KAPITEL 36

A m Sonntag, dem 9. November 1679, lag Will Goffe morgens wie immer in seiner Dachkammer auf dem Bett und starrte hinauf zu den Deckenbalken. Das Haus war leer. Der Kapitän und seine Frau waren zu den Sabbatgebeten ins Versammlungshaus gegangen. Er war nun einundsechzig Jahre alt und verzweifelt. Drei Briefe an Reverend Increase Mather mit der Bitte, die Verbindung zu Frances wiederherzustellen, waren ohne Antwort geblieben. Die Geschichte in Hadley, der Mythos vom Engel, der in Gestalt eines alten Soldaten auf wundersame Weise den Ort gerettet habe, hatte sich in ganz Neuengland verbreitet und all seine Unterstützer verscheucht. Sie schienen zu glauben, er habe sie durch seinen Auftritt in der Öffentlichkeit verraten. Aber was hätte er sonst tun sollen?

Die Bulls waren wirklich angenehme Menschen, aber er merkte, dass selbst sie ihres Gastes, der nie das Haus verließ, langsam überdrüssig wurden. Er lebte ein Leben ohne Freunde und ohne jeden Sinn. Er sehnte sich nach dem Tod, aber sein Körper weigerte sich störrisch, seine weltliche Existenz aufzugeben. Er hätte jede der in der Bibel geschilderten Qualen auf sich genommen. Feuer und Skorpione, Heuschrecken und Nägel – das alles hätte ihm nichts anhaben können. Nur diese endlose Einsamkeit war mehr, als er ertragen konnte.

Alles war vergebens gewesen.

Obwohl Sabbat war, hatte er seine Bibel noch nicht zur Hand genommen. Der abgegriffene Band lag vorwurfsvoll da. In der Hoffnung auf eine frische Inspiration durch Gott, die ihn aus seinem dunklen Tal führen würde, wollte er gerade die Bibel öffnen, da vernahm er von unten ein undeutliches Geräusch.

Er setzte sich auf.

Klopfte da jemand an die Haustür? Die Bulls empfingen nur höchst selten Besuch. Obendrein war es die Zeit am Sabbat, die allein dem Gebet vorbehalten war.

Er stand auf und wollte schon die Kammerluke öffnen, als er durch das heftige Klopfen hindurch eine gedämpfte, aber deutlich zu verstehende Frauenstimme hörte.

»Will? Will? Ich bin es! Frances!«

Er wankte rückwärts. Das war Wahnsinn. Eine quälende Vision. Die abschließende Folter.

Das Klopfen hielt noch eine Weile an, dann hörte es auf. Sie war gegangen.

Er stand in der Stille da und versuchte zu begreifen, was er gerade gehört hatte. Es war unmöglich. Aber wenn sie es doch war? Er stürzte aus der Dachkammer, lief die Stufen hinunter und riss den Türriegel zur Seite. Der Hof lag leer da. Er rannte hinaus auf die Straße.

Eine Frau entfernte sich vom Haus. Sie trug eine Tasche.

»Frances?«

Sie blieb stehen und drehte sich um. Sah ihn an. Ein Fremder.

»Frances?«, sagte er noch einmal.

Aber seine Stimme, der warme Klang. Das war Will, ohne Frage.

Sie lief auf ihn zu, blieb schüchtern ein paar Schritte vor ihm stehen und ließ die Tasche fallen. Sie schauten sich an. Beide versuchten sie, die fremdartige Gestalt, die vor ihnen stand, mit der aus ihren Erinnerungen in Einklang zu bringen. Dann ging er auf sie zu und schloss sie in die Arme.

