriebenen Symptome waren eindeutig die eines Schlaganfalls – »plötzlich auftretende Erkrankung, die das Empfindungs- und Bewegungsvermögen mehr oder weniger vollständig hemmt; hervorgerufen durch eine Störung des Blutes oder der Säfte im Hirn; vorausgehender Schwindel; teilweise Verlust der Muskelkraft; etc.« Für eine Genesung gab es kaum Hoffnung.
Anfänglich ging ihm eine neunzehnjährige Frau namens Lydia Fisher zur Hand, die aus einer guten puritanischen Familie in Dedham in Massachusetts stammte. Doch immer wenn sie ihn berührte, wurde Ned aufgeregt. Zudem merkte Will, dass ihre Nähe in ihm selbst Gefühle erregte, die er annähernd zehn Jahre lang hatte unterdrücken können. Sie lächelte ihm zu und streichelte ihn gelegentlich am Arm und zeigte damit deutlich, dass sie gleichermaßen ihm gegenüber empfand. Nach ein paar Monaten musste Will sie wegschicken, nicht zuletzt weil bei Neds Pflege gewissermaßen auch Frances stets im Raum war. So vieles von ihr sieht er jetzt an ihrem Vater, besonders da er inzwischen so abgemagert ist, dass die Wangenknochen deutlicher vorstehen, und sein Gesichtsausdruck so unschuldig und treuherzig wirkt. Das ist ein weiterer Segen des Alters, hat er herausgefunden – es löst die über die Jahre durch Leid und Erfahrung angehäuften Schichten ab. Es enthüllt das Kind im Mann. Manchmal hat er den Eindruck, dass es ihr Gesicht ist, auf das er hinabsieht. Er fragt sich, was in Neds Kopf vor sich geht – wenn überhaupt etwas. Der Gedanke beunruhigt ihn.
Eines Tages, nicht lange nachdem Lydia das Haus verlassen hatte, holte er einen Besen aus der Küche, weil er Neds Kammer sauber machen wollte. Er schob die alte Armeetasche seines Schwiegervaters zur Seite, um den Staub wegzufegen, der sich dahinter angesammelt hatte. Da fiel ihm der dicke Packen Papier auf, der aus der Tasche herausschaute. Einige Lebenserinnerungen an Seine Hoheit, den Lordprotektor selig, Oliver Cromwell. Er schaute hinüber zu Ned. Wie üblich schlief er. Will war so neugierig, dass er das Manuskript mit auf seine Kammer nahm und sofort zu lesen anfing.
»Ich wurde geboren im Jahr des Herrn 1598 …«
Er las, bis es an der Zeit war, Ned zu füttern und zu waschen, setzte die Lektüre danach aber sogleich fort, nachdem er eine Lampe entzündet hatte, weil der Tag zur Neige ging. Der erste Teil war äußerst gefällig, ja faszinierend. Er entfachte eigene Erinnerungen – an seine frühen Jahre als Pikenier in Oberst Prides Infanterieregiment, die fünfzehn Meilen langen Märsche mit sechzig Pfund Ballast auf dem Rücken, die Schlacht bei Naseby, die Erstürmung von Bristol, wo sie als Erste die Stadtmauern erklommen, die Versammlungen in Saffron Walden und Putney, wo seine Predigten und Visionen ihn bekannt gemacht hatten, die Säuberung des Parlaments, an der er eifrig teilgenommen hatte, sein Werben um Frances nach der Hinrichtung des Königs.
