KAPITEL 35
S ie hatte kaum Zeit, sich von allen zu verabschieden – von Frankie und deren Kindern (zwei inzwischen, ein Junge und ein Mädchen), die in Clerkenwell lebten; von Dickie, der bei einem Krämer in Shoreditch in die Lehre ging und bei seinem Herrn wohnte; bei Nan und Judith, die sich um Tante Jane kümmerten, die in der Nähe der Allmende von Clapham wohnte. Sie verpflichtete alle zur Verschwiegenheit, zeigte ihnen die Nachricht ihres Vaters und eröffnete ihnen, dass sie noch vor Ende der Woche London verlassen werde. Auf die entsetzten Einwände erwiderte sie, das Schiff – die Blessing – sei für einen Monat das letzte nach Boston und mit einem späteren laufe sie Gefahr, in die Winterstürme über dem Nordatlantik zu geraten. Außerdem hätte sie so lange auf ein Wiedersehen mit Will gewartet, dass sie die Trennung keinen Tag länger ertragen könne.
Es war Frankie, die schon immer die Vernünftige, die Vorsichtige unter ihnen war, die am entschlossensten versuchte, sie umzustimmen.
»Das ist Wahnsinn, Mutter. Eine Frau in deinem Alter, die allein ans andere Ende der Welt fahren will.«
»Ich bin fünfundvierzig, das stimmt, aber ich bin so stark wie ein Mann. Wenn ich das nicht wäre, wie hätte ich euch alle ohne einen Vater großziehen können?«
»Aber wir werden dich nie wiedersehen.«
Sie umfasste die Hand ihrer Tochter. »Meine liebe Frankie, wenn keine Gefahr mehr besteht, wie euer Vater sagt, dann könnt ihr mir nachfolgen – ihr alle. Amerika ist für Menschen unseres Glaubens ein besseres Land als England. ›Denn das Land soll euch seine Früchte geben, dass ihr zu essen genug habet und sicher darin wohnet.‹« Sie kannte jedes Wort der Bibelstelle auswendig. Der Gedanke, nach all den Jahren des Wartens Wills Ruf nicht zu folgen, war undenkbar. »Das ist unser Gelobtes Land.«
Sie debattierten eine Stunde, bis Frankie schließlich aufgab. Sie kannte den Dickkopf ihrer Mutter nur zu gut. »Dann geh mit unsrem Segen. Offenbar bist du so fest entschlossen, dass keiner von uns dich noch umstimmen kann.«
Frances nahm ihre Enkel in den Arm, küsste sie und schaffte es nur mit Mühe, die Tränen zurückzuhalten – die Kleinen sollten sie fröhlich in Erinnerung behalten. Dann umarmte sie ihre Tochter und eilte aus dem Haus, bevor sie doch noch in Tränen ausbrach.
Sie war davon überzeugt, dass Gott sie wieder zusammenführen würde, entweder auf Erden oder im Himmel.
Am Mittwochmorgen packte sie – warme Kleidung für Neuengland, Teller, Tasse und Besteck, ein paar Kekse, etwas Käse und ihre Bibel. Sie brauchte nicht lange. An weltlichem Besitz hatte sie nicht viel. Was noch da war, konnten die Kinder haben. Keinem aus ihrer Kirchengemeinde hatte sie von ihren Plänen erzählt. An jenem Nachmittag ging sie hinunter an die Pier nahe der London-Brücke und mietete ein Boot mit Ruderer, das sie nach Gravesend brachte. Als der Abend dämmerte, war sie schon an Bord der Blessing, im beengten Gemeinschaftsraum unter dem Deck, dessen Planken mit der aufkommenden Flut zu knarzen begannen.
*
Nayler verbrachte die Nacht vor dem Auslaufen der Blessing in einer Schenke in der Nähe des Kais in Gravesend. Er wusste aus Erfahrung, wie diese Seereise verlaufen würde, und wollte so wenig Zeit wie möglich an Bord verbringen. In ein Hemd hatte er zwei Pistolen, Kugeln und Schießpulver eingewickelt. In seiner Rocktasche befand sich ein scharfes Messer in einer Lederscheide. Beim ersten Tageslicht ging er hinunter zum Hafen.
Er trug dunkle, triste Kleidung. Seine Perücke hatte er weggeworfen und sich einen jener für die Puritaner typischen schwarzen Pilgerhüte besorgt. In einer Hand trug er seine Ledertasche und eine zweite, größere Tasche, in der anderen seine gebrauchte, abgegriffene Bibel. Er zeigte dem Zahlmeister den Beglaubigungsschein, auf dem er sein übliches Pseudonym Richard Foster hatte eintragen lassen. Die größere der Taschen ließ er in den Laderaum bringen, dann zeigte man ihm den Weg zu den Hängematten. Diesmal hatte er keine eigene Kabine. Stattdessen zwängte er sich mit etwa hundert anderen Passagieren unter dem Hauptdeck in einen engen Raum, der nur fünf Fuß hoch war. Wie ein Buckliger musste er sich zwischen den dicht gedrängten Leibern hindurchzwängen – Alten und Jungen, Männern und Frauen (manche hochschwanger), Kindern jedes Alters, Müttern mit Säuglingen, Hunden. Schließlich fand er eine leere Hängematte. Aus dem Laderaum unter ihnen drang das Grunzen und Quäken von Schweinen, Ziegen und Hühnern nach oben. Er legte die Bibel, den Hut und die Ledertasche auf das Segeltuch, band alles fest und begab sich dann auf die Suche nach Frances. Wenn er sie nicht finden sollte, weil sie in letzter Minute Verdacht geschöpft oder man ihr die Reise ausgeredet hatte, dann würde er, das schwor er sich, wieder von Bord gehen. Tatsächlich graute ihn dermaßen vor dieser Tortur einer Seereise, dass er fast hoffte, sie hätte ihre Meinung geändert.
