Als die beiden am nächsten Tag wieder in ihrem Büro in der Taubstummengasse saßen, erhielt Frau Wolf die Nachricht, dass ihr Onkel in einem Spital in Košice achtundneunzigjährig verstorben sei und also seine hundert Jahre doch nicht erreichen würde.
»Verdammt«, sagte sie, die diesen Mann, den sie als ein Monster bezeichnete, noch gerne ein paar Jahre an ein Krankenhausbett gefesselt gesehen hätte. Nun jedoch gezwungen war, in die Slowakei zu reisen, den Toten im Familiengrab unter die Erde zu bringen und sich die verlogene Rede eines katholischen Priesters anzuhören, der das Leben des Monsters verklären würde. Schließlich würde sie auch noch ein Erbe antreten müssen, ein Stadthaus und ein Landhaus, die sie verkaufen, vielleicht verschenken wollte. Sie würde sehen.
Jedenfalls setzte sich Frau Wolf noch am gleichen Tag in ihren Wagen – einen jüngst erstandenen, alten Peugeot-Sportwagen – und fuhr die Strecke nach Košice in einer Zeit weit unter den berechneten fünf Stunden.
Cheng war somit an diesem Nachmittag alleine in der Detektei, war vom Schreibtisch seines schmalen Vorzimmers hinüber zum Schreibtisch seiner Chefin gewechselt, der ja früher sein Schreibtisch gewesen war, und recherchierte am Computer. Auch wenn ihm das gleich wieder ein schlechtes Gewissen bescherte. Ein wenig so wie das schlechte Gewissen, das man hat, wenn man sagt: Ich glaube nicht an Gott. Sich dabei aber etwas unwohl fühlt.
Gottlos, gleichsam unwohl, suchte er nach Informationen zu jener Frau, die so zufällig wie unglücklich von einer Kugel aus Roscheks chinesischem Präzisionsgewehr getroffen worden war, jener Frau namens Paula Koch, ein dummer Name fürs Recherchieren.
Jedenfalls konnte Cheng im Internet auch nicht mehr entdecken, als die Behörden in Hamburg und Wien bereits festgestellt hatten. Dass es sich nämlich um eine fünfundzwanzigjährige, in einem kleinen Ort in Niederösterreich geborene Studentin der Wirtschaftswissenschaften handelte, die kurz einmal Model gewesen war, sich auf Facebook, Twitter und Instagram getummelt hatte, zudem eine passable Mittelstreckenläuferin gewesen war, ohne festen Partner, aber ganz sicher nicht asexuell. Und die in keinerlei Verbindung zu irgendeiner in diesen Fall und in dieses Attentat verwickelten Person gestanden hatte. Natürlich nicht. Die Kugel, die sie getroffen hatte, hätte genauso gut auch eine der Personen vor oder hinter ihr, rechts oder links von ihr treffen können. Purer Zufall!
Aber es wurde ja schon mehrfach gesagt, Cheng glaubte an keine Zufälle. Und er konnte sich einfach nicht von dem Gedanken lösen, Roschek hätte nur zweimal und nicht dreimal den Abzug betätigt.
Er fand heraus, dass Koch zusammen mit einer Kommilitonin und Freundin ein kleines Appartement im 19. Bezirk bewohnt hatte. Die Freundin hieß Beatrice Zweig und war ebenso häufig wie Koch auf den Wegen und Straßen und Gassen der sozialen Medien unterwegs. Wie so viele andere hatte sie eine weitschweifige Spur im Netz hinterlassen, allerdings keine Telefonnummer und keine Adresse. Doch dank einer ihrer Bemerkungen auf Instagram und des dazugehörigen Fotos hatte Cheng das Haus lokalisiert, in dem Zweig wohnte. Hoffentlich noch immer wohnte.
Am nächsten Tag suchte Cheng es auf, ein modernes Haus, dessen Gegensprechanlage einzig aus Nummern bestand, die Cheng nacheinander drückte, in der Hoffnung … die Hoffnung erfüllte sich nicht. Niemand öffnete, niemand meldete sich auch nur.
Weshalb Cheng gegenüber in einem kleinen Café Platz nahm, wo er durch die große, hohe Scheibe hinüber zu dem weißen Gebäude sah, das in einem Wechsel von Winterlicht und Winterschatten bei aller Modernität etwas leicht Verdorbenes annahm. Wie bei einem Käse, wenn man nicht weiß, ob der Schimmel dazugehört oder nicht.
Und vor diesem modernen Schimmelbild tauchte sie eine Stunde später auf, die junge, schlanke, auffallend groß gewachsene Frau, bei der es sich um Beatrice Zweig handeln musste – stimmt, das hatte er gelesen, dass sie in der höchsten österreichischen Basketballliga der Frauen spielte. Sie war trotz der Kälte nur leicht bekleidet, trug eine Sporttasche, und ihr Gang besaß etwas, was man als »einen Zug zum Tor« bezeichnet, bei ihr eben ein Zug zum Korb.
Jedenfalls beeilte sich Cheng, aus dem Café zu kommen. Er schaffte es gerade noch, sie an der Türe abzufangen, keuchend und beschämt ob seines Gehetztseins.
