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Natürlich hatte Frau Wolf sofort versucht, ihren »BND -Mann« zu erreichen: Jan Seldowitsch. Endlich war sein Name gefallen. Seldowitsch, über dessen Geheimnummer Frau Wolf verfügte. Aber offensichtlich war der BND -Mann der Anschauung, auf diese Anrufe nicht mehr reagieren zu müssen, da man ja nun quitt war und er seine Schuldigkeit getan hatte.

Er stellte sich tot.

Also schickte ihm Frau Wolf noch vom Flughafen in Sydney, wo sie mit Cheng in einem Café saß und auf den Abflug wartete, eine Nachricht an seine private Mailadresse, in der sie ihm darlegte, dass es besser sei, abzuheben. Sie hätte eine bedeutende Information zu einem demnächst stattfindenden Attentat. Würde ihm die Details aber doch lieber über das »gecircelte« Telefon oder eine »gecircelte« Videoverbindung mitteilen.

»Nie je veľa času«, schloss sie ihr Schreiben. Viel Zeit ist nicht .

 

Klar, das war jetzt nicht die engste Economy Class auf der Welt, in diesem dubaischen A380, in dem Cheng und Frau Wolf die allerletzten Plätze hatten buchen können. Doch ein böses Schicksal wollte es, dass sie nicht direkt nebeneinandersaßen, sondern in ihrer Dreierreihe bereits ein wahrlich dicker Mann den mittleren Platz eingenommen hatte. Eigentlich war er viel zu voluminös für die Economy Class, ließ sich aber nicht dazu bewegen, entweder ans Fenster oder an den Gang zu wechseln, um Frau Wolf und Cheng die Möglichkeit zu geben, nebeneinander zu sitzen. In einem Englisch, das etwas von diesen Samstagen in einer Kleingartenkolonie hatte, wo alle um dieselbe Zeit beginnen, ihre Hecken zu schneiden, in einem solchen Englisch erklärte er, mit gutem Grund einen mittleren Platz reserviert zu haben. Er nannte den Grund nicht, sondern begann zu husten, wie sich das die einstigen Maskenverweigerer angewöhnt hatten, wenn sie ihre Mitmenschen zu brüskieren versuchten.

Frau Wolf sagte etwas auf Slowakisch, wahrscheinlich in ihrem ostslowakischen Dialekt, was sich wiederum so anhörte, als werde eine kleine Bombe in ebenjener von Heckenscherenarbeit dominierten Kleingartensiedlung gezündet. Und überließ es im Übrigen Cheng, sich an dem unhöflichen Fettsack vorbeizuquetschen, um auf dem Fenstersitz Platz zu nehmen.

Und dann die Armlehne! Natürlich hatte der dicke Mann die Armlehne rechts und links von sich in der penetrantesten Form besetzt und seine Ellenbogen über die Grenzen dieser Lehnen gestreckt.

Es war Frau Wolf, die ihn nun bat, sich bei seiner Ausbreitung ein wenig zurückzunehmen. Er schnauzte sie nur an. Sie beugte sich zu ihm, führte ihren Mund nahe an sein Ohr, unterdrückte den unangenehmen Geruch, den dieser Mann verströmte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sehr ausführlich, fast eine Minute lang, wobei es die Raumverhältnisse mit sich brachten, dass der dicke Mann dem, was Frau Wolf sagte, einfach nicht entkommen konnte, so eng, wie es war.

Das, was sie sagte, war leider nur für den dicken Mann selbst hörbar, aber es besaß eine unheimliche Wirkung. Der Kerl zog mit einem Mal seinen fleischigen Arm von jener Sitzlehne, die ihn und Frau Wolf trennte, und vollzog insgesamt eine Bewegung weg von seiner Sitznachbarin. Was freilich dazu führte, dass er noch näher zu Cheng hindrängte. Cheng, der ja äußerst schlank, richtiggehend dünn war und jetzt im Alter noch schlanker und dünner geworden war, geradezu gepardenhaft, ohne aber in die nervöse Schnelligkeit dieser Großkatzen zu verfallen. Und der nun vor dem dicken Kerl zurückwich, sich gegen die Fensterseite lehnte und seinen Kopf an die kalte Scheibe drückte. Ein Kopf, in dem sich gerade wieder einmal dieses bestimmte Ding gemeldet hatte, geradezu höhnisch. Cheng blickte aus dem Fenster, das seine Schläfe kühlte. Draußen war es dunkel, nur die Lichter der Pisten und der wohnzimmerartig erleuchteten Fensterreihen anderer Flieger durchbrachen die Nacht.