Er tastete sich durch den insgesamt etwa achtzig Fuß langen Raum, duckte sich in dem trüben Licht zwischen und unter den Hängematten hindurch, stolperte über krabbelnde Kinder, über Hunde und Gepäck und hielt Ausschau nach ihr. Er hatte seine Hängematte fast schon wieder erreicht, als er sie sah. Sie lag mit ihm zugewandten Gesicht in einer Hängematte so dicht vor ihm, dass er sie hätte berühren können. Sie war blass und sah verängstigt aus. Er schaute sofort zur Seite. Nach all der Sucherei war ihre Hängematte keine zehn Fuß von seiner entfernt.
Er zwängte sich bis zur Leiter durch und kletterte an Deck. Er lehnte sich an die Reling, lauschte dem Kreischen der Möwen und beobachtete, wie die letzten Passagiere an Bord gingen und die letzte Fracht verladen wurde. Der Steg wurde hochgeklappt, die Leinen vorn und achtern losgemacht. Das Schiff löste sich von der Kaimauer. Jetzt konnte er sich sicher sein, dass sie an Bord geblieben war.
Sein einziger Luxus – wenn man das Wort im Zusammenhang mit einer Reise über den Atlantik überhaupt in den Mund nehmen wollte – war Zeit. Wochen strenger Haft lagen vor ihm. Durch übereilte Schritte Verdacht zu erregen war nicht nötig. Er konnte seiner Beute geduldig nachstellen.
In den ersten drei Tagen hielt er Abstand. Die meiste Zeit lag er in seiner Hängematte und las im Schein einer Kerze geflissentlich in der Bibel. Am vierten Tag, als nirgendwo Land in Sicht war, schloss er sich den Sabbatgebeten der Puritaner an, die sich auf dem erhöhten Halbverdeck im Heck zusammendrängten. Sie machten etwa die Hälfte der Passagiere aus. Eine Kirchengemeinde aus Essex war mit ihrem Ältesten ausgewandert, einem Pfarrer namens Humility Fuller, der darauf bestand, der gesamten Gemeinde eine Standpauke zu halten. Zwei Stunden lang predigte er über Sünde und Versuchung und brüllte dabei beständig gegen den Wind an. Nayler stand in den hinteren Reihen neben der Leiter, die hinunter zum Hauptdeck führte, und bemühte sich, ein aufmerksames Gesicht zu machen. Die ausufernden Gebete waren zumindest leicht zu ertragen – es war eine Erleichterung, den Kopf senken und die Augen schließen zu dürfen. Aber beim ungewohnten Absingen der Psalmen konnte er unmöglich mithalten. Er bewegte den Mund zu den Worten, so gut er konnte. Am Ende der Zusammenkunft sagte er laut und von Herzen kommend: »Amen«, blieb da stehen, wo er war, und ließ den anderen Gläubigen den Vortritt. Als Frances an ihm vorbeiging, murmelte er: »Gott sei mit Euch.« Sie sah ihn überrascht an. »Gott sei auch mit Euch, mein Freund.«
Bei der Andacht in der Wochenmitte versuchte er etwas anderes. Wieder stand er im hinteren Teil der anwesenden Gemeinde. Diesmal kletterte er nach dem Ende der Gebete schnell die Leiter zum Hauptdeck hinunter und streckte den Frauen für die letzten Sprossen hilfsbereit eine Hand entgegen. Manche wichen angesichts einer Berührung durch einen fremden Mann zurück, Frances jedoch nahm kurz seine Hand.
»Danke.« Ein Ruck fuhr ihm durch die Finger, bevor sie wieder losließ.
»Gott segne Euch, Schwester.« Er berührte die Hutkrempe. »Richard Foster.«
Sie nickte kurz und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Eine gute puritanische Frau zu umwerben würde eindeutig keine leichte Aufgabe werden. Aber er blieb dran – Foster, der sture Fuchs – und richtete es so ein, dass er ihr in den folgenden Wochen einige Male wie zufällig über den Weg lief, wenn sie zum Luftschnappen an Deck waren. Er machte ein paar Bemerkungen zum Wetter oder über das Meer, wo die Wellen sich bis in die Unendlichkeit erstreckten – manchmal grau, manchmal ölig schwarz, betupft mit weißen Kronen, ohne dass sie jemals die Segel eines anderen Schiffes sahen, das die Gleichförmigkeit durchbrach.
»›Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser‹«, zitierte er aus der Bibel.
»Das tut er tatsächlich, Mr Foster. Es ist ein äußerst ehrfurchtgebietender Anblick.«
Diese sorgfältig geplanten, scheinbar zufälligen Begegnungen waren die Höhepunkte der Reise. Alles andere war langweilig, armselig, abstoßend.