»Sie sind doch nicht von der Polizei?«, fragte sie ihn.
»Nein!«, sagte Cheng, »und auch kein Reporter.« Diesmal blieb er bei der Wahrheit.
»Detektiv, echt?«, staunte sie. »Mit nur einem Arm?«
»Nicht schon wieder«, ärgerte sich Cheng, fragte aber, ob er sie kurz sprechen könne. Und fügte an: »Gerne drüben im Café. Wenn Sie sich da sicherer fühlen.«
»Muss ich denn Angst vor Ihnen haben, alter Mann?«, fragte sie ihn mit einem amüsiert-abschätzigen Blick, in dessen Hintergrund sich aber auch so etwas wie Interesse und Neugierde an diesem alten Mann abzeichnete.
Cheng lächelte mit seinem linken Mundwinkel.
»Na, kommen Sie mit hinauf«, sagte sie, »wenn Sie mich unbedingt sprechen müssen.«
Er kam mit hinauf.
Es zeigte sich, dass die kleine Studentinnenwohnung erstens nicht wirklich klein war und dass sie zweitens eher so aussah, als hätten die beiden Bewohnerinnen ihr Wirtschaftsstudium längst abgeschlossen, um gut dotierte Posten zu besetzen. Oder welchem Umstand auch immer zu verdanken war, dass Cheng nicht auf irgendeiner abgewetzten Couch aus Caritasbeständen Platz nahm, sondern in einem Sofasystem aus waldgrünem Leder, dessen Größe ihn daran erinnerte, wie er sich vor Jahren bei einer Wanderung im Wienerwald verlaufen hatte.
»Kaffee?«, fragte die junge Frau und griff nach einer Tasse, die auf einem Regal stand, das so weit oben montiert war, dass Cheng eine Leiter benötigt hätte, dort hinaufzugelangen.
Was jedoch nicht für den Barwagen galt, der in einer Ecke des Raums stand, unter einem Helmut-Newton-Foto. Und dessen Anblick Cheng dazu animierte, zu fragen, ob er anstatt des Kaffees auch ein Glas Whisky haben könne.
»Das ist jetzt aber schon ein Klischee«, meinte Frau Zweig, »ein Detektiv, der um drei am Nachmittag Whisky trinkt.«
»Absolut«, sagte Cheng. Mehr sagte er nicht dazu. Und bekam ein Glas Bowmore serviert, was ihn wiederum an jenen 75.000-Dollar-Bowmore denken ließ, der in der Bar der geheimen Luxus-Lounge der Elbphilharmonie gestanden hatte. Bei diesem hier handelte es sich freilich um einen zwölfjährigen. Ein Whisky in der Pubertät, den man im Supermarkt bekam. Er schmeckte dennoch.
»Also«, sagte Frau Zweig, die ihren langen Körper in der Art einer geübten Umständlichkeit – die diese Länge nun mal mit sich brachte – an der linken Flanke des u-förmigen Sofasystems absetzte, während Cheng genau im Zentrum saß und sich darum ein wenig ausgeliefert vorkam.
»Also«, fragte sie, »was wollen Sie von mir?«
»Es geht um Ihre Freundin, Paula Koch.«
»Natürlich geht es um meine Freundin. Jetzt, wo sie tot ist, geht es nur noch um sie. Man könnte sagen, tot sein macht populär.«
»Sie wurden also befragt?«
»Klar, die Polizei war hier, österreichische und deutsche, zwei Männer, wie die beiden Alten aus der Muppet Show .«
»Sie kennen die Muppet Show? «, gab sich Cheng erstaunt.
»Meine Eltern mochten sie gerne«, antwortete Beatrice Zweig, die ja auch nicht viel älter als Koch sein konnte, Mitte zwanzig.
»Ich verstehe«, sagte Cheng.
»Also, was wollen Sie von mir?«
»Begreifen, wieso Ihre Freundin sterben musste.«
»Abgesehen davon, dass sie einfach die falsche Person am falschen Ort war, frage ich mich, wieso Sie das kümmert.«
»Ich war dort«, sagte Cheng und erklärte in wenigen Worten, wie ein Auftrag, der eigentlich bloß einem verschwundenen Zoologen gegolten hatte, ihn nach Hamburg und auf das Dach der Elbphilharmonie geführt hatte. Und zur Einsicht in die wahre Bedeutung des Mannes, dem er gefolgt war.
»Schön und gut«, sagte Frau Zweig, »aber mit der Köchin hat das doch nichts zu tun.«
»Der Köchin?«
»Ja, so habe ich Paula hin und wieder genannt – entweder wenn wir gestritten haben oder aber wenn es besonders gut ging. Die Köchin! Dabei hat sie überhaupt nicht gekocht, nicht einmal eine Nudelsuppe oder Spaghetti, aber sie hat den einen oder anderen Mann eingekocht. Sie war schon ein Luder, aber ein großartiges. Meine liebste Freundin ever. Meine Bestie.«
»Bestie?«
»Meine beste Freundin. Aber ein Mann hätte ich bei ihr nicