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Und so war es dann auch. Nach dem frühen Frühstück holten die beiden ihren Mietwagen ab. Ein Auto, das natürlich einen Markennamen besaß und doch eine irgendwie namenlose Persönlichkeit darstellte. Ein Auto an sich. Ein ungemein müde wirkendes Auto, wie jemand, der vom vielen Herumgereichtwerden schon ganz dröge ist. Freilich vollgetankt und betriebsfähig. Aber halt müde an diesem sommerlich warmen Morgen, an dem das Thermometer bereits zwanzig Grad zeigte.

Es war notwendigerweise Frau Wolf, die das Steuer bediente, welches sich auf der ungewohnten rechten Seite befand, und folglich die Fahrspur auf der ungewohnten linken Seite. Frau Wolfs Fahrstil – hätte man ihn auf den Einstellungen einer Waschmaschine eingeben müssen – entsprach am ehesten dem Waschgang Strapazierfähige Textilien bei 90 Grad, 1400 U/min und Speed-Einstellung . Man könnte auch sagen, sie fuhr wie die Sau. Dabei war sie eine sehr gute, selbst im Linksverkehr versierte Autofahrerin, die noch so fremde und müde Autos zu beherrschen wusste. Aber sie war jemand, der mit hohem Tempo auch an den unübersichtlichsten Stellen zu überholen pflegte, hier halt rechts, und zwar immer nur mit einer Hand am Steuer, weil das gemütlicher war und zudem besser aussah. Dabei schien sie sich nicht nur auf ihren Instinkt, sondern gleichfalls auf ein göttliches Privileg zu verlassen, nämlich ganz sicher nicht im Autoverkehr sterben zu müssen (als wäre sie ein griechischer oder türkischer Busfahrer). Cheng war sich da nicht so sicher, doch er war diese Fahrweise gewohnt und ertrug sie mit der Gelassenheit eines Menschen, der sowieso das Gefühl hatte, erstens bereits mehrmals gestorben zu sein und sich zweitens sein Ende ohnehin nicht aussuchen zu können.

Im Tempo eines 90-Grad-Waschgangs, mitunter durchaus über dem australischen Limit von hundertdreißig Stundenkilometern, steuerte sie den Wagen entlang der Küste, bei blauem Himmel überm blauen Meer, um auf Höhe von Gerringong ins Landesinnere abzubiegen, auf den Princes Highway und auf diesem in das Kangaroo Valley. Ein Tal entlang des gleichnamigen Flusses, ein Tal, das zur sogenannten Shoalhaven-Region innerhalb des Bundesstaates New South Wales gehörte. Und in diesem Kängurutal inmitten gemäßigten Regenwalds befand sich jenes mittelgroße Viersternehotel, in dem Oliver Roschek abgestiegen war und in dem angeblich noch immer sein Koffer stand.

Das Hotel im Kolonialstil besaß den Charme einer Hobbyarbeit aus Zündhölzern, wobei einige der Zündhölzer schon ein wenig abgebrannt wirkten. Vor dem Hotel parkte Frau Wolf das nun mit gutem Recht müde Auto, und sie und Cheng begaben sich zur Rezeption.

Cheng hatte sie beide telefonisch als das vorangekündigt, was sie waren: aus Österreich kommende Privatermittler auf der Suche nach einem verschwundenen Gast dieses Hotels.

Sie wurden nun nicht nur vom Inhaberehepaar des zweigeschossigen Hotels empfangen, sondern auch vom Polizisten vor Ort, einem Senior Constable in einem hellblauen, hübsch beflaggten, kurzärmeligen Hemd. Ein Mann, der sich ganz offensichtlich unter zwei österreichischen Privatermittlern etwas anderes vorgestellt hatte als Frau Wolf und Cheng. Zudem schien er den ganzen Aufwand nicht zu verstehen.

Er sprach dieses australische Englisch, das etwas von einem glücklichen Schiffbruch an sich hatte, ein Schiffbruch, den die Sprache immerhin überlebt hatte, im Unterschied zum amerikanischen Englisch, bei dem die Sprache auf den Grund des Meeres gesunken war.