Als die Maschine sich in Bewegung setzte, zögerlich zuerst, und man das große Gewicht dieses Vogels spüren konnte, bevor er dann all seine Kraft und Geschwindigkeit einsetzte – man hätte meinen können, er werde von Frau Wolf gesteuert –, da schloss Cheng die Augen und unterwarf sich ganz dem Schmerz in seinem Kopf. Und geriet solcherart in die Vergangenheit. Als erweise sich der Schmerz als Zeitmaschine.

Er dachte daran, wie er als Kind mit einem kleinen Plastikflugzeug über den beleuchteten Globus seiner Eltern geglitten war, in der Regel spätabends, in seinem Kinderzimmer, wenn die Mutter bereits das Licht abgedreht hatte. Und man also eine Vorstellung vom Weltraum erhielt, der diesen Globus umgab und ihn dunkel umnachtete.

Mit diesem Flugzeug, nicht größer als ein Daumen, ein Kinderdaumen, hatte er immer wieder die Welt umrundet, war über die weiten Meere geflogen, auf kleinen Inseln gelandet, mitunter auch mitten in einem der Ozeane oder großen Seen, dort, wo zwar kein Eiland zu sehen war, er aber spekulierte, dass sich an dieser Stelle eine noch unentdeckte, unbewohnte Landfläche befand. Die vielleicht aber doch bewohnt war, zumindest von Tieren, die als ausgestorben galten oder von unbekannter oder außerirdischer Art waren.

Diese Abendstunden waren ihm die liebsten gewesen, diese Träumereien angesichts einer erleuchteten, im Dunkel schwebenden Kugel, während er mit Schaudern daran dachte, dass, wenn nicht gerade Wochenende war, am Ende dieser Nacht ein Schultag wartete. Unsinnige Stunden des Leids und der Demütigung. Der mittels Mathematik und Vokabeln gebrochene, um seine Talente gebrachte Mensch.

Und doch war er mit dieser Kugel so ungemein glücklich und hoffnungsfroh gewesen. Beste Stunden, auch wenn es nur Minuten oder Viertelstunden gewesen waren, bevor der Schlaf ihn übermannt hatte, beziehungsweise überbubt , wie er das umgedichtet hatte.

Wie erbärmlich war dagegen die Wahrheit des in ein Flugzeug eingesperrten Menschen, der, von seinem übergewichtigen Nachbarn bedrängt, in einen HD -Monitor sieht und dem wie zum Trost in kalter Luft ein paar Flugbegleiter das Anlegen einer Schwimmweste vortanzen. Ach ja, WLAN an Bord! Großes Glück! Aber nirgends eine unbekannte Insel, auf der man landen würde.

 

Man war bereits mehr als eine Stunde unterwegs, das Ding in Chengs Kopf hatte sich beruhigt, und er war soeben erfolgreich dabei, das Angebot eines Abendmenüs abzulehnen. Im Gegensatz natürlich zu Frau Wolf, die zu ihrem Grillhähnchen ein Glas Weißwein bestellte. Doch erstaunlicherweise nicht im Gegensatz zu jenem sehr dicken Mann, der auch nichts aß, sich aber endlich dazu entschloss, Cheng zu fragen, ob man nicht doch die Plätze tauschen wolle. Offensichtlich war es ihm ein Bedürfnis, einen zweiten Körper zwischen sich und Frau Wolf zu wissen.