»Bist du es?«, sagte er. »Bist du wirklich?« Er strich ihr über den Rücken, über die Arme, die Schultern, das weiche Fleisch, die kantigen Knochen. Mit den Handflächen umschloss er sanft ihre mageren Wangen und sah ihr in die Augen. »Bist du wirklich?«, sagte er noch einmal. »Oder ein Phantom, das mich verspotten soll? Bist du es?«

So lange Zeit ohne seine Berührung, ohne seinen Geruch. Beides war gleichzeitig so, wie sie es sich erträumt hatte, und dennoch völlig überraschend. Sie nahm seine Hände und küsste sie. »Ich bin wirklich«, sagte sie. »Gott sei’s gedankt.«

Er legte einen Arm um ihre Taille. Sie existierte, es stimmte, zerbrechlich wie ein Vogel, ja, aber sie war kein Traum. Er ließ sie nicht los, nahm ihre Tasche und ging mit ihr zurück in den Hof und dann ins Haus. »Wie ist das möglich?«

Sie lachte und weinte. Sie legte ihren Arm um seinen Nacken und küsste ihn auf den Mund. »Du hast geschrieben, und ich bin gekommen. Hast du geglaubt, dass ich das ausschlage?«

In seinem rauschhaften Glücksgefühl schienen die Worte von weit her an sein Ohr zu dringen. Er begriff ihre Bedeutung zunächst nicht.

Er hielt Frances noch ein paar Augenblicke fest umarmt, bevor er sich schließlich langsam löste. »Ich habe geschrieben?« Er war verwirrt. Irgendein Geheimnis, das er noch nicht ganz verstand, lag in all diesem Wunder verborgen. »Tatsächlich?«, sagte er. »Ich habe geschrieben?« Vielleicht gab es zwei Wahrheiten: Sie war wirklich, und er war verrückt. Und dann, leicht beunruhigt: »Wie hast du mich gefunden?«

»Über Mr Gookin.«

Ein Augenblick der Erleichterung. Das ergab Sinn. »Ach ja«, sagte er. »Der gute Daniel …« Er küsste sie wieder. Aber dann kehrte der Schatten zurück. Er war in seinen Briefen immer so vorsichtig gewesen, keinerlei Namen preiszugeben. »Aber wie bist du auf ihn gekommen?«

»Das stand doch in deiner Nachricht.«

»Was für eine Nachricht? Ich habe dir nicht geschrieben. Ich hätte gar nicht gewusst, wohin.« Er trat einen Schritt zurück, sah die aufflackernde Sorge in ihren Augen, spürte die Leere in seinem Magen. »Bist du allein gekommen?«

»Nein.« Die plötzliche Anspannung in seiner Stimme jagte ihr Angst ein. »Mr Foster …«

»Mr Foster? Wer ist Mr Foster?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er die Tür und verriegelte sie. »Nach oben!«, sagte er. »Schnell!« Er schob sie vor sich her die Treppe hinauf ins Obergeschoss und dann die Stiege hoch in seine Dachkammer. »War nur der eine Mann bei dir, oder waren noch andere dabei?«

»Nur der eine. Und ein Führer.«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

»Vor ein paar Minuten. Einer Viertelstunde vielleicht. Wir haben uns am Ortsrand getrennt. Er hat gesagt, er reitet gleich weiter nach Hadley.« Sie sah Foster vor sich, wie er ihr den Rücken zuwandte. Für eine derart lange gemeinsame Reise war der Abschied kühl ausgefallen, aber sie hatte nicht gewollt, dass er sah, wohin sie ging, und auch er schien es nicht erwarten zu können weiterzuziehen. Sie fing an zu zittern. »Will …«

»Keine Sorge.« Er öffnete seine Tasche, nahm zwei Pistolen heraus und reichte ihr eine. »Nimm die hier.« Es war eine von Neds alten Waffen, säuberlich gereinigt und wie stets geladen. »Bleib hier. Komm erst heraus, wenn ich dich rufe.« Er legte sein Schwert an. An der Luke drehte er sich noch einmal um. »Ich werde dir ewig dankbar sein, dass du gekommen bist, meine Liebste. Einerlei, was passieren wird.«

Er lief nach unten, ging schnell von Zimmer zu Zimmer, überprüfte jedes Fenster. Der Hof, der Gemüsegarten, die Obstwiese mit den zwischen den Bäumen herumpickenden Hühnern – niemand sonst zu sehen, alles wie immer. Er schob den Riegel der Haustür zurück und öffnete sie, zunächst nur einen Spaltbreit, schaute nach draußen, dann machte er sie weiter auf. Nichts. Er ging auf das Tor zu. Die Pistole hielt er ausgestreckt auf Schulterhöhe. Er drehte sich langsam im Kreis, hellwach, auf jede Bewegung vorbereitet. Er erreichte das Tor und ließ den Blick schweifen – über die Straße, die durch einen Graben von der dahinter liegenden Wiese getrennt war, zum Connecticut hinüber.