Der Senior Constable äußerte die Vermutung, dass sich Oliver Roschek (er sprach es Roschiik aus) längst an einem anderen Ort befinde, sich möglicherweise im Zuge eines privaten oder wirtschaftlichen Dilemmas abgesetzt habe, aber mitnichten Opfer irgendeines Verbrechens hier im Tal oder in der Gegend geworden sei. Ohnehin der friedlichste Teil der Welt.

Frau Wolf antwortete ihm in einem überraschend original klingenden Oxford Englisch, besser gesagt, Queen’s English. Welches sich anhörte, als zeichne sie mit ihrer spitzen Zunge eine kleine Landschaftsskizze in die Oberfläche eines Marmeladenbrots, natürlich Orangenmarmelade. Während Chengs Englisch mehr so klang, als hätte er in der Schule Wichtigeres zu tun gehabt, als sich euphorisch Fremdsprachen zu widmen.

Jedenfalls erklärte Frau Wolf, dass man gekommen sei, um eine erste Spur aufzunehmen, wohin auch immer und warum auch immer sich Oliver Roschek »abgesetzt« habe. Und nicht zuletzt, um im Auftrag seiner Ehefrau den Inhalt seines Koffers zu untersuchen.

Der Constable versicherte, man hätte alles getan … dann führte er Frau Wolf und Cheng in einen kleinen Nebenraum, wo der mittelgroße, silberne Metallkoffer stand, der noch im Stil alter Weltenbummler über eine Menge Aufkleber verfügte, die Herrn Roscheks zoologische Reiselust verrieten. Der Koffer war mit einem polizeilichen Siegel versehen, das der Constable löste. Dabei erklärte er, dass Beamte aus Sydney den Inhalt geleert, untersucht, dokumentiert, ihn aber in der gleichen Weise wieder eingeräumt hätten. Allein die vollkommene Harmlosigkeit der Gegenstände feststellend.

Er legte den Koffer auf eine Tischfläche, öffnete ihn und hob den oberen Teil an, um das Innere zu präsentieren.

Der Koffer eines Mannes mittleren Alters. Weder das Chaos eines jüngeren Reisenden noch die Ordnung jener älteren Menschen, die immer so einpacken, als befänden sie sich auf einer Fahrt ins Jenseits. Es war ein gewisser Schwung in dieser Einschlichtung, von der nicht so genau zu sagen war, ob sie wirklich Oliver Roscheks Original entsprach oder nicht doch eine Variation der Beamten aus Sydney darstellte.

Eine locker gesetzte Verteilung von Hemden und Unterhosen und Socken, Medikamenten, einem durchsichtigen Kosmetiketui, einem zoologischen Journal, alles so, als wollte der Inhalt den Titel eines deutschen Bestsellers zitieren: Ich bin dann mal weg .

Frau Wolf hingegen hob mit der Akkuratesse einer Ich-bin-dann-mal-genau-Dame Stück für Stück aus dem Koffer und platzierte die Teile auf dem freien Abschnitt der Tischfläche. Dabei förderte sie aber nur den üblichen Inhalt eines Reisekoffers zutage, nichts Auffälliges wie eine Pistole oder wenigstens eine Form von Datenspeicher, nicht einmal ein Smartphone (natürlich hatte Oliver Roschek es bei seinem Verschwinden bei sich gehabt, jeder Mensch, der auf dieser Welt verschwand, hatte eines bei sich. Doch ein Empfang des Geräts oder auch nur eine Ortung hatten sich als unmöglich erwiesen, weshalb die Behörde – nicht der kleine Ortspolizist, sondern die Beamten in Sydney – von einer mutwilligen Zerstörung des Geräts ausgegangen waren und diese Zerstörung eher dem Verschwundenen selbst anlasteten als einer unbekannten Person.).

Nachdem Frau Wolf beinahe alle Utensilien fein säuberlich aufgelegt hatte und Cheng bat, diese zu fotografieren – er tat dies mit einer kleinen, leichten, einhändig zu bedienenden Kompaktkamera –, befand sich nur noch ein quadratischer Prospekt auf dem Grund des Koffers. Wahrhaftig der Grund, kein doppelter Boden, wie der Constable versicherte.

Der Prospekt präsentierte auf seinem Deckblatt das Foto eines modernen, von Bäumen umgebenen, zweiteiligen Gebäudes in der Abendstimmung: viel Glas, voll erleuchtet, mit einer weiten, überdachten, mit Spots versehenen Terrasse – wie frisch aus dem Ei geschlüpft, dem Bauei. Ganz anders als das etwas abgelebte Haus, in dem man sich gerade aufhielt. Über dem Foto stand in stylishen Lettern Suzy’s Table .

