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Da saß er also in diesem Airbus A380 und hielt ein Glas in jener Hand, die ein Glas zu halten verstand.

Man hatte bereits den Zwischenstopp in Dubai hinter sich und befand sich auf dem vierzehn Stunden dauernden Flug nach Sydney, wo der Flieger, wenn alles gut ging, auf einem nach einem australischen Flugpionier benannten internationalen Airport landen würde. Cheng, der Flugängstliche, hatte den Namen des Pioniers gegoogelt und festgestellt, dass dieser bei einem Flug über einem Randmeer des Indischen Ozeans verschollen war. Im Jahre 1935, achtunddreißigjährig. Cheng fand, dass das kein gutes Zeichen war, und fragte sich, wieso ein Flughafen ausgerechnet nach einem verunglückten Piloten benannt wurde. Das kam ihm vor, als locke man das Unglück an. So, als würde man ein öffentliches Schwimmbad nach einem untergegangenen U-Boot taufen.

Und er wusste, wovon er sprach, gehörte es doch seit Kurzem zu seiner wöchentlichen Routine, Wassergymnastik zu betreiben. Weniger in einem sportlichen Sinn – er hielt Sport für eine Form von Krieg – als im Sinne des Vergnügens, in warmem Wasser zu stehen und seinem Körper ein wenig sanfte Bewegung zuteilwerden zu lassen. Weshalb er durchaus froh darum war, dies in einem Schwimmbad tun zu können, welches den Namen Ottakringer Bad trug, so wie das gleichnamige Bier. Und nicht etwa U 3 , benannt nach Seiner Majestät Unterseeboot 3 , das 1915 von einem französischen Zerstörer versenkt worden war. (Stimmt, U3, so hieß immerhin auch eine Wiener U-Bahn-Linie, aber daran dachte Cheng jetzt nicht, sondern nur an sein geliebtes Ottakringer Bad und die Freude, zwischen alten Damen und alten Herren ein wenig herumzuwackeln.)

Etwas, das ihm in den kommenden Tagen sicherlich abgehen würde, obgleich rund um Australien ja recht viel Wasser war. Aber Wasser mit Haien.

 

Cheng saß an seinem Platz wie in einem speziellen Kabinett, das freilich über den Charme einer superluxuriösen Campingtoilette verfügte. Dazu ein toller Service, keine Frage, er hatte schon mehrere Gläser ausgezeichneten Whiskys konsumiert. Das war nämlich das Letzte, was er tun wollte, nüchtern bleiben, während man in einigen Tausend Metern Höhe die Umwelt verschmutzte.

Den Werbespruch »Kommen Sie begeistert an!« hatte er für sich in ein »Steigen Sie besoffen aus!« umgewandelt. Dabei war es üblicherweise nicht seine Art, beim Trinken zu übertreiben. Aber wie gesagt, er verabscheute diese Fortbewegung, er verabscheute die ganze Reiserei. Dass die Erde rund war, hielt er eher für ein Zeichen, dass es gut und richtig war, dort zu bleiben, wo man war, anstatt auf einer runden Fläche praktisch dauernd herunterzukugeln. Dennoch hatten Beruf und Schicksal ihn einige Male von Wien weggebracht und damit auch in eine ungesunde Höhe.

Es war jetzt Nacht, und Frau Wolf, die im »Kabinett« gleich nebenan war, hatte ihren Sitz in ein vollkommen flaches Bett verwandelt. Wie die meisten Passagiere hier. Der ganze Raum war eingehüllt in ein bläuliches Licht. Gleich dem Sirenenlicht der Polizei. Allerdings einer beruhigten, romantischen Polizei, die darauf vertraute, dass endlich auch mal alle Verbrecher in den Schlaf gesunken waren.

Cheng schlief nicht. Das »Ding in seinem Kopf« hatte sich gemeldet. Schmerzlich. Er nannte es ausschließlich »das Ding«, auch in den Gesprächen mit seinem Arzt, der Cheng nach dem Auftreten der ersten Symptome zum MRT geschickt hatte. Dieses merkwürdige Vergessen der eigenen Geschichte, je länger sie zurücklag, aber auch häufige Kopfschmerzen, die sich durch keinen Wetterumschwung und keine Veranlagung erklären ließen, sowie eine bedrängende, weder durch schlechtes Essen noch ein Zuviel von irgendwas begründbare Übelkeit.

Die Schichtbilder der Kernspintomografie aus seinem Schädel hatten es offenbart: bereits zwei Zentimeter groß und ausgestattet mit der unbedingten Wut des Wachstums.