Nichts.

»Oberst Goffe.« Eine Männerstimme dicht hinter ihm, schrecklich in ihrer Gelassenheit. »Nein, nicht umdrehen. Um Eurer Frau willen, der ich nichts zuleide tun möchte, lasst die Pistole fallen.«

Er wog seine Möglichkeiten ab, befand alles für ausweglos und ließ die Pistole fallen.

»Niederknien.«

Er kniete sich auf den Boden. O Frances, Frances …

Er hörte den Knall und fiel nach vorn.

*

Was für ein Augenblick des Triumphs für ihn, Richard Nayler! Was für eine Vollendung nach fast zwanzig Jahren Suche, seinen Feind wehrlos vor ihm auf dem Boden knien zu sehen – wie der König, den der Mann jenes grauenhaften Wintermorgens aufs Schafott geliefert hatte. Er hätte diesen Augenblick gern ein wenig länger ausgekostet. Das war seine Absicht gewesen – ein letztes Wort der Häme, etwas Denkwürdiges, was die Geschichte abrundete. Er hatte dieses Bild schon so lange im Kopf. Aber der Schuss musste sich vorzeitig aus seiner Pistole gelöst haben. Kurz war er verblüfft, dann spürte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Sein Mund war voller Flüssigkeit. Er konnte nicht atmen. Er schwankte, drehte sich halb um.

Frances stand in der Tür. Die Pistole in ihrer Hand zielte genau auf ihn. Hass und Liebe verflochten sich in ihm. Seine Beine gaben nach. Er versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur Blut über seine Lippen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er das bleiche Gesicht von Goodman Jones vor sich, wie es unter den Wellen versank, und dann verschluckte die schwarze Tiefe auch ihn.

*

Frances ließ die Pistole ihres Vaters fallen und lief an dem Niedergestreckten vorbei zu Will. Sie befürchtete, sie könnte auch ihn getroffen haben. »Will? Will? Mein geliebter Will.« Er bewegte sich, und sie half ihm auf die Beine. »Gott sei’s gedankt.« Sie schlang die Arme um ihn, spürte sein Herz schlagen. Lange standen sie eng umschlungen da und schwankten leicht im Takt seines Herzschlags. Schließlich flüsterte er ihr ins Ohr, dass sie schleunigst verschwinden müssten.

Sie schleiften die Leiche über die Straße und rollten sie in den Graben. Will stieg hinunter und deckte sie, so gut es ging, mit Laub und Zweigen zu. Wenn sie Glück hatten, würde das für ein paar Tage reichen. Er musste sich beeilen. Sie hatten nicht mehr viel Zeit bis zum Ende des Gottesdiensts.

Alles Geld, das er erübrigen konnte, legte er auf den Küchentisch. Dann packte er in der Dachkammer seine Sachen zusammen, ging in den Stall zu dem kleinen zweirädrigen Wagen, den die Bulls für ihre Besuche bei Nachbarn benutzten, schirrte das Pferd an und führte das Gespann in den Hof. Er warf ihre beider Taschen auf den Wagen, half ihr auf den Bock und öffnete das Tor.

Eine Minute später befanden sie sich auf der Straße und fuhren ins offene Land hinaus. Sie hielt sich an seiner Hüfte fest. Was auch geschah, nichts würde sie mehr trennen.

Er hatte keine Vorstellung, wohin sie fahren sollten oder was sie tun würden oder welche Gefahren vor ihnen lagen.

Aber mit ihrer Liebe und ihrer Bibel, mit der unbedingten Gewissheit, dass die Macht des Herrn und ihre Waffen sie beschützen würden, dass die unermessliche Weite Amerikas sich wie der Tisch des Herrn vor ihnen ausbreitete – wie es im ersten Brief an die Korinther, Kapitel zehn, Vers einundzwanzig geschrieben stand –, vertraute er darauf, dass sie sich eine Zukunft erschaffen würden.