Je länger die Fahrt dauerte, desto schlechter wurde das Essen. Gegen den Hunger knabberte er an dem Schiffszwieback herum, der jeden Morgen ausgegeben wurde – aber erst nachdem er die roten Würmer und Spinnen herausgepult hatte. Manchmal versuchte er seine fette, grünliche Fleischration in der Kochkiste zu erhitzen, die auf einem Sandbett stand. Er trank viel Bier (wie übrigens auch die Puritaner und sogar ihre Kinder, da das Süßwasser auf der Blessing bräunlich und wie der Zwieback voller winziger Krabbeltiere war). Er pisste und schiss in die gemeinschaftlichen Latrineneimer und schabte sich bei Bedarf die Läuse von der Haut. Bei mildem Wetter hielt er sich an Deck auf; wenn es regnete, wie an den meisten Nachmittagen, lag er in seiner Hängematte und blätterte in der Bibel. Das Ärgerlichste an seiner Puritanerrolle war, dass sie ihn davon abhielt, in die Kartenpartien einzusteigen, die die weniger religiösen Passagiere zum Zeitvertreib spielten. Mit jeder Seite der Heiligen Schrift verstärkte sich seine Abneigung gegen Gott. Was für ein Ungeheuer. Er zermalmte, bestrafte und stellte auf die Probe, er schickte seinen Sohn in den Tod und missachtete dessen Hilfeflehen.
Die ganze Zeit über behielt er Frances im Auge. Ihm fiel auf, wie gesellig sie auf ihre stille Art sein konnte. Sie lachte mit den anderen Frauen, schaute nach deren Kindern und wiegte ihre Säuglinge im Arm. Auch das erinnerte ihn an Sarah und brachte ihn auf eine Idee. Er sammelte die auf dem Schiff herumliegenden Holzabfälle, schnitzte daraus kleine Figuren und gab sie ihr als Spielzeug für die Kinder, um die sie sich kümmerte.
Allmählich sprachen sie öfter miteinander, und schließlich kam es sogar zu der einen oder anderen Unterhaltung. Eines Tages, als sie am Schandeck lehnten und die unheilvoll schwarzen Gewitterwolken betrachteten, die sich am Horizont zusammenballten, ging er ein Wagnis ein. »Darf ich Euch fragen, wohin Ihr reist?«
Das war ein Fehler. Zum ersten Mal sah sie ihn misstrauisch an. »Ich habe noch keine festen Pläne.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Wolken zu, und er befürchtete schon, seine ganze sorgfältige Arbeit sei umsonst gewesen. Aber dann sagte sie, als wollte sie wiedergutmachen, dass sie so kurz angebunden gewesen war: »Darf ich fragen, was Euer Ziel ist?«
»Ein Dorf namens Hadley am Fluss Connecticut. Bestimmt habt Ihr noch nie davon gehört.«
Er achtete genau auf ihre Reaktion. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne mich in Neuengland überhaupt nicht aus.« Ihre Stimme klang gleichgültig. Wenn sie nicht eine vollendete Lügnerin war, was er nicht annahm, sagte sie die Wahrheit. Aber sein Vorstoß hatte sie eindeutig verunsichert. »Gott sei mit Euch, Mr Foster«, sagte sie und ließ ihn stehen.
»Und auch mit Euch«, rief er ihr hinterher.
Sie hatte ihm immer noch nicht ihren Namen genannt. Als die Mannschaft an jenem Abend angesichts eines drohenden Sturms vorsichtshalber die Luken schloss, sah er sie mit einem älteren, ihm unbekannten Mann sprechen. Die beiden schauten zu ihm herüber. Als sie bemerkten, dass er sie sah, wandten sie schnell den Kopf ab. Offenbar sprachen sie über ihn.
Spätabends brach wie befürchtet ein Sturm über sie herein. Die Böen tosten durch die ächzende Takelage. Jeder Donnerschlag hörte sich an, als zersplitterten die Masten. Meereswasser krachte auf das Deck über ihnen und strömte in schmalen, gelegentlich von Blitzen erleuchteten Sturzbächen durch die Plankenritzen. Das Schiff stampfte so heftig, dass Nayler einmal ums Haar aus der Hängematte gefallen wäre. Die Latrineneimer kippten um. Die Kerzen erloschen. Aus der vollkommenen Dunkelheit ertönte eine Kakofonie aus panischem Kreischen und Rufen, Flehen zu Gott, weinenden Kindern, schreienden Säuglingen und kehligen Würgegeräuschen. Die kalte, feuchte Luft war erfüllt vom Gestank nach Erbrochenem, was wiederum den Brechreiz anregte. Nayler klammerte sich an die Hängematte, beugte sich zur Seite und würgte das wenige heraus, was er noch im Magen hatte.
Der Sturm dauerte die ganze Nacht an und ließ auch am nächsten Morgen nicht nach. Blassgraues Licht drang zwischen den Decksplanken hindurch und beleuchtete schwach die Verwüstung – verstreute Habseligkeiten, blutig geschlagene Köpfe, schlaff aus den Hängematten baumelnde Gliedmaßen. Die Blessing schwang hin und her wie ein Pendel. Gegenstände wurden von einer Seite des Rumpfs zur anderen geschleudert. Unfähig zu stehen, zu erschöpft, als dass sie rufen oder schreien könnten, klammerten sich die Leute an ihre Hängematten und Pritschen, meist schweigend, gelegentlich hörte man Schluchzen und Stöhnen und das Wehklagen eines Mannes, der immer wieder jammerte, seine Frau sei tot. Nayler lag zitternd in der Hängematte, von Salzwasser durchnässt, mit angezogenen Knien gegen die Magenkrämpfe. Es war weit schlimmer als bei seiner letzten Überfahrt. Er war jeden Augenblick darauf gefasst, dass der Kiel barst und sie alle auf dem Grund des Meeres endeten. Er fühlte sich dermaßen elend, dass er es sich beinahe wünschte.