Als Ned dann aber Frances zusehends in seine Erinnerungen einführte und sich unmittelbar an sie wandte, änderte sich der Ton, und Will wurde unbehaglich zumute. Du magst Dich über das Vorgehen einer Armee wundern – und das taten viele, auch ich –, die im Namen des Parlaments in den Krieg gezogen war und nun so rüde mit seinen Abgeordneten umsprang, wie es der König nie gewagt hätte … Was war denn das? Und dann das merkwürdige Mitgefühl und der seltsame Respekt gegenüber Karl Stuart – geradezu erschütternd – und seine Zweifel an dem Prozess gegen den König und die verstörendste Passage von allen: Liebste Frances, eine Frage quält mich … Wenn die uns von Gott geschenkten Siege Beweis dafür waren, dass wir sein Werk verrichteten, wie sollen wir dann erklären, was seitdem geschehen ist? Hat er unserer Sache seine Gunst entzogen, oder befanden wir uns schon die ganze Zeit im Irrtum? Sein Porträt von Cromwell deutete Sünden wie persönlichen Ehrgeiz, Hochmut, Ressentiment, Doppelzüngigkeit, Zynismus an – ein seltsames Werkzeug, das Gott sich erwählt hatte. Die Lesbarkeit des Manuskripts verschlechterte sich gegen Ende zusehends, es war voller Streichungen, Schreibfehler und Wiederholungen. Dafür war die letzte Seite unmissverständlich:
Ich habe gelesen, dass mein Kamerad Oberst Hacker, ein Nachbar von mir in Nottinghamshire, ein guter Soldat und ein gottesfürchtiger Mann, kurz vor seiner Hinrichtung gegenüber mehreren Freunden erklärte, die größte Qual, die ihm auf der Seele liege, sei jene, dass er früher in seinem Herzen zu große Vorurteile gehabt habe gegenüber den guten Menschen Gottes, die anderer Meinung gewesen seien als er.
Wenn er das für seine Grabinschrift ausgewählt hätte, es könnte auch meine sein.
Dank sei Gott, und möge er seinem demütigsten Diener verzeihen.
Edw. Whalley
Will lehnte sich zurück. Er war erschüttert. Ihm war, als wäre der Geist von Ned aus der leiblichen Hülle getreten, wäre durch den Flur in seine Kammer eingedrungen und hätte sich wie ein komplett Wahnsinniger in wüsten Tiraden ergangen. Das konnte unmöglich der Mann sein, den er kannte. Irgendein Teufel musste ihm die Feder geführt haben. Kaum überraschend, dass Gott ihn niedergestreckt hatte. Vor dem Gedanken, dass Frances das alles einst lesen würde, graute ihm besonders. Sie musste vor den Auswirkungen der väterlichen Krankheit geschützt werden. Und Ned musste vor sich selbst geschützt werden.
Er machte Feuer in seinem Kamin und verbrannte die Erinnerungen. Eine Seite nach der anderen.
Im Sommer 1671, vier Jahre nach Neds Schlaganfall, hatte Russell erklärt, dass Reverend Mather das Wagnis einzugehen bereit sei, einen Brief an Frances weiterzuleiten. Will hatte lange daran geschrieben. Über seinen Aufenthaltsort schrieb er nichts. Er deutete die Krankheit ihres Vaters an, ging aber nicht näher darauf ein. Seine Memoiren erwähnte er mit keinem Wort. Für den Fall, dass der Brief in die Hände der Regierung fiele, sprach er sie mit Mutter an und unterzeichnete als ihr Sohn. Im nächsten Frühjahr erhielt er ihre Antwort.
Mein liebster Sohn, wie sehr hat doch Dein Brief, den ich so lange ersehnte, meine Lebensgeister erquickt. Durch seine Gnade sind wir alle gesund und erfahren viel Liebe & Fürsorge durch unseren guten Gott, der uns an einem solchen Tag der Prüfung unterstützt & für uns sorgt. Ich bin glücklich, dass Amerika Dir zusagt & Du so viel Erfolg hast, auch wenn es mich betrübt zu hören, dass Dein Freund so hinfällig ist. Ich weiß nicht, ob diese Zeilen Dich in sicheren Verhältnissen erreichen & werde mich deshalb umso kürzer fassen & Dich wissen lassen, wie sehr Du mir & Deinen kleinen Brüdern und Schwestern am Herzen liegst. Alle erfreuen sich guter Gesundheit, nur Betty ist etwas schwach & alle sehnen sich danach, Dich wiederzusehen. Wenn der Herr es für gut befindet, wird er unsere Wiedervereinigung nach seinem Ermessen geschehen lassen. Wir sind zur Sparsamkeit gezwungen, aber sollte es etwas geben, womit wir Dir dienen können, bitte sag es mir, dann werde ich das Äußerste in meiner Macht Stehende tun, wenn es der Wille des Herrn ist. Ich erflehe Deine Gebete und verspreche Dir meine Gebete & in tiefer Liebe zu Dir & pflichtbewusst & dienstbar gegenüber all Deinen Freunden, empfehle ich Dich & sie der sicheren Obhut des Allmächtigen und verabschiede mich von Dir & bleibe bis zum Tod Deine geliebte und liebende Mutter.