Frau Wolf nahm den Prospekt und blätterte durch die wenigen Seiten, auf denen nicht nur die modernst eingerichteten, hohen, hellen Zimmer zu sehen waren, dazu das Mobiliar, das Grundstück, ein edles Glas Wein – a glass of Shiraz –, das man auf der großzügig dimensionierten Terrasse mit Blick auf den Garten genießen konnte, sondern auch eine Menge handschriftlicher Notizen und Zeichnungen, die jemand mit einem Kugelschreiber auf diese Hochglanzseiten gekritzelt hatte. Die Texte auf Deutsch.

Es handelte sich auf den ersten Blick um zoologische Aufzeichnungen, wobei das Wort »Toby« mehrmals auftauchte, dazu auch Skizzen, die einen Nacktnasenwombat zeigten, mal recht genau, mal ziemlich wild, als gelte es, eine rasche Bewegung darzustellen. Wobei diese bärenartigen, kurzbeinigen, kleinohrigen, gemütlich anmutenden Tiere in der Tat auch hohe Geschwindigkeiten erreichen konnten.

Frau Wolf fragte den Constable, was es mit Suzy’s Table auf sich habe.

Nun, das sei der Name eines Gästehauses, das sich auf der anderen Seite des Flusses befinde. Erbaut nach den Entwürfen eines bekannten Architekten. Das Haus habe wohl sogar einen Preis gewonnen.

Wieso aber table?

Ach ja, sagte er, das Gebäude sei einer ungarisch-australischen Tischtennisspielerin aus den 1950er-Jahren gewidmet, die bis in die Siebzigerjahre aktiv gewesen war. Und tatsächlich stehe dort ein besonderer Tischtennistisch.

Jetzt bemerkte Frau Wolf auf einem der Prospektfotos jenen Pingpongtisch, der in einem der hohen Räume stand, nicht in einem Extraraum, sondern in einer Verlängerung des Wohnzimmers. Der mit Sicherheit schönste Tischtennistisch, den sie je gesehen hatte. Auf schlanken, schräg gestellten Metallbeinen montiert, helles Holz an den Rändern der Platte, eine glänzende Mahagonischicht auf der Spielfläche, custom timber ping pong table , wie es hieß. Man konnte sich vorstellen, wie ein Ball, der über diese glatte Fläche sprang, sich wie in einem Spiegel betrachten und sich an sich selbst begeistern konnte.

Die Frage war aber natürlich, was dieser mit zoologischen Studien vollgekritzelte Prospekt in Roscheks Koffer verloren hatte. Besser gesagt, ob es von Bedeutung war, dass er seine Notizen ausgerechnet auf diesen Seiten eines Katalogs vorgenommen hatte.

Das war dann ein Punkt, den der Besitzer des Hotels, in dem Frau Wolf und Cheng zumindest für eine erste Nacht unterkommen würden, klären konnte. Denn es erwies sich, dass Roschek ursprünglich genau in diesem Haus, dessen Konstruktion einer zuerst ungarischen, nach ihrer Flucht 1957 aus Ungarn dann australischen Tischtennismeisterin gewidmet worden war, hatte wohnen wollen. Weil sich nämlich das Gebäude – und das war nun aus Roscheks Aufzeichnungen heraus auch ablesbar – in großer Nähe zu Tobys Wohnhöhle befand. Allerdings war es vor gut acht Jahren, als Roschek den jungen Wombat zu seinem Studienobjekt gemacht hatte, noch gar nicht erbaut gewesen.

Das Haus, das von bis zu acht Personen angemietet werden konnte, sei aber, so der Hotelier, schon vergeben gewesen, weshalb Herr Roschek schließlich hier in ihrem Hotel untergekommen war.

Obwohl nun die beiden Orte in direkter Linie recht nahe beieinanderlagen, trennten sie der Wald und der Fluss, sodass man mit dem Wagen einen großen Bogen über die Hampden Bridge machen musste. Eine Fahrt, die knapp zwanzig Minuten dauerte.