Er selbst hatte sich gewundert, wie wenig es ein Schock gewesen war. Allerdings war es auch nichts, worauf er mit Galgenhumor reagiert hätte. Vielmehr hatte er einfach zur Kenntnis genommen, dass etwas geschehen war, womit er schon immer gerechnet hatte. Und das ihm sehr viel lieber war als eine andere Krebsart, die er befürchtet hatte, nämlich Darmkrebs. Klar, das war ein ziemliches Klischee, dass ein Mensch, der ein Leben lang in Büchern gelesen hatte, sich vor allem aber so gefühlt hatte, als sei er selbst die Figur aus einem Buch, naheliegenderweise einem Detektivroman, nun an etwas erkrankt war, das in seinem Kopf steckte und nicht etwa in seinem Darm oder seiner Lunge. Denn das schien bereits gewiss, dass es sich um einen primären Hirntumor handelte, also nicht etwa eine Absiedelung aus dem Tumor eines anderen Organs, sondern um einen, der aus unerfindlichen Gründen im Gehirn selbst entstanden war und sich mit der Konsequenz eigenständigen Daseins aus den Zellen des Nervensystems gebildet hatte. Fremd, wie von einem anderen Stern, aber doch in diesem Kopf wurzelnd.

Bei einem solchen Bild – und Cheng dachte dieses Bild – war es nun kein Wunder, wenn er von »dem Ding« sprach, durchaus in Anlehnung an den Filmtitel Das Ding aus einer anderen Welt .

Was nun allerdings noch gar nicht geklärt war, war die Frage, ob es sich um ein gutartiges oder ein bösartiges Ding handelte, denn die Symptome konnten das eine wie das andere bewirkt haben. Dessen sichtbare Gestalt auf dem MRT offenbarte nicht seinen Geist: seine relative Frömmigkeit oder absolute Gewalt. (Irritierend war bei alldem gewesen, dass die »Gestalt« dieser Wucherung Cheng für einen Moment an einen winzig kleinen Arm samt Hand erinnert hatte, so als wollte sich sein in einer Gletscherspalte verloren gegangenes Körperteil auf diese Weise zurückmelden. Was nun aber im Widerspruch zur Fremdheit eines Wesens aus einer anderen Welt gestanden hätte und von Cheng als Ausdruck einer krankheitsbedingten Sinnestäuschung verworfen wurde.) Es schien sich jedenfalls um ein Gliom zu handeln, einen Tumor, der sich aus den Stützzellen des Nervengewebes gebildet hatte.

In zwei Wochen hatte Cheng einen Termin für eine feingewebliche Untersuchung des Dings in seinem Kopf, eine Biopsie, die den wahren Charakter des Tumors würde bestimmen können, zumindest, welcher Art von Gliom er zugehörte, worin sein Ziel bestand und in welcher der vier Kategorien zwischen langsam und sehr schnell man ihn einzustufen hatte. Woraus sich wiederum die genaue Behandlungsmethode und ihre Alternativen würden ableiten lassen.

Zwei Wochen, in denen sein Arzt aber ganz sicher davon abgeraten hätte, in ein Flugzeug zu steigen und praktisch vierundzwanzig Stunden lang dem in solchen Höhen üblichen Druck ausgeliefert zu sein. Abgesehen vom übermäßigen Konsum schottischer und irischer Spirituosen (bloß das Angebot eines erstklassigen japanischen Whiskys hatte Cheng abgelehnt). So, als wollte er einen Geist mit einem anderen bekämpfen.

Zwei Wochen auch, in denen Zeit war, Oliver Roschek zu finden. Zwei Wochen und nicht mehr. Aber all das hatte er mit keinem Wort gegenüber Frau Wolf erwähnt.

Und während da also fast alle schliefen oder dösten und das Blaulicht einer besänftigten Polizei den Raum erfüllte, war Cheng von einem heftigen Kopfschmerz überfallen worden. Der anders war als der Kopfschmerz früherer Tage, als dieser ohne jene spezielle Übelkeit ausgekommen war. Was mit dem »Raum fordernden Prozess« in seinem Gehirn zu tun hatte, wie es sein Arzt ausdrückte. Genau so stellte er sich das auch vor, dass der Fremdling in seinem Kopf mehr und mehr Raum beanspruchte, ohne dafür etwas Gutes tun zu wollen, ganz im Gegenteil.

Anstatt nun aber endlich mit dem Whisky aufzuhören, nahm Cheng einen letzten Schluck, den er jedoch weniger trank, als dass er ihn einatmete und über diesen Moment der Atmung versuchte, etwas Druck aus seinem Kopf zu nehmen. Klar, das war mehr ein Bild als eine tatsächliche Handlung, half ihm aber dennoch.