»Gerne«, sagte Cheng, und sie wechselten die Plätze, wozu freilich auch Frau Wolf aufstehen musste und ein in dieser Enge umständlich anmutendes Ballett einsetzte, wie die drei da herumtrippelten, dazu auch die Flugbegleiterin mit einem Glas Chardonnay in der Hand. – Um es mit einem der 33 Sätze auszudrücken: »Auch in Edelstahlküchen platzt mitunter der Traum von der Schönheit.«

Jedenfalls saßen alle wieder, als Frau Wolf als Einzige in dieser Reihe ihr Abendessen serviert bekam, der dicke Mann bloß ein Mineralwasser, während Cheng ein Glas Dalmore bestellte, eigentlich ein Single Malt, den sie nur in der ersten Klasse servierten. Doch Cheng verstand es, seinen Wunsch mit Charme und Überzeugung darzulegen, nicht zuletzt den Dalmore-Werbespruch verwendend, One of life’s privileges .

Das Glas kam, er trank es. Nun war wieder etwas Ruhe in ihm. Außerdem saß er jetzt perfekt, zumindest so perfekt wie möglich.

Er dachte nach. Natürlich dachte er nach. Ihn beschäftigte die sogenannte Beichte des Edward Todd. Was sich ja alles sehr wild anhörte: diese Macht der PR -Agenturen, Wirklichkeit herzustellen, Stimmungen zu erzeugen, politische Entscheidungen zu erzwingen. Krieg und Frieden zu befördern. Sogar noch die unabhängige Presse zu manipulieren, aufzuwiegeln und abzuwiegeln (wobei Unabhängigkeit schon einer dieser Begriffe war, die an einen Zuckerberg erinnern, der im Regen steht). Vor allem Schauspieler einzusetzen, wo eigentlich Politiker sitzen sollten.

Verschwörungstheorie? Mein Gott, wie sehr dieser Begriff auf allem saß, was nur schwer zu ertragen war, und sich in diesem Begriff alles vermischte, das begründete Gedankenmodell mit dem absurd Fantastischen und Vorurteilsbehaftetem. Da hatte Frau Wolf schon recht. Und schließlich hatte Todd ja tief drinnen in der Theorie gesteckt. War ein ausführender Teil von ihr gewesen. Einer Theorie, die ihn letztlich auf den Grund des Meers befördert hatte, wo er in einem Flugzeugwrack vermoderte.

War vermoderte das richtige Wort, wenn man unter Wasser sein Grab gefunden hatte, fragte sich Cheng, überlegte dann aber, dass, wenn er so zurückdachte – und sich zwar schlecht, aber doch ein wenig erinnerte –, auch er immer wieder mit dem konfrontiert gewesen war, was er »das Bild hinter dem Bild« nannte. Jene hinter dem Augenscheinlichen verborgene eigentliche Struktur. Man könnte auch sagen: eine Vorzeichnung, auf die das sichtbare Bild gemalt wurde. Nur, dass eben diese alles bestimmende Vorzeichnung von einer anderen Hand stammte als der, die das offenkundige Bild gemalt hatte. Die Vorzeichnung war immer so viel raffinierter und abgründiger als die hernach draufgepatzte Farbe, die man zu Gesicht bekam, wenn man vor dem Bild stand.

Das Bild selbst war eine Täuschung. Die dick aufgetragene Farbe, der wuchtige Duktus, jedoch mit der erstaunlichen Eigenschaft, bei aller Buntheit und allen grellen Farben letztlich eine schwarz-weiße Komposition zu ergeben. Das war die große Kunst der Presse und der Medien: diese ins Schwarz-Weiße verbogene Buntheit. So, wie es eben die Kunst eines Schauspielers war, das Publikum vergessen zu lassen, dass da vorne eine Bühne war und man selbst ein Teil des Theaters.

Und jetzt also das geplante Attentat auf einen Heroen der Musik, geradezu einen westlichen Engel des Konzertbetriebs – sowenig Taiwan im Westen lag, zumindest bei Betrachtung einer Landkarte.

Cheng fühlte sich sehr unwohl, weil er durch diese Geschichte nun irgendwie in die chinesische Sphäre geriet, gleich, ob die Chinesen diesen Anschlag in Auftrag gegeben hatten oder vielmehr jemand, der glauben machen wollte, die Chinesen stünden dahinter. Sollten er und Frau Wolf also noch tiefer in diese politische Verwicklung geraten – und er ahnte, dass es mit einem kleinen Telefonat mit Herrn Jan Seldowitsch nicht getan sein würde –, würde es so aussehen, als habe das irgendwie auch mit seiner Abstammung zu tun. Und nachdem er selbst ja nicht an Zufälle glaubte …

Er bestellte einen zweiten Dalmore-Whisky. Das Ding in seinem Kopf lächelte dolorös.