Nach einigen weiteren Briefwechseln entstand eine lange Pause, für die der Krieg gegen die Holländer und die Einstellung des Schiffsverkehrs über den Atlantik verantwortlich war. An jenem Augustmorgen 1674, dem Tag seines Besuchs bei den Norwottuck, war es eineinhalb Jahre her, dass er zuletzt von ihr gehört hatte.
Sobald er Ned in seinen Stuhl gesetzt und das Fenster geöffnet hatte, um frische Luft in die stickige Kammer zu lassen, packte er die Biberfelle zusammen und brachte sie nach unten zu Russell.
»Wie geht’s Eurem Freund heute Morgen?«
»Wie immer. Vielleicht ein bisschen schwächer als sonst.«
»Wann Gott es gefällt, wird er ihn zu sich holen. Es kann nicht mehr lange dauern.« Seit Jahren sagten sie sich das schon. Manchmal fragte sich Will, ob Ned ihn und ihren Gastgeber überleben würde. Russell schaute auf den Sack. »Wieder Geschäfte mit den Indianern? Ich hoffe, es hat Euch niemand gesehen.«
»Nein, ich war vorsichtig wie immer. Zwei Dutzend Biber, fertig für Boston. Fünf Schilling pro Fell, macht sechs Pfund insgesamt. Ich habe eine Liste mit den Sachen gemacht, die ich aus Hartford brauche.« Er war stolz darauf, für sich selbst aufkommen zu können. Mit dem Profit aus den Tauschgeschäften mit den Indianern, dem Einkommen aus den Investitionen, die Gookin im Jahr 1661 in ihrem Auftrag getätigt hatte, den Zuwendungen aus der Heimat und einer Erbschaft über fünfzig Pfund von Richard Saltonstall aus Ipswich waren er und Ned fast reich, trotz der Miete, die sie an Russell zahlten.
»Ein Brief aus England ist gekommen.«
Er erkannte die Handschrift von Frances. »Danke, John. Gott sei’s gedankt.«
Als er die Treppe hinaufging, zitterte seine Hand vor Vorfreude ein wenig.
»Endlich Nachrichten von Frances, Ned.«
Der alte Mann murmelte.
»Der Brief datiert vom neunundzwanzigsten März.« Will zog einen Stuhl ans Bett, brach das Siegel und las laut vor: »Mein geliebter Sohn, seit ich dir zuletzt habe schreiben können, ist viel passiert, und als Erstes muss ich dir die bedrückendste Neuigkeit mitteilen. Der Herr hat unsere süße Betty in ihrem achtzehnten Lebensjahr zu sich genommen.«
Er hob den Kopf. Ned schaute mit leerem Gesichtsausdruck zur Decke. Will wünschte, er hätte sich den Brief vorher durchgelesen. Aber jetzt war es zu spät, er konnte nicht einfach aufhören.
Sie war immer schon kränklich & wir waren nicht unvorbereitet, aber sie hatte die Pest überlebt & den Großen Brand & so hat uns der Schlag schwer getroffen. Möge unser Schöpfer & Erlöser Dir den gleichen Trost schenken, den er auch uns in der Stunde des Verlusts entgegengebracht hat. Außerdem musst Du wissen, dass Frankie sich gerade mit einem Salzsieder verheiratet hat, ein feiner Mann, obwohl nicht in besten Verhältnissen, da die Geschäfte schlecht gehen. Sie ist guter Hoffnung & die Entbindung steht bevor. Ich fürchte, Du wirst böse auf mich sein, weil all dies ohne Dein Wissen oder Deinen Rat geschehen ist & obwohl ich mich bemühe, eine gute Mutter zu sein & um Führung bete, kann ich nur so vernünftig handeln, wie es mir ohne Deine Weisheit & Deine anleitenden Ratschläge möglich ist …
Er zerknüllte den Brief und schlich in seine Kammer. Sein Bild von Betty war im Lauf der Jahre verschwommen und blass geworden. Und Frankie war für ihn immer noch das kleine Mädchen mit der Puppe. Er hatte ihr Leben verpasst. Jetzt war eine Tochter tot und die andere verheiratet und schwanger. Er weinte um sie beide, und er weinte um sich selbst. Als er wieder in Neds Kammer ging, hatte sich sein Schwiegervater zur Wand gedreht und schaute ihn nicht an.