Frau Wolf warf Cheng einen wissenden Blick zu. Keine Frage, sie würden sich dieses Haus, in dem »Suzys Tisch« stand, genauer ansehen müssen. Es war vorerst das Einzige, was so etwas wie eine Spur darstellte. Wenn man nicht meinte, Roschek hätte ohne guten Grund diesen Prospekt für seine Aufzeichnungen verwendet. Etwa, weil das einfach besser aussah als bloßes Papier und weil man es später einmal dem Naturhistorischen Museum vermachen wollte. Nein, dieses Haus war ein guter Ansatzpunkt, um die Sache weiterzuverfolgen.

Sie wolle gerne, erklärte Frau Wolf, bei dieser Adresse vorbeischauen.

Die Hotelière meinte, man könne natürlich die idyllische Strecke hinüber zu Suzy’s Table ebenso für eine Radtour nutzen. Eine Stunde etwa mit normalen Rädern und entsprechend schneller mit den E-Bikes, die das Hotel seinen Gästen kostenfrei zur Verfügung stelle.

Wobei die Hotelfrau in der Folge ihrer Empfehlung einen peinlich berührten Blick auf Chengs fehlenden Arm warf, als sei ihr dieser erst jetzt aufgefallen und als realisiere sie die Zumutung, einhändiges Radfahren vorzuschlagen, und sei’s auch in elektrischer Form.

Es war jedoch Frau Wolf, die rasch klarmachte, dass eine Fahrt mit dem Rad nicht infrage komme.

Woraufhin erstaunlicherweise der Senior Constable versuchte, Frau Wolf zu überreden, das Rad zu nehmen. Anscheinend verstand er sich auch ein wenig als Tourismusmanager des Orts und beschrieb die Schönheiten, die auf diesem Weg lagen und an denen man mit einem Auto viel zu rasch vorbeifuhr.

Frau Wolf antwortete, sie sei seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf keinem Rad mehr gesessen. Und zwar nicht aus Unsportlichkeit oder Ungeschick. Doch damals, als Sechzehnjährige, wäre sie beim Radfahren mit einem Vogel zusammengestoßen.

»Really?«

»Yes, with a grandala.«

Das wollte der Polizist, der hier am Ort natürlich auch für den Verkehr zuständig war, nun genau wissen.

Frau Wolf erzählte also, dass es sich bei einem Grandala um einen Vogel aus der Familie der Drosseln handle, der eigentlich im Himalaja und in manchen Gegenden Chinas heimisch sei. Aber gewiss nicht in dem slowakischen Dorf, in dem sie ihre Kindheit und Jugend hatte zubringen müssen. Doch aus irgendeinem komplizierten, vielleicht auch recht einfachen Grund heraus hatte dieser Vogel – ein männliches Exemplar mit dem unverkennbar ultramarinblauen Gefieder – im Tiefflug ihren Radweg gekreuzt. Sie war von der unglaublichen Farbe des Vogels an diesem grauen slowakischen Tag so verblüfft und erschrocken gewesen – der vorbeischießende leuchtend blaue Fleck –, dass sie auf dem stark abschüssigen Weg nicht mehr hatte bremsen können und in die Flugkurve des vielleicht zwanzig Zentimeter langen, traumhaft schönen Vogels geraten war. Sie war vom Rad gestürzt und hatte das Tier mit sich mitgerissen. Ihr zerschundenes Knie, ihre blutende Hand waren nicht das Problem gewesen, sondern dass der Vogel es nicht überlebt hatte. Der da auf der Straße lag, leblos, vom Himalaja kommend, nur um mitten in der slowakischen Provinz von einer jugendlichen Fahrradfahrerin abgeschossen zu werden, allein noch bewegt vom Wind, der sein Gefieder in eine posthume Schwingung versetzte. Ihr Gedanke war damals gewesen: Ich habe gerade das Schönste umgebracht, was diese Welt je hervorgebracht hat.

»That’s why I never got on a bike again«, erklärte Frau Wolf, und man sah ihr an, wie ernst sie das meinte.

Jetzt waren alle ein wenig peinlich berührt.

Der Polizist sagte: »I fully understand.«

Das war zwar eine Lüge, aber er sagte es mit einer guten Stimme.