Cheng trank, dann schlief er endlich ein.

Ihm träumte. Wobei er sich – wie das des Öfteren geschah – durchaus bewusst war, sich in einem Traum zu befinden. Was aber erstaunlicherweise rein gar nichts an der empfundenen Realität änderte. Wie es einem Mann, der Stimmen hört, nichts nützt, wenn er weiß, dass diese Stimmen nur in seinem Kopf sind. Dort aber laut und deutlich.

Cheng träumte also, und zwar träumte er, sich in der Elbphilharmonie zu befinden, im Großen Saal mit dieser riesigen Deckenbeleuchtung, die aussieht, als wäre ein als Pilz verkleideter Meteorit auf die Erde gestürzt und dabei ausgerechnet in der Decke eines Hamburger Konzertsaals hängen geblieben.

Auf dem Podium befanden sich die Musiker eines Sinfonieorchesters, das aufgrund der wabenartigen Wände, die das Zentrum umgaben, schon sehr an ein Bienenvolk erinnerte. Schwarze Bienen halt.

Der dieses Podium nach allen Seiten umfassende Publikumsraum war bis auf den letzten Platz gefüllt, was den bienenhaften Eindruck natürlich weiter verstärkte. Ein Volk der Musik. Doch so hochmodern die Kühlung und Belüftung dieser Halle auch sein mochten, die Masse der Menschen schuf eine beträchtliche Stickigkeit und Wärme, eine honigartige Zähigkeit der Luft. Genau das, was Cheng so gar nicht ausstehen konnte. Er spürte, wie der Schweiß seinen Rücken herunterrann und sich das weiße Hemd mit seiner Haut verklebte, darüber er ein schwarzes Jackett mit einem Stehkragen trug. In seiner rechten Hand hielt er …

Erst jetzt wurde ihm das richtig bewusst. Er saß gar nicht im Publikum, sondern stand auf dem Dirigentenpult, in der rechten Hand einen kurzen, dünnen Stab, und tat etwas, das er wahrlich noch nie, auch nicht in einer hobbyhaften Weise je getan hatte, nämlich dirigieren. Und zwar die Berliner Philharmoniker. Na, wen sonst!?

Und das war schließlich wirklich er, Markus Cheng, der hier stand und Flowers von James Wing Yi dirigierte, man also Schuberts Unvollendete und Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau und damit auch Udo Lindenberg als Sprecher bereits hinter sich gebracht hatte und somit jene erstmals aufgeführte Komposition Yis an der Reihe war. Welche so klang, als sei ein Stück von Arvo Pärt mit einem von Strawinsky sowie Volksliedern aus Zhangzhou kollidiert, allerdings in der Art, wie Galaxien kollidieren und sich bei aller Heftigkeit ineinander verwirbeln, eins werden und sich in deren Zentrum neue Sterne bilden. Yi-Sterne.

Mit der rechten Hand, mit der Cheng den Dirigentenstab hielt, gab er den Takt vor, während seine linke … nun, da gab’s freilich keinerlei linke Hand, die Cheng im Traum nachgewachsen wäre und deren Aufgabe darin bestanden hätte, die Empfindungen und die Art des Ausdrucks zu bestimmen, mit der hier die Berliner Philharmoniker spielen sollten. Das war etwas, das Cheng mittels seiner Mimik transportieren musste. Er spürte ja, wie er sein Gesicht in alle Richtungen bewegte, diesem Gesicht jegliche Form von Gefühlsregung abverlangte: das Leise wie das Laute, das Verhaltene wie das Donnernde, Schmerz wie Freude, Hölle und Erlösung. Wie er mit seinem Gesicht – mit seinem ganzen Körper – die Dynamik, das Klima, ja, das Wetter der Musik bestimmte. Ob da gerade die Sonne schien oder ein Gewitter losbrach. Und wie er sich dabei den verschiedenen Instrumentengruppen zuneigte, als verbeuge er sich vor einer Welle, die es soeben an Land spülte.

In diesem Moment fühlte er sich bei aller Irritation ungemein wohl, weil das Ganze ja bestens zu funktionieren schien, das Orchester seinen Anweisungen folgte und dabei nicht etwa Chaos herauskam, sondern ein Klingen, das genau dem entsprach, was James Wing Yi sich vorgestellt haben dürfte. Eine Musik, die dem Abenteuer des Lebens huldigte und die Zeiten und Epochen nicht nur einfach verband, sondern ihnen eine gemeinsame Gestalt verlieh. Auch wenn diese Gestalt in manchen fürchterlichen Augenblicken einem Frankenstein’schen Monster glich, genauer gesagt, einer Frankenstein’schen Blume.

Flowers .

Und dann sah Cheng Frau Wolf. Nicht drüben oder droben im Publikum, sondern auch sie im Orchester, seitlich hinten bei den Kontrabässen. Und das erinnerte ihn daran, warum er überhaupt an diesem Ort war und vorgab, der Dirigent zu sein. Denn natürlich handelte es sich um eine Täuschung. Er war nicht Dirigent, sondern Detektiv.

Aus irgendeinem verdammten Grund hatte man das Killerkommando unter Führung des Fälschers nicht abfangen können und aus einem anderen verdammten Grund das Konzert nicht abgesagt. Nicht abgesagt, aber immerhin das Ziel des Anschlags ausgewechselt. Beziehungsweise spürte Cheng jetzt mit großer Gewissheit – und das, obgleich er über dreißig Jahre älter war als Wing Yi und dieser sehr wohl mit zwei Armen und Händen zu dirigieren pflegte –, dass er nicht etwa als offizieller Ersatz für den aus einem vorgeschobenen Grund ausgefallenen Maestro hier stand. Hier stand und die Berliner dirigierte, unter ihnen auch Berlinerinnen (und mit Frau Wolf eine getarnte Berlinerin). Er war kein Ersatz, sondern ein Double, sosehr seine Einarmigkeit und sein Alter dagegensprachen, aber nicht sein Aussehen, auch wenn gesagt worden war, er ähnle in den letzten Jahren dem Japaner Hiroyuki Sanada. Aber man konnte ihn eben gleichfalls als einen gealterten James Wing Yi sehen, zumindest in diesem Traum.

Faktum war, dass Cheng sich bewusst wurde, dass er an diesem Pult stand und eine Zielscheibe für jene abgab, die glauben sollten, hier dirigiere das berühmte taiwanische Musikgenie.

»Ich bin ein gottverfluchter Lockvogel«, sagte sich Cheng, während er mit einer nach links gerichteten Bewegung seines Kopfes, seines ganzen Körpers, seiner in diesem Moment geradezu verträumten Gesichtszüge die Violinen um ein Verklingen bat, während sein Taktstock hoch zu den Posaunen zeigte, hinter denen eine Reihe taiwanischer Trommeln bedient wurde sowie ein Salzburger Hackbrett zusammen mit einem Yangqin-Hackbrett.

Cheng spürte jetzt überdeutlich, dass von irgendwoher eine Waffe auf ihn gerichtet wurde und er im Okular eines Zielfernrohrs wie eine Marionettenfigur auftauchte. Ein einarmig fuchtelnder Kasperl, der auf einem kleinen Podest herumhampelte.

Dennoch war Cheng bei aller spürbaren Bedrohung in erster Linie darum bemüht, auf diesem Podest eine gute Figur abzugeben, weil das selbst einem Kasperl zustand. Und ganz sicher würde er nicht die Peinlichkeit begehen, schleunigst herunterzusteigen, herunterzufliehen, um aus dem Visier der Angreifer zu gelangen. Auf dass eher jemand aus dem Publikum getroffen wurde oder gar eine der Personen, die sich gerade auf sein Dirigat verließen. Nein, gewiss nicht.

With utmost force, storming .

Auch trat da nirgends eine schreiende Doris Day wie in Hitchcocks Der Mann, der zu viel wusste auf, sosehr Cheng jetzt genau an diesen Film denken musste. Doris Day, die während eines Konzerts in der Royal Albert Hall, und während da also ein Anschlag auf den Premierminister eines ausländischen Landes erfolgt, mit einem irren Schrei den Attentäter derart aus der Fassung bringt, dass er bloß den Arm jenes Staatsmanns trifft. Mein Gott, wie oft hatte sich Cheng diesen Film angesehen! Und wie oft hatte er insgeheim gedacht, dass es eigentlich um diesen schmierigen, pummeligen, vermutlich von den Amis und den Engländern hochgeputschten Premierminister irgendeiner fürchterlichen Bananenrepublik nicht allzu schade gewesen wäre, vor allem aber, wie ungemein nervig Doris Day ist. Besonders zum Schluss, wenn sie das Lied Que Sera, Sera singt. Singt und schreit und ausgerechnet auf diese Weise ihren kleinen Sohn rettet, der übrigens auch fürchterlich nervig ist. Was für eine absurde Idee. Aber natürlich ein großartiger Film.

Cheng jedoch war nicht im Film. Er war im Traum. Und vernahm jetzt mit traumhafter Deutlichkeit, wie mit einem Geräusch gleich dem, wenn ein Zahnstocher unter hoher Last bricht, der Abzug eines Präzisionsgewehrs getätigt und eine Kugel auf den Weg gebracht wurde. Alles überaus gedehnt. Das Projektil, das durch das lange Rohr des Laufs glitt, bevor es dann beim Verlassen der Mündung seine höchste Energie erreichte und in der Folge in der vom Schützen gewünschten Bahn sich auf Cheng zubewegte. Und zwar auf die Mitte seiner Stirn, einer Stirn, die geradezu eingefroren in diesem sehr kurzen und doch gedehnten Zeitraum steckte.

Zeit genug, sich daran zu erinnern, dass in Der Mann, der zu viel wusste nicht nur dieser kleine, feiste Premierminister sowie die nervige Doris Day und ihr nerviger Sohn Hank eine Rolle spielen, sondern auch der wunderbar komische James Stewart, der am Ende des Films einen der Bösewichte die Treppe hinabstößt.

Sein James Stewart – und wen hätte es gewundert – war Frau Wolf. Sie musste bereits einen Moment, bevor die Kugel aus einem weit entfernten Präzisionsgewehr abgegeben worden war, ihren Kontrabass und ihren Kontrabassplatz verlassen haben, war herbeigestürmt, noch während die Kugel losgeflogen war, und hatte ihren gestreckten Arm in einer Weise in die Höhe gereckt, dass das rasende Projektil, bevor es Cheng erreichte, in ihre offene Handfläche eindrang. Vorne hinein, hinten wieder hinaus. Sodass die Kugel nicht nur etwas abgebremst, sondern auch deutlich abgelenkt wurde. Und darum nicht in Chengs Kopf oder Schläfe oder sonst einen lebenswichtigen Teil seines Körpers eindrang, sondern bloß seinen rechten Arm streifte (es ist auch bei Hitchcocks Premierminister der rechte Arm, weil der linke hätte schließlich nicht zu Chengs Traum gepasst).

Trotzdem riss es Cheng vom Pult herunter. Aber noch im Fallen wurde ihm klar, dass Frau Wolf ihn gerettet hatte.

Im Fallen.

Im Erwachen.

Als er die Augen aufschlug, merkte er, wie er nach rechts gerutscht und dabei sein Kopf auf der Schulter Frau Wolfs gelandet war. Das war ihm mehr als peinlich, und er schreckte rasch zurück.

Sie sah ihn kurz an und meinte: »Machen Sie sich nicht ins Hemd. Sie dürfen doch auch mal schlafen, oder?«

»Sie haben mir gerade das Leben gerettet«, sagte er.

»Im Traum?«

Er nickte.

»Na, das ist aber ein schlechter Ausgleich dafür, dass Sie mir wirklich das Leben gerettet haben. Da unten auf dem Meeresboden.«

»Ich weiß nicht«, sagte Cheng und machte ein zweifelndes Gesicht. Er war sich mehr als unsicher, was die Bedeutung von Vorkommnissen in Träumen betraf. Und ob er nicht gerade ziemlich viel Glück gehabt hatte, dass Frau Wolf in diesem, seinem Traum so schnell und todesmutig gewesen war.