Eines Abends einige Tage später, er hatte Ned gerade gefüttert, brachte Russell ihm einen Brief, der in einem Paket von Reverend Hooke gesteckt hatte. Diesmal hatte sich Frances kurzgefasst. Das einzelne Blatt war wenige Wochen nach dem letzten Brief abgeschickt worden.
Mein Liebster, ich möchte Dir kurz mitteilen, dass Frankie vor zwei Tagen einen Jungen entbunden hat, doch lebte das zu Deinen Ehren William getaufte Kind nur wenige Stunden. Frankie litt schrecklich, aber der Herr stand ihr in dieser bedrängten Stunde zur Seite & sie wird sich wahrscheinlich wieder erholen, dank ihm, der über uns alle wacht.
Nachdem Ned für die Nacht hergerichtet war, setzte sich Will an den Tisch seines Schwiegervaters. Motten umflatterten die Flamme der Kerze. Bisher hatte er eine Antwort hinausgeschoben. Nun versuchte er einige Worte zu finden.
Ich vergieße meine Tränen auf dem Sarg der Verstorbenen, deren Verlust ich beklage. Aber meine Liebste, ich möchte Deinen Kummer nicht aufs Neue entfachen, indem ich Dir von meiner eigenen Trauer erzähle, denn ich weiß, Du hast genug, wenn nicht schon zu viel gelitten. Lass uns Dank sagen für ihr Leben und auch dafür, dass Du – wenn auch nur für kurze Zeit – die freudvolle Großmutter eines Sohnes gewesen bist. Sie ruhen jetzt bei Gott.
Du fürchtest, ich könnte böse auf Dich sein wegen Frankies Hochzeit. O meine Liebste, wie konntest Du Dich deswegen vor mir fürchten? Du weißt, niemals habe ich ein böses Wort zu Dir gesagt, noch habe ich einen bösen Gedanken gegen Dich gehegt, noch tue ich das jetzt oder werde es jemals tun, denn Du hast mir nie den geringsten Anlass dazu gegeben, und ich glaube, auch Du wirst das nie tun. Lass uns den Herrn preisen, der unsere Herzen in so inniger Liebe miteinander verbunden hat, dass es schier unmöglich ist, aufeinander böse zu sein.
Es war eine heiße Nacht. Im Bett hinter ihm murmelte Ned unruhig. Will ging zu ihm und zog ihm die Decke herunter, um ihm Kühlung zu verschaffen. Er schaute ihn eine Zeit lang an, wartete, bis er in seinem Schlaf wieder regelmäßiger atmete, und ging dann wieder zum Tisch.
Dein alter Freund, Mr R., lebt noch, ist aber kaum in der Lage zu einem vernünftigen Gespräch. Sein Verständnis, sein Gedächtnis und seine Sprache versagen ihm, und er scheint nicht mehr viel wahrzunehmen von dem, was um ihn herum geschieht oder gesprochen wird. Aber er erträgt geduldig alles und beklagt sich nie. Manchmal habe ich mich gewundert über diese Fügung, die der Herr ihm auferlegt hat. Der Herr hilft uns, aus alldem unseren Nutzen zu ziehen und geduldig auf ihn zu warten, bis wir erkennen, wozu er uns bestimmt hat.