 

Nachdem der Koffer wieder eingepackt war und vom Senior Constable an Frau Wolf – als legitimierte Vertreterin der Interessen von Frau Roschek – übergeben und im Mietwagen der beiden Detektive untergebracht worden war, verabschiedete sich der Polizist. Nicht, ohne nochmals auf einige der touristischen Attraktionen der Gegend hinzuweisen, wobei er auch die Wombats erwähnte. Er schien gar keine Ahnung davon zu haben, dass Oliver Roschek genau aus diesem Grund, diesem Wombatgrund, nach Australien gekommen war. Zu sehr hatte sich auch beim Constable die Ansicht versteinert, Oliver Roschek wäre allein darum auf die andere Seite der Erdkugel gereist, um sein Verschwinden vorzutäuschen und seine Identität zu wechseln.

Frau Wolf und Cheng brachten nun endlich ihr Gepäck auf ihre Zimmer und trafen sich in der Folge zu einem Mittagessen auf der Terrasse. Das Thermometer hatte längst die dreißig passiert. Cheng war aus seinem Jackett geschlüpft, so ungerne er diese Hülle verließ. Er war jetzt ohne Krawatte, der obere Knopf seines Hemds geöffnet, ein Hemd, auf dessen leinwandweißem Grund sich graue Flecken von Schweiß gebildet hatten. Cheng dachte bitter, etwas von einem schwarz-weißen Geparden an sich zu haben, während draußen vor dem Haus Kängurus vorbeizogen, so wie anderswo ein paar Kühe oder Hühner.

Frau Wolf schien die Hitze rein gar nicht zu stören, zudem aß sie mit einigem Appetit ein Steak aus dem Fleisch der gerade vorbeispringenden Tiere. Cheng hingegen begnügte sich mit einem kleinen Salat. Hunger war auch so etwas, was in letzter Zeit – und noch bevor das Ding in seinem Kopf zu wachsen begonnen hatte – zurückgegangen war. Für das Stück Fleisch auf Frau Wolfs Teller hatte er nur einen abschätzigen Blick übrig. Dabei war er kein Vegetarier, aber eben auch kein Fleischesser mehr. Er war vor allem nicht hungrig. So war er jemand, der sich nach und nach von der menschlichen Lust, etwas zwischen den Zähnen zu haben, verabschiedete. Dass er dabei dünner wurde, machte ihn keineswegs hässlich.

Nach dem Essen ging ein jeder auf sein Zimmer, um sich kurz auszuruhen. Danach wollte man hinüber zu Suzy’s Table fahren, ohne noch sagen zu können, ob das Haus gerade bewohnt war. Oder ob sich möglicherweise noch immer jene Leute dort aufhielten, deretwegen es Roschek nicht möglich gewesen war, das Anwesen für sich und seine wissenschaftlichen Zwecke anzumieten. Aber das würde sich schon noch herausstellen. Wie auch, ob in der Nähe dieses Hauses fortgesetzt ein Wombat namens Toby lebte.

Cheng begab sich kurz unter die Dusche, in der Hoffnung auf kaltes Wasser, das sich dann als lauwarm herausstellte, ihn aber dennoch erfrischte. Er holte einen fadenscheinigen Waschlappen von der Duschstange, der etwas von einem toten Tuch an sich hatte. Indem er dieses tote Tuch aber über seinen Körper führte, reibend, streifend, gleitend, war es beiden gegeben – ihm wie dem Lappen –, sich zu regenerieren.

Leider aber hatte sich das Ding in seinem Kopf wieder gemeldet, wie es da viel Raum für sich in Anspruch nahm, auf diese breitbeinige Art. Hoppla, jetzt komm ich! , so heißt es doch in einem alten Lied. Einen Happen möcht ich schnappen von der schönen Welt. Und das Leben mal erleben, so wie es mir gefällt .

Fick dich!, dachte sich Cheng, leb woanders!

Dann band er sich ein Handtuch um die Lenden und legte sich halb nackt auf ein sehr weiches Bett, in dem er versank und trotz des Schmerzes in seinem Schädel mit der Plötzlichkeit einer Ohnmacht in den Schlaf fiel.

Wo auch immer er sich jetzt befand, hier war niemand, der ihm den Platz streitig machte.

 

Eine halbe Stunde später erwachte er. Hielt allerdings seine Augen geschlossen. Beziehungsweise verweigerten sich seine Augen der Rückkehr.