Besessen von Träumen, warf und wälzte er sich in der Hängematte herum und überstand den Tag und die folgende Nacht. Als er am Morgen des zweiten Tages aufwachte, war es windstill. Der Regen hatte aufgehört, und das Schiff lag waagerecht im Wasser. Die Passagiere in den Hängematten nahe den Rumpfwänden öffneten die Luken und ließen frische Luft herein.
Nayler setzte die Füße auf den Boden und versuchte aufzustehen. Eine Mischung aus Salzwasser, Erbrochenem und Exkrementen hatte das Holz nass und glitschig gemacht, und er rutschte mit den glatten Stiefelsohlen aus. Fast wäre er gestürzt, konnte sich aber an den Stricken der Hängematte gerade noch festhalten. Vorsichtig bewegte er sich zwischen den Schlafenden hindurch bis zur Leiter und machte sich oben daran, die Luke zu öffnen. Sie ließ sich nur schwer bewegen. Als er es schließlich geschafft hatte, ergoss sich ein Schwall Salzwasser über ihn und durchnässte ihn erneut. Protestgeschrei von unten. Er kletterte an Deck.
Was für eine Erleichterung, der stinkenden Dunkelheit entkommen zu sein. Er atmete den kalten Salzgeschmack des Ozeans ein. Das Meer war glatt, der Himmel weich und perlgrau. Dank der Vorsehung ragten die Masten unversehrt auf. Abgesehen von einigen Seeleuten, die Trümmer wegräumten, hatte er das Deck für sich allein. Er ging nach achtern und schaute über das Schandeck. Das Schiff trieb mit gerefften Segeln in der Strömung. Es musste meilenweit vom Kurs abgekommen sein. Er hörte Schritte, drehte sich um und sah den älteren Mann, mit dem sich Frances vor dem Sturm unterhalten hatte, auf ihn zukommen.
»Gott sei’s gedankt«, sagte der Mann und blieb neben ihm stehen. »Ich war mir sicher, dass wir verloren sind.«
Nayler schaute wieder aufs Meer hinaus. Er wollte mit niemand sprechen. Trotzdem fühlte er sich zu irgendeiner Art von Kommentar genötigt. »Das war der schlimmste Sturm, den ich je erlebt habe.«
»Dann habt Ihr die Fahrt also schon einmal gemacht?« Und weil Nayler nichts darauf sagte, fügte er hinzu: »Natürlich habt Ihr das, wenn Ihr aus Hadley kommt.«
Nayler umklammerte das Schandeck. Er witterte Probleme.
»Dann kennt Ihr ja den Magistrat dort«, fuhr der Mann fort. »John Russell. Und Peter Tilton, den Pfarrer.«
»Selbstverständlich.«
Der Mann stieß ein unangenehm triumphierendes Krächzen aus. »Sicherlich nicht, Mr Foster, oder wie auch immer Ihr in Wirklichkeit heißt. Würdet Ihr sie kennen, dann wüsstet Ihr, dass Mr Russell der Pfarrer und Mr Tilton der Magistrat ist.«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich aus Hadley komme, Sir. Mein Bruder ist dort ansässig, ich ziehe zu ihm.«
»Eine weitere Lüge. Es gibt niemand in Hadley mit dem Namen Foster. Ich weiß das, weil es nämlich mein Dorf ist.«
Missmutig drehte sich Nayler wieder zu ihm um und betrachtete ihn eingehend. Wie groß war die Aussicht für solch einen Zufall? Tausend zu eins, mindestens. Und doch stand nun dieser dürre Alte vor ihm und drohte sein Vorhaben zunichtezumachen – ein puritanischer Störenfried mit eigentümlich verkniffenem Gesicht, in dessen Augen die Selbstgerechtigkeit leuchtete, als hätte er gerade eine Hexe zur Strecke gebracht. Eine lang unterdrückte Wut kochte in ihm.
»Ich glaube, Ihr seid ein Spitzel, den man auf uns angesetzt hat«, fuhr der Mann fort. »Entweder das oder …«
Die restlichen Worte erstickte Nayler. Er drückte die linke Hand auf den Mund des Mannes, schob ihn nach hinten gegen das Schandeck, schaute schnell, ob ihn jemand beobachtete, zückte dann mit der Rechten sein Messer, stieß es ihm mit aller Kraft unterhalb der Rippen in den Bauch, riss es hoch und drehte die Spitze der Klinge zum Herzen hin. Der Mann sperrte die Augen auf und keuchte noch einmal dumpf, dann zog Nayler das Messer heraus, schob ihm einen Arm unter die Kniekehlen, kippte ihn rückwärts über das Schandeck und warf das Messer hinterher. Das Platschen, mit dem er ins Wasser stürzte, war so laut, dass die Seeleute sich umschauten.
»Mann über Bord!«, rief Nayler und deutete aufs Meer.
Er atmete schwer, sein Kreuz schmerzte. Er blickte hinunter aufs Wasser, konnte aber nicht erkennen, ob der Mann noch lebte. Wenn sie ihn lebend herausfischten oder an der Leiche die Stichwunde entdeckten, dann wäre er geliefert.
Die Seeleute hasteten die Leiter vom Halbverdeck herunter. Inzwischen waren von unten Passagiere erschienen und drängelten sich an die Reling. Der Mann trieb mit dem Gesicht nach unten vom Schiff weg.