Ein Hustenanfall und weiteres Gemurmel ließen Will wieder aufstehen und zu Neds Bett gehen. Irgendetwas schien ihn aufzuregen. Zum ersten Mal spürte Will, dass es auf das Ende zuging. Würde sein Schwiegervater in der Hoffnung und Erwartung auf Wiederauferstehung sterben? Oder war ihm der Glaube verloren gegangen – so wie der Glauben an die Sache, für die er gekämpft hatte? Er kniete sich neben das Bett und nahm seine Hand. »Ned? Kannst du mich hören? Unser Kampf war gerecht. Der Herr war mit uns. Wir, du und ich, wir haben Zeugnis abgelegt für die Wahrheit. Sag, dass du es weißt. Gib mir ein Zeichen, dass du bereit bist, vor Gott hinzutreten in der Gewissheit der Gnade und des künftigen Lebens.« Aber das einzige Geräusch, das er hörte, war Neds Atem, etwas röchelnder als zuvor, mit einem leichten Rasseln, als strengte es ihn zu sehr an.
Ich habe Deinen alten Freund gerade gefragt, ob er noch etwas mitteilen möchte, was ihn selbst betrifft, und er sagt, dass er nichts mehr wünsche, außer J. Chr. & die Fülle kennenzulernen, die jener in sich hat für die, die an ihn glauben und ihn finden wollen. Diesen Satz hat er kaum vernehmlich gesagt, immer wieder stockend, doch befreiter und klarer als zuletzt.
Er versiegelte den Brief und gab ihn Russell, damit er ihn am nächsten Morgen nach Boston abschicken konnte.
Als er zwei Tage später Neds Kammer betrat, um ihn zu waschen und ihm das Frühstück zu bringen, lag er wie so oft mit offenen Augen im Bett, zur Tür schauend und auf ihn wartend. Noch bevor Will seine Schulter berührte, wusste er, dass er tot war.
Er und Russell zimmerten aus einigen der in der Scheune gelagerten Eichenbohlen einen Sarg und trugen ihn abends im Schutz der Dunkelheit ins Haus. Will streifte Ned das Nachthemd ab und zog ihm seinen alten Kavalleriemantel und die Armeestiefel an, dann hoben sie den Leichnam in den Sarg, Will am Kopf, Russell an den Füßen, und stellten diesen aufs Bett.
Hinter dem Haus warteten Russells zweiter Sohn Jonathan, inzwischen ein kräftiger sechzehnjähriger Bursche, und der schwarze Sklave Abraham auf sie. Im Mondschein gruben sie nahe der Kellerwand, von der Straße und den nächsten Häusern nicht einsehbar, ein Grab. Anfangs war die Arbeit in dem sandigen Mutterboden leicht, doch dann stießen sie auf Wurzeln und eine dichte Steinschicht. Sie schwangen abwechselnd die Spitzhacke und die Schaufel. Das Geräusch von Metall auf Stein war in der stillen Augustluft so deutlich zu hören, dass Will überzeugt war, man könne es in ganz Hadley hören. Trotzdem erschien niemand, der nachsah, was da los sei. Als das Loch sechs Fuß tief war, machten sie Schluss, klopften sich den Schmutz von der Kleidung und gingen nach oben in Neds Kammer, um ihn zu holen. Bevor sie den Deckel auf den Sarg nagelten, küsste Will ihn auf die Stirn. Seine Falten waren verschwunden. Die Haut war glatt, kalt und weiß wie Marmor, wie die Ritterstatue in einer englischen Kirche. In seinem Armeemantel sah er aus, als schliefe er sich am Vorabend einer Schlacht aus.
Unter Mühen trugen die vier den Sarg die Treppe hinunter. Erst in der Stube konnten sie sich den Sarg auf die Schultern heben und würdevoll zu seiner letzten Ruhe tragen. Nachdem sie ihn ins Grab gesenkt hatten, sprach Reverend Russell das Trauergebet. »Erde zu Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.« Danach bedeckten sie den Sarg mit Steinplatten, um ihn vor räuberischen Tieren zu schützen, und schaufelten Erde in die Grube.
Es wurde schon hell. In der Morgendämmerung leuchteten die Berge in der Ferne rosa. Die anderen gingen ins Haus, Will blieb noch am Grab. Er betrachtete nachdenklich den unmarkierten Flecken grober Erde. Es war so weit weg von zu Hause. Ausnahmsweise kam ihm kein Gebet in den Sinn, keine Bibelstelle. Er stand lange Zeit da, bis er von der Straße Stimmen nahen hörte. Da entsann er sich, wo er war, und lief schnell ins Haus.