Und so konnte Cheng nicht sehen, was da an seiner Seite war, das sich gegen seine linke Flanke drückte, also genau dort, wo sein Arm fehlte und die östliche Sphäre seines Rumpfs wie eine offene Bucht dalag.

Er musste an seinen alten Hund denken, der den Namen Lauscher getragen hatte. Ein Hund, der schon vor vielen Jahren gestorben war. Ein kleiner, kompakter Kerl mit kurzen Beinen und langen Ohren, der gleichwohl taub gewesen war oder einfach nicht gerne zugehört hatte. Eine Mischung aus höchstwahrscheinlich Dackel und Schäferhund, wenn nicht eine Mischung aus zwei Mischungen.

Cheng konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie er zu diesem Hund gekommen war, er, der sich eher als Katzenmensch fühlte. Wahrscheinlich war ihm dieses Tier praktisch zugeflogen , genauer gesagt, in ihn, Cheng, hineingestürzt. Das war ja mit den meisten Beziehungen so – seien wir ehrlich –, dass sie den Charakter eines Unfalls besitzen, einem Zusammenstoß gleichkommen. Von keinem, nicht einmal den Draufgängern und den Liebeshungrigen, gänzlich beabsichtigt. Und man gewissermaßen durch den Unfall ineinander verkeilt wird und in der Folge das Beste daraus macht und zusammenbleibt, bevor einen dann ein anderer Unfall ereilt oder erst der Tod einen scheidet.

Im Falle Lauschers war es der Tod gewesen, der ihn und sein Herrchen Cheng geschieden hatte (auch wenn Cheng sich dunkel erinnerte, gar nicht dabei gewesen zu sein, als sein Hund starb, und dass dieser in der Obhut eines Wirtshauses sanft entschlafen war). Allerdings war es so, dass einige Leute, die Cheng kannten oder ihm in den letzten Jahren auch nur kurz begegnet waren, behaupteten, so etwas wie einen Schimmer, einen Schatten, einen leuchtenden Umriss neben Chengs Beinen wahrgenommen zu haben: den Geist seines Hundes.

Was Cheng regelmäßig als Schwachsinn abtat. Er selbst hatte Lauschers Erscheinung weder je gesehen noch auch nur gespürt und argumentierte zudem, dass es zu diesem mürrischen Hund, dem sein Leben lang sogar das Bellen zuwider gewesen war, überhaupt nicht passen würde, sich die Mühe anzutun, in spukhafter Weise nochmals ins Leben der Lebenden zurückzukehren.

In diesem Augenblick jedoch, da Cheng den Druck von etwas lebendig Schwerem und Befelltem an seiner Seite spürte, musste er doch an seinen alten Köter denken. Denn es war früher ja schon mal vorgekommen, dass Lauscher mit einem Mindestmaß von athletischer Anstrengung aufs Bett gesprungen kam, um es sich allein oder eben neben seinem Herrchen bequem zu machen. Sowenig Cheng das geschätzt hatte. Auch, weil Lauscher einen Geruch verströmt hatte wie … nicht wie tausendjährige Eier, aber doch irgendeine Tausendjährigkeit transportierend, zum Beispiel die von feuchter Wäsche, die einfach nicht trocken wird, weil der Dunst der Küche ständig herüberweht.

Nicht, dass Cheng jetzt etwas roch. Aber er spürte das kleinkörperlich-tierische Gewicht an seiner Seite, und das verwirrte ihn. War es wirklich möglich, dass sich sein Hund auf diese Weise in Erinnerung rief?

Cheng öffnete die Augen und blickte in das Gesicht … nun, es war eine Katze. Ein ziemlich großer, aber ziemlich alter und ausgemergelter Kater mit einem koalaartig grauen Fell und einem Blick aus grünen Augen, der in etwa sagte: »Na und?«

Aus diesem gelangweilten Blick heraus erhob sich das Tier schwerfällig, dehnte sich und öffnete im Dehnen – nun doch noch einen epochalen Geruch verströmend – sein Maul zu einem langen Gähnen, sodass ein paar letzte, sehr gelbe Zähne zum Vorschein kamen. Um es märchenhaft auszudrücken: Keine Maus hätte sich beim Anblick dieser Zähne in die Hose gemacht.