Während er das sagte, fiel sein Blick auf ihre rechte Hand, mit der sie soeben eine Tasse Tee anhob, um einen Schluck zu nehmen. Dabei schien ihm, als zeichne sich auf dem Handrücken seiner Chefin eine Narbe ab, eine Narbe genau von der Größe einer Kugel.

Er neigte sich etwas weiter nach vorn, und als er jetzt hinsah, war nichts mehr von einer Narbe zu erkennen. Eine bloße Täuschung, ein punktgroßer Schatten, der auch schon wieder verschwunden war.

So also, dachte sich Cheng, ging es Leuten, die hin und wieder seinen alten toten Hund neben ihm hertrotten sahen.

 

Frau Wolf nahm einen Schluck und stellte ihre Teetasse neben ihrem aufgeklappten kleinen Laptop ab. Auf dem Bildschirm war soeben ein Mann aufgetaucht, der in dieser typischen Art einer Videokonferenz den Eindruck machte, er sitze in einem trostlosen Büro auf dem Mars oder Mond oder in einer dieser Raumstationen, die – schon etwas abgelebt – mehr in Richtung einer Weinstube tendierten.

Der Mann auf dem Bildschirm hatte ein ungemein breites, fleischiges, ziemlich bleiches Gesicht, in dem seine Augen tief einsaßen, wie Knöpfe, die man einem Schneemann ins runde Gesicht gedrückt hatte. Bei ihm war es jetzt spät in der Nacht, kurz vor zwei Uhr in Berlin, während die A380 etwas näher am kommenden Tag war und recht bald im frühmorgendlichen Dubai landen würde.

»Na endlich«, sagte Frau Wolf, nachdem der Mann ins Bild gekommen war.

Cheng neigte seinen Kopf ein wenig so, dass der andere ihn ebenfalls sehen konnte.

»Also, wenn das jetzt nicht sehr wichtig ist …«, begann Jan Seldowitsch, dessen Mund sich beim Reden kaum öffnete, auch dieser Mund tief versunken in den Wülsten der Gesichtshaut. Allerdings eine schöne Stimme, als würde sie jemand anderem, Jüngerem gehören, dem das Leben auch schon mal Freude bereitete und der nicht nur in der frustrierenden Paranoia eines Geheimdienstalltags gefangen war.

»Es ist wichtig, glauben Sie mir, Jan«, sagte Frau Wolf und begann zu berichten, was geschehen war. Diesmal auch erwähnend, dass der Fälscher und seine Freunde versucht hatten, sie und Cheng für ewig im südwestlichen Teil des Südpazifiks verschwinden zu lassen. Vor allem aber berichtete sie, wie man im dichten Fell eines Wombats einen USB -Stick entdeckt hatte und dank eines glücklichen Zufalls – einer von diesen Zufällen, die Cheng in den Schoß zu fallen pflegten – auf eine passende Buchse in der Kante eines so mysteriösen wie glamourösen Tischtennistisches gestoßen war. Suzy’s Table , der sich dann als Suzy’s PC entpuppt hatte.

»Sie verarschen mich, was soll das?«, empörte sich Seldowitsch, wobei sein linkes Auge ein wenig hervortrat, das andere aber noch weiter nach hinten zu fallen schien. Wie bei diesen Wetterhäuschen, wenn eine Figur aus dem Haus tritt und die andere ins dunkle Innere gerät. – Klar, es war Seldowitschs Schlechtwetterauge, welches da ins Freie gerückt war.

Frau Wolf versicherte ihm, dass ihr rein gar nicht nach einer Verarschung zumute sei, immerhin seien auf dem in diesem Stick gespeicherten Film Hinweise darauf zu finden, dass noch heute Morgen ein Killerkommando in Hamburg eintreffen und auf dem für den Abend geplanten großen Konzert in der Elbphilharmonie einen Anschlag auf den taiwanischen Dirigenten James Wing Yi verüben werde. Und es niemand Geringerer als der Fälscher sei, der dieses Killerkommando anführe.