»Was ist passiert?«
»Hat jemand was gesehen?«
Nayler stieg aufs Schandeck, sammelte sich kurz und sprang dann. Der Schock beim Eintauchen in das kalte Wasser verschlug ihm kurz den Atem. Prustend stieß er den Kopf durch die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft, sah sich um und schwamm dann zu dem Körper. Er drehte ihn auf den Rücken. Der Mann war mausetot. Er trieb mit dem Wellengang dahin, Augen und Mund weit offen, und starrte zum Himmel, als wäre ihm eine letzte wundersame Erscheinung gewährt worden. Nayler hörte Rufe vom Schiff. Er legte dem Mann die Hände auf die Schultern und drückte ihn unter Wasser. Einige Sekunden lang hing die Leiche noch schwebend unter seinen Händen, dann begann sie langsam zu sinken. Nach und nach verblasste das weiße Gesicht, bis es schließlich ganz verschwunden war.
Nayler kämpfte sich zu der schon gefährlich weit entfernten Blessing zurück. Das Gewicht seiner vollgesogenen Kleidung zog ihn nach unten. Ein Matrose rief etwas, dann warf er ihm eine Leine zu. Mit letzter Kraft erreichte Nayler das Seil und schlang es sich ums Handgelenk. Er wurde zum Schiff gezogen. Er war selbst schon fast tot. Nur noch verschwommen nahm er wahr, dass ein Matrose eine Strickleiter hinunterkletterte, ihm ein Tau um die Brust band und er nach oben über das Schandeck gezogen wurde. Endlich lag er an Deck, spuckte Salzwasser, schnappte nach Luft und blickte in die Gesichter von Passagieren, unter denen auch Frances war. Er war ein Mörder und wundersamerweise doch ein Held.
Dann wurde er bewusstlos.
*
Frances nahm ihn in ihre Obhut. Er zitterte vor Kälte. Die Seeleute trugen ihn nach unten. Sie zeigte ihnen seine Hängematte, dann zogen sie ihm die nassen Sachen aus, Mantel, Stiefel und Hosen. Ihr fiel auf, dass er ein Halsband mit einem kleinen Beutel trug. Sie eilte zu der Kochkiste und erbettelte sich von einer der Frauen eine Tasse heißer Hühnerbrühe. Sie schob die Hand unter die von Salzwasser verklebten Haare und hob seinen Kopf an, damit sie ihm die Tasse an die Lippen halten konnte. Zitternd öffneten sich die Augenlider, er trank ein paar Schlucke, sank zurück und schlief sofort wieder ein. Sie holte ihre Decke, die nicht ganz so nass war wie seine, und wickelte ihn darin ein.
Sie fühlte sich irgendwie schuldig an dem, was passiert war. Obwohl er so freundlich gewesen war, sich immer nach ihrer Gesundheit erkundigt und ihr Spielzeug für die Kinder gebracht hatte, hatte sie Abstand gehalten. Irgendetwas an ihm (Gott möge ihr verzeihen) hatte sie daran gehindert, ihm voll und ganz zu vertrauen. Wie sie alle, die aufgrund des schlechten Essens und des ständigen Durchfalls nur noch Haut und Knochen waren, hatte auch er im Lauf der Reise abgenommen. Und da hatte sie manchmal das Gefühl gehabt, dass sie ihn von irgendwoher kannte. Goodman Jones hatte die Hängematte neben ihrer gehabt. Der Witwer war nach der Beisetzung seiner Frau in England auf dem Rückweg nach Amerika gewesen. Er hatte gesehen, wie sie mit Nayler sprach, und sich bei ihr nach ihm erkundigt. Sie erzählte ihm das wenige, was sie wusste. Das war kurz vor dem Sturm gewesen. Und jetzt war Jones trotz Naylers heldenhaftem Rettungsversuch ertrunken, und sie betrachtete das irgendwie als ihre Schuld, als eine Bestrafung für ihre mangelnde christliche Nächstenliebe.
Sie trug seine Kleidung nach oben an Deck und breitete sie zum Trocknen aus. Als sie zurückkam, fiel ihr die kleine Ledertasche unter seiner Hängematte auf. Vielleicht hatte er ein zweites Hemd. Sie öffnete die Tasche, fand seine Bibel und einen Gegenstand, der in Wachstuch eingewickelt war. Es fühlte sich hart an und war sicher kein Hemd, aber sie war neugierig. Es war das Porträt einer jungen, sehr schönen und elegant gekleideten Frau mit modischer Frisur.
Die Hängematte bewegte sich. Sie legte die Miniatur schnell wieder zurück und stand auf. Er öffnete die Augen und wollte sich aufrichten.
»Langsam«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Ihr braucht Ruhe.«
»Ihr seid sehr freundlich.« Er streckte sich wieder aus. »Und ich weiß nicht einmal Euren Namen.«
»Frances«, sagte sie. »Frances Stephenson.«
*
Am Spätnachmittag war er wieder auf den Beinen und zog die getrocknete Kleidung an. Er war noch etwas unsicher in seinen Bewegungen, hatte die Prüfung aber anscheinend unbeschadet überstanden. Das Lob der anderen Passagiere nahm er achselzuckend entgegen. »Ich habe nur das getan, was jeder andere Christ auch getan hätte. Ich habe mein Leben Gott anvertraut im Wissen, dass er mich schützen wird. Mir tut nur leid, dass ich den armen Mann nicht retten konnte.« Auf die Frage des Kapitäns, wie es zu dem bedauerlichen Vorfall gekommen sei, antwortete er: Er habe gesehen, dass Goodman Jones sich gefährlich weit über das Schandeck gelehnt habe, dass er ihm einen guten Morgen gewünscht habe, weitergegangen sei und dann einen Schrei und das Platschen im Wasser gehört habe. Das schien dem Kapitän zu genügen. So etwas komme auf langen Seereisen vor. Schon in dem Sturm hätten sie eine Frau und ein Kind verloren. Im Logbuch werde er den Abgang von Goodman Jones als tödlichen Unfall verzeichnen.