Trotzdem trieb ihn die Übelkeit aus seinem Sitz heraus und brachte ihn dazu, die Toilette aufzusuchen, wo er sich auf den geschlossenen Deckel setzte, sich zurücklehnte und mit offenen Augen den Schwindel ertrug, der über ihn gekommen war wie ein Ballon aus stechenden Farben.

Es ging vorbei. Zuerst der Schwindel, dann der Kopfschmerz. Was blieb, war ein merkwürdiger Augenblick der Versöhnung mit dem, was da in seinem Kopf geschah. Auch wenn es seinen Tod bedeuten könnte, und gewiss keinen kurzen und schmerzlosen. Aber Cheng fand, dass es auf gewisse Weise an der Zeit war, und kurz und schmerzlos wollte er es ohnehin nicht haben. Etwa im Schlaf zu sterben – friedlich, wie man so sagte –, war für ihn eine Horrorvorstellung. Er wollte realisieren, wenn es geschah, er wollte es erleben . Sowenig es ein Spaß sein würde. Das merkte er bereits jetzt zur Genüge, dass das nicht lustig war, die Übelkeit schlimmer noch als der Kopfschmerz, sowie mitunter das Gefühl, als würde sein Körper durch eine sehr dünne Röhre gepresst werden. Außerdem war es so, dass er sich mit dem Tumor in seinem Kopf unterhielt, und das waren nun alles andere als freundliche Gespräche. Sie redeten miteinander wie erbitterte Feinde, die praktisch Stirn an Stirn klebten und sich gegenseitig hässliche Wörter in die Nasenlöcher bliesen. Und doch war es Cheng sehr viel lieber, dass es so vonstattenging und nicht auf eine Weise, die man nicht einmal als überraschend bezeichnen konnte, weil man gar nicht merkte, wenn es geschah.

Er betrachtete sich im Spiegel. Ja, er war etwas blass. Eigentlich mehr weiß als blass. Er klopfte sich mit dem Handrücken mehrmals gegen die Wangen, bevor er sich einen Schwall halbwegs kalten Wassers ins Gesicht spritzte. Sodann mit den Fingerkuppen fest gegen seine Schläfen drückte und endlich die Tablette schluckte, die ihm sein Arzt als erste kleine Hilfe verschrieben hatte. Bevor schließlich das Ergebnis der Biopsie den genauen Weg dieser Auseinandersetzung vorzeichnen würde.

 

Es war nun Cheng, der schlief, als man in Sydney landete, und von Frau Wolf, die die letzten beiden Stunden in Oliver Roscheks Meine Zeit mit Toby gelesen hatte, aus diesem Schlaf geholt wurde. Ein Flughafen, der nur zehn Kilometer entfernt von jenem Opernhaus entfernt lag, das die Macht besaß, praktisch den ganzen Kontinent zu symbolisieren und das auf die Entfernung nicht nur etwas von übereinandergelegten Muschelschalen hatte, sondern auch den Eindruck machte, ein mittelalterlicher Krieg sei zu Ende gegangen und alle Kämpfer hätten ihre dummen Ritterhelme auf einen Haufen geworfen.

Aber erstens war es bereits kurz nach zweiundzwanzig Uhr, und zweitens waren sie nicht gekommen, um sich touristisch zu betätigen, sosehr Frau Wolf Opern und eben auch die Häuser liebte, in denen die Opern aufgeführt wurden. Im Grunde sah sie sich selbst als eine eher opernhafte Figur. Sie mit ihrer ständig sich ändernden Frisur und ständig ändernden Haarfarbe, auch wenn es mitunter nur einzelne Strähnen waren, die in immer wieder neuen Farben erleuchteten, auch mal Gold und Silber oder ein Weiß, das weniger ihr Alter betonte als eine eierschalenhafte Frische. Und auch ihre gewisse Molligkeit, eine kompakte, elegante Molligkeit, tendierte mehr zur Oper als etwa zur Volks- oder Schlagermusik oder zum Pop. Und nie hätte sie ein Dirndl getragen, so wenig wie einen Hosenanzug. Dabei war sie nicht unmodern (es gibt ja auch moderne Opern), aber sie hielt Hosen einfach für einen Ausdruck von Unglück. Und sagte sich: Sollen doch die Männer unglücklich sein.

Jedenfalls trug sie ein leichtes, geblümtes Jerseykleid, als man nun das Flugzeug verließ und sich auf dem Weg zum Gepäck machte und danach im nahe gelegenen Flughafenhotel eincheckte. Sie gingen noch kurz in die Bar, blieben aber nicht lange, wollten sehen, ob sie trotz ihrer durcheinandergeratenen Zeit noch etwas Schlaf finden würden, immerhin wollte man am nächsten Morgen zeitig aufbrechen.