Aber die Art und Weise, wie sich dieser Kater nun von Chengs armloser Flanke wegbewegte, vom Bett mehr herunterrutschte als sprang, um dann in Zeitlupe und leicht wackelig durch die offene Balkontüre auf die Veranda zu treten, erinnerte Cheng schon sehr stark an die geriatrischen Bewegungen seines vor langer Zeit verschiedenen Hundes.

Cheng erhob sich aus dem Bett, trat an die Balkontüre, blickte hinaus, konnte aber nur noch erkennen, wie der Kater auf der das gesamte Gebäude umspannenden Veranda um die Ecke bog. Sein kurzer Schwanz – auch dieser erinnerte an den Hund Lauscher – war das Letzte, was Cheng zu sehen bekam.

Cheng schüttelte den Kopf, schüttelte auch den Schlaf aus seinen Augen, und zog sich an. Er wählte eine lange, dunkelblaue Hose – niemals hätte er kurze Hosen getragen, selbst auf der heißen Venus nicht –, holte nun aber ein ebenso dunkelblaues Polohemd aus der Tasche, welches der Hitze draußen etwas mehr entsprechen würde. Allerdings war auch dieses langärmelig. Kurzärmelig kam nicht infrage. Dabei war es mitnichten so, dass Cheng sich für den Anblick seines linken Armstumpfs genierte. Dennoch gehörte es zu seinem unbedingten Ritual, an dieser Stelle den Ärmel eines Hemds oder Jacketts hochzuziehen und zu fixieren. Wie man einen Vorhang anhebt. Es war eine schöne, exquisite Geste und schuf genau dort einen magischen Raum, wo nun mal ein Arm fehlte. Wie eine kleine unsichtbare Bühne vor der Szenerie der dahinterliegenden Welt.

Dazu setzte er sich eine Schirmmütze auf, deren Blau nur geringfügig vom Rest abwich.

So sah Cheng aus, als sei er gerade auf dem Weg zu einem Cricketspiel. Obgleich er freilich allein als Werfer, schwerlich als Schlagmann würde fungieren können, sowenig das die Regeln vorsahen. Doch es passte zu ihm, auch ohne den Umstand der Einarmigkeit. Er war ein Werfer, kein Schläger.

Zur vereinbarten Zeit stieg er zu Frau Wolf in den namenlos traurigen Wagen, und sie fuhren los. Fuhren die Strecke, die bogenförmig über den Fluss und hinüber zu einem Haus führte, das einer famosen Pingpongspielerin, der Königin des australischen Tischtennis, gewidmet war. Die übrigens hochbetagt noch immer lebte, wie Frau Wolf erklärte, die wohl weniger geschlafen und dafür mehr recherchiert hatte.

Und eben nicht nur über die Langlebigkeit einer Tischtennisspielerin, die nur noch zwei Jahre benötigen würde, um die schöne Zahl Neunzig zu erreichen. Vielmehr hatte Frau Wolf mithilfe des Hotelierehepaars herausgefunden, dass die Personen, die sich in Suzy’s Table eingemietet hatten, bereits die dritte Woche dort ihren Urlaub verbrachten. Zwei Ehepaare aus Deutschland, die mit großen Geländewagen gekommen waren, mit denen sie oft Tagesreisen unternahmen, sicherlich auch hinüber zur Küste, da sie über Surfbretter und Taucherausrüstung verfügten. Oder mit ihren Rädern zu den Fitzroy Falls fuhren. Während man sie vor Ort ein paarmal in einem der Restaurants, die an der Hauptstraße lagen, gesehen hatte. Aber letztlich konnte auch das Büro, welches die Vermietung von Suzy’s Table organisierte, nicht sagen, aus welchem Grund diese Leute gerade hierher gereist waren. Möglicherweise fanden sie das Haus einfach geil, und das war es ja auch.

Urlauber halt.

Und diese Urlauber, ein Ehepaar namens Jensen und eines namens Büchner, würden Cheng und Frau Wolf nun aufsuchen. Umso mehr, als sicher war, dass diese Leute bereits in diesem Haus gewesen waren, als Oliver Roschek es aufgrund der Nähe zu einem bestimmten Wombatbau hatte mieten wollen. Ein Umstand, den die hiesige Polizei offensichtlich wenig gekümmert hatte, wenn er ihr überhaupt aufgefallen war.