Als sich später der bescheidene Held und Frances auf dem Hauptdeck die Beine vertraten und an der bewussten Stelle vorbeikamen, erzählte er ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit leiser Stimme eine andere Geschichte: Er habe gesehen, dass Jones auf das Schandeck gestiegen und nach kurzem Zögern ins Wasser gesprungen sei.
Sie sah ihn entsetzt an. »Ihr meint, er hat sich das Leben genommen?«
»Ich befürchte, so ist es gewesen.«
»Aber das ist eine Todsünde.«
»Das ist wahr.«
»Dabei hat er einen so gottesfürchtigen Eindruck gemacht.«
»Wer kann schon in das Herz eines anderen Menschen schauen? Vielleicht haben ihn irgendwelche Zweifel geplagt, und er war des Sturms wegen vorübergehend nicht ganz bei Sinnen. Verzeiht, dass ich Euch damit belaste. Aber ich habe sonst niemand, mit dem ich sprechen kann. Wollt Ihr mit mir ein Gebet für seine Seele sprechen?«
Sie knieten sich hin.
Danach war sie es, die seine Gesellschaft suchte, und nicht umgekehrt. Sie wollte mehr über ihn erfahren.
»Verzeiht mir«, sagte sie etwa eine Woche später. »Aber ich muss Euch ein Geständnis machen. Als Ihr geschlafen habt, habe ich in Eurer Tasche nach einem Hemd gesucht, und dabei ist mir die Miniatur in die Hände gefallen. Ist das Eure Frau?«
»Sie war es.« Ein Schatten der Trauer huschte über sein Gesicht. »Sie starb im Kindbett. Das Kind auch, ein Junge. Es wäre unser erstes gewesen.«
»Das tut mir sehr leid. Sie sah wie eine feine Dame aus.« Und eine Minute später sagte sie: »Und Ihr habt Euch nicht wieder verheiratet?«
»Ich habe niemand mehr gefunden, für den ich so viel empfunden habe. Ihr seht also, in England hält mich nichts mehr. Ich war vor vielen Jahren schon einmal in Amerika und habe mich entschlossen, dorthin zurückzukehren. Ich werde zu meinem Bruder nach Hadley ziehen und dort im Kreis von Menschen unseres Glaubens die verbleibenden Jahre verbringen, die Gott mir schenkt.« Er hielt inne. »Und Ihr, Mrs Stephenson? Ich nehme an, Ihr seid verheiratet.«
»Ja, seit vielen Jahren.«
Sie gab preis, was sie für vertretbar hielt, ohne eine glatte Lüge zu erzählen. Sie sagte, dass sie in Amerika niemand sonst kenne, dass ihr Mann ausgewandert sei, um ein neues Leben für sie aufzubauen, dass er sie jetzt zu sich gerufen habe, dass er aber so viel im Land umherziehe, dass sie nicht mehr genau wisse, wo sie ihn finden könne.
Sie wusste, wie idiotisch sich das alles anhörte, aber sie empfand es als Erleichterung, sich jemand anvertrauen zu können.
»Gibt es einen Bekannten von ihm, der Euch drüben helfen kann?«
»Er hat mir den Namen eines Mannes in Cambridge genannt, der immer über seinen letzten Aufenthaltsort Bescheid wisse.«
»Wer ist das, wenn Ihr mir die Frage erlaubt?«
Sie sah keinen Grund, warum sie es ihm nicht sagen sollte.
»Ich kenne Daniel Gookin«, sagte er. »Oder genauer, ich habe von ihm gehört. Ich kann Euch zu seinem Haus bringen. Mit dem Pferd ist es nur eine halbe Stunde von Boston entfernt.«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ihr seid sehr freundlich, Mr Foster. Ich weiß nicht, was ich ohne Euch angefangen hätte.«
Der Rest der Reise verlief ruhig. Während sie sich Amerika näherten, standen sie stundenlang zusammen am Schandeck und beobachteten die verspielten Wale und Delfine, die das Schiff begleiteten. Schon bald erschienen die ersten Möwen über ihnen, und am Donnerstag, dem 30. Oktober, ging die Blessing nach neunundsechzig Tagen auf See in Boston morgens vor Anker.
*
Sie wusste nicht, wo sie über Nacht bleiben sollte, und so ging sie auf seine Empfehlung eines Gasthauses in Hafennähe bereitwillig ein. Er trug ihren Koffer vom geschäftigen Hafen in die enge Gasse, wo sich das Gasthaus befand. Es war noch eine einzelne Kammer frei und ein Bett im großen Schlafraum. Er bestand darauf, dass sie die Kammer nahm. Es war ein derbes Etablissement voller lautstarker Seeleute und Händler, die ihre Pfeifen rauchten und allerlei Geschäfte besprachen. Als sie an diesem Nachmittag zusammen aßen, war sie froh über seine Gesellschaft. Er schlug vor, für den nächsten Morgen zwei Pferde zu mieten. Er würde ihr gern den Weg zu Gookins Haus zeigen.