»Und das haben Sie von einem Tischtennistisch erfahren, oder was?«, fragte Seldowitsch spöttisch.

»Von einem Mann auf einem Tischtennistisch, um genau zu sein«, blieb Frau Wolf völlig ernst, »und zwar einer, der lange für den MI 6 gearbeitet hat und zuletzt für eine dieser PR -Firmen, die in unserer Weltpolitik herumrühren.«

»Ein Mann mit einem erfundenen Namen, der da in Australien sitzt, ach! Ich bitte Sie! Und was ist mit dem jetzt?«

»Er ist tot«, sagte Frau Wolf und erklärte, der Fälscher habe sich seiner entledigt.

»Und das können Sie beweisen?«

»Darum geht es doch nicht«, erklärte Frau Wolf, »sondern darum, ein Attentat zu verhindern, welches durchaus geeignet ist, eine internationale Krise hervorzurufen. Abgesehen davon, dass es nicht gut aussieht, wenn Dirigenten klassischer Musik in Deutschland nicht auftreten können, ohne ihr Leben lassen zu müssen.«

»Ersparen Sie mir den Ton«, meinte Seldowitsch.

Also ersparte ihm Frau Wolf den Ton, äußerte jedoch die Vermutung, dass der Mann, der sich als Jensen ausgab, zusammen mit seinem Team aus vorgeblichen Lottomillionären am Nachmittag des Vortages von Sydney losgeflogen sei.

»Ich schätze«, sagte Frau Wolf, »dass die gegen neun, halb zehn in Hamburg ankommen. Höchstwahrscheinlich mit einer Swiss-Maschine, wenn sie nach einem Zwischenstopp in Singapur nach Zürich unterwegs sind und von dort nach Hamburg. Außer sie haben sich doch für eine spätere Verbindung entschieden. Würden dann aber trotzdem mit Swiss in Hamburg landen. Gegen elf Uhr.«

»Ganz sicher kommen die mit den Schweizern«, ergänzte Cheng und dachte an die Uhren, die ihm, dem Detailbesessenen, an den Handgelenken der beiden Paare aufgefallen waren. Schweizer Chronometer. Obgleich die schweizerische Fluglinie zwischenzeitlich der deutschen Lufthansa gehörte. Aber wer gehörte heutzutage schon sich selbst?

»Das ist alles sehr dünn«, meinte Seldowitsch.

»Dünn? Ist das Ihr Ernst«, empörte sich Frau Wolf. »Wollen Sie allen Ernstes riskieren, dass dieser Mann in aller Ruhe in Hamburg einen Dirigenten vom Pult schießt?«

»Gut, ich werde das besprechen, werde schauen, was wir tun können.«

»Sie sollten sich mit Ihrer Besprechung beeilen«, warnte Frau Wolf, »wenn die mal aus dem Flughafen raus sind, gute Nacht.«

»Also, wenn die so kommen, wie Sie sagen … Von Zürich oder München geht es auch mit dem Privatjet. Für Lottomillionäre sowieso.«

»Wie auch immer, Sie müssen das hinkriegen«, sagte Frau Wolf, »oder das Konzert absagen.«

»Es könnte ja Herr Cheng stattdessen dirigieren«, meinte Seldowitsch mit einem groben Lachen aus seinem kleinen Mund.

»Das ist nicht lustig«, sagte Frau Wolf und beendete das Gespräch. Soeben kam die Durchsage, man würde demnächst mit dem Landeanflug auf den Flughafen von Dubai beginnen. Allgemeines Erwachen. Gähnende Menschen. Ein sich Recken und Rekeln.

Cheng aber schüttelte den Kopf und fühlte sich gar nicht gut. Seldowitschs ironische Bemerkung setzte ihm zu. Das war schon seltsam, so unernst es gemeint gewesen war, was der BND -Mann vorgeschlagen hatte. Wie in Chengs Traum. Die Rolle des Dirigenten zu übernehmen und so die Attentäter zu täuschen. Die dann nicht auf ein taiwanisches Originalgenie, sondern bloß auf einen österreichischen Detektivsekretär schießen würden.

Prepare for landing .