Sie protestierte. »Ihr habt schon so viel für mich getan.«
»Unsinn. Ihr könnt doch reiten, oder?«
»Ja, auch wenn das letzte Mal schon viele Jahre zurückliegt. Mein Vater war ein großer Pferdefreund, und ich bin mit den Tieren aufgewachsen. Aber es widerstrebt mir, Euch zur Last zu fallen, Mr Foster.«
»Ihr fallt mir nicht zur Last. Ich bin nicht in Eile.«
»Schön«, sagte sie. »Danke.«
Ihr war aufgefallen, dass er sie nie über ihren Mann befragte, obwohl er sicherlich neugierig war. Sie war ihm für sein Taktgefühl dankbar.
Am nächsten Morgen ritten sie nebeneinander die kurze Strecke am Fluss Charles entlang bis Cambridge. Es war Allerheiligenabend, ein herrlich klarer Tag, an dem die letzten goldbraunen Herbstblätter zu Boden fielen und schon ein Hauch von Winter in der Luft lag. Die Pferde riefen Erinnerungen an ihren Vater wach – der Geruch in den Stallungen, seine mahnende Stimme, sich aufrecht zu halten, die kräftigen Arme, die sie aus dem Sattel hoben. Irgendwann landest du noch bei der Kavallerie …
Vor einer Brücke hielt Mr Foster an. Er deutete über den Fluss.
»Das ist das Haus der Gookins, das erste rechts. Ich warte hier auf Euch. Lasst Euch so viel Zeit, wie Ihr braucht.«
Sie führte das Pferd am Zügel über die Brücke und stieg dann wieder auf. Das imposante Gebäude, das den Ort überragte, so viel wusste sie, war das College von Harvard. Cambridge machte einen guten Eindruck auf sie. Es unterschied sich kaum von England, nur war es hier weitläufiger und sauberer und nicht so voller Menschen. Plötzlich war sie von Optimismus erfüllt. Worauf Will mit der Bibelstelle verwiesen hatte, entsprach gänzlich der Wahrheit. In diesem Land lebte man in Sicherheit.
Sie erreichte das Tor von Gookins Grundstück, stieg vom Pferd, machte es am Zaun fest und betrat den Hof. Sie klopfte an die Tür. Eine Frau in den Fünfzigern, die eine mehlbestäubte Schürze trug, öffnete ihr und wischte sich an einem Tuch die Hände ab. Sie fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn und schaute die Besucherin mit zusammengekniffenen Augen an. Sie kam Frances halb blind vor.
»Ja?«
»Ich möchte zu Daniel Gookin«, sagte Frances.
»Er ist im Stall. Ich sage ihm Bescheid. Darf ich fragen, wer Ihr seid?«
»Mein Name ist Frances Stephenson.« Sie schluckte. »Möglicherweise bin ich ihm besser als Frances Goffe bekannt. Ich glaube, er kennt meinen Mann und meinen verstorbenen Vater, Oberst Whalley.«
Die Frau war so überrascht, dass sie einen Augenblick brauchte, sich zu fangen. »Wartet hier.«
Sie ging schnell über den Hof zum Stall und erschien kurz darauf mit einem großen, kräftigen Mann mit stahlgrauem Haar und Bart.
»Stimmt das?«, fragte er.
Sie legte beide Hände auf ihr Herz. »Gott ist mein Zeuge.«
Er schaute an ihr vorbei zur Straße. »Seid Ihr allein?«
»Ja. Außer einem Passagier vom Schiff, der mir den Weg gezeigt hat.«
»Weiß er, wer Ihr wirklich seid?«
»Nein.«
Er ging zum Tor und sah sich nach allen Seiten um.
»Ihr kommt lieber mit ins Haus.«
Sie setzten sich an den Küchentisch, und sie holte den Brief von Will hervor. Gookin las ihn und reichte ihn dann an seine Frau weiter. »Diese Bibelstelle …«
»›Auf dass ihr im Lande sicher wohnen möget. Denn das Land soll euch seine Früchte geben, dass ihr zu essen genug habet und sicher darin wohnet.‹« Sie lächelte. »Das ist bezeichnend für Will, dass er immer die genau passende Stelle findet.«
»Das ist wahr.« Gookin sah zu seiner Frau und dann wieder zu Frances. »Und Ihr seid Euch sicher, dass das seine Handschrift ist?«
»Ja, kein Zweifel. Hier, schaut. Das sind die anderen Briefe, die er mir geschrieben hat.« Sie zeigte ihm das wertvolle Bündel, löste die Schleife und breitete die Briefe auf dem Tisch aus.
Gookin nahm einen und verglich die Schriften. Er wiederholte das mit einigen anderen. »Ich kann keinen Unterschied erkennen.« Er wandte sich wieder an seine Frau. »Allein die Anzahl der Briefe ist Beweis genug. Ich glaube, sie sagt die Wahrheit.«
»Wie viele Kinder habt Ihr, Mrs Goffe?«, fragte Mrs Gookin.
»Fünf, jetzt noch vier. Eines ist gestorben.«
»Und wie heißen sie?«
»Frankie, Nan, Judith, Richard und Betty – sie ist die, die gestorben ist.«
»Und wie heißt Euer Onkel, der in New Haven gelebt hat? Und seine Frau?«
»William und Jane Hooke. Onkel William ist leider auch schon verschieden.«
»Das tut mir leid zu hören. Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Wir hatten harte Jahre. Aber jetzt sind die Kinder erwachsen und haben ihren Platz gefunden. Ich hatte keinen Grund mehr, nicht sofort herzukommen. Ich habe Tausende Meilen hinter mir.« Sie begann zu weinen. »Bitte, Mr Gookin, sagt mir um Gottes willen, wo er ist.«
Gookin blies die Backen auf und fuhr sich mit der Hand durch das graue Haar. »Das ist schwierig, Mrs Goffe. Ich habe Will seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Von ihm gehört habe ich das letzte Mal vor zwei oder drei Jahren. Er könnte tot sein, vielleicht ist er aber auch nur wieder weitergezogen, was weiß ich. Zu der Frage, ob es hier im Lande sicher ist – davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt.« Er sah wieder zu seiner Frau. Sie nickte. »Dass er sich unter dem Schutz eines gewissen Kapitän Bull in Hartford in der Kolonie Connecticut aufhält, ist das Letzte, was ich gehört habe.«
»Ich danke Euch.« Sie senkte erleichtert den Kopf und sammelte die Briefe wieder ein. »Ich werde Euch nicht weiter belästigen.«
Die Gookins standen an der Tür und verabschiedeten sich von ihr. Achtzehn Jahre und drei Monate waren vergangen, seit die Königsmörder hier angekommen waren. Mrs Gookin nahm Frances’ Hand. »Gott sei mit Euch, Mrs Goffe. Ich hoffe, Ihr findet Will, und wenn Ihr ihn findet, grüßt ihn herzlichst von uns. Sagt ihm, es tue uns leid, dass wir nicht mehr für ihn tun konnten.«
*
Nayler wartete auf der anderen Seite der Brücke. Er saß an einen Baum gelehnt im Gras und beobachtete den vorbeiziehenden Verkehr. Er sehnte sich nach einer Pfeife Tabak, musste sich aber damit zufriedengeben, an einem langen Grashalm zu lutschen. Nach außen wirkte er ruhig, aber im Grunde machte er sich Sorgen. Es war schwierig genug gewesen, das Vertrauen von Frances zu gewinnen. Aber das hier war die Zerreißprobe. Gookin war keine einsame Frau, die begierig auf Gesellschaft war. Soweit er sich erinnerte, war Gookin das echte Oberhaupt seiner Gemeinde – erfahren, scharfsinnig und zweifellos immer noch auf der Hut bei allen die Königsmörder betreffenden Fragen. Er hatte Oberst Nicolls’ Blick standgehalten, als der ihn nach der Einnahme von Neu-Amsterdam vor vierzehn Jahren befragt hatte. Es war durchaus möglich, dass er den Aufenthaltsort erst dann preisgeben würde, wenn er sich bei Goffe nach der Echtheit des Briefs erkundigt hatte. Und wenn er herausfand, dass er, Nayler, Frances Goffe zu ihm gelotst hatte – dann war alles verloren.
Er sah sie den Abhang hinunter zur Brücke gehen. Das Ganze hatte nicht lange gedauert. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Er stand auf. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen. Selbst als sie die Brücke überquert hatte und darauf wartete, dass er in den Sattel stieg, war ihre Miene unlesbar. Schweigend ritten sie davon. Sie hing ihren Gedanken nach. Er brannte darauf zu erfahren, was geschehen war, hütete sich aber zu fragen.
Erst als sie wieder in Boston waren, die Pferde zurückgebracht hatten und zu Fuß zum Gasthaus gingen, brach sie schließlich ihr Schweigen.
»Habt Dank für all die Mühen, die Ihr Euch gemacht habt, Mr Foster.«
»Ich hoffe, sie haben zum Erfolg geführt …« Er ließ den Satz als offene Frage unbeendet.
Sie ging nicht darauf ein. »Was habt Ihr jetzt vor, Mr Foster?«, fragte sie.
»Ich suche mir einen Führer, der mich nach Hadley bringt.«
»Schon bald?«
»Morgen oder übermorgen. Das ist eine lange Strecke, und morgen ist der erste November. Es wird schon kälter.«
Sie schwieg wieder. Offensichtlich dachte sie über etwas nach.
»Wie weit sind Hartford und Hadley voneinander entfernt?«
»Nicht weit, glaube ich. Auf jeden Fall ist es die gleiche Richtung.« Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Was ist mit Hartford? Hält sich dort Euer Mann auf?«
»Ich weiß, die Frage ist ziemlich unverschämt, und Ihr habt mir schon so viel geholfen … Aber wäre es möglich, dass wir zusammen reiten?«
»Es wäre mir ein Vergnügen.«
Na also. Hartford.
In jener Nacht lag er im großen Schlafraum, lauschte dem Schnarchen der Männer neben ihm und dachte darüber nach, was ihm bevorstand. Er hatte eine große Zuneigung zu Frances Goffe gefasst. Die Aussicht, eine Woche lang allein mit ihr unterwegs zu sein, war angenehm. Sie würden unter den Sternen schlafen oder Unterschlupf bei freundlich gesinnten Indianern finden. Er würde ihr seine Kenntnisse über Neuengland darlegen. Und als Schlusspunkt würde er ihren Mann töten. Er fragte sich, ob es möglich sein würde, ihren Mann umzubringen, ohne dass sie von ihm als dessen Mörder erführe. Wenn ja, würde sie sich dann nicht – allein und verwitwet in diesem riesigen und fremden Land – um Unterstützung an ihren treuen und einzigen Freund Richard Foster wenden? Das war vorstellbar. Er würde sich bemühen, einen entsprechenden Plan zu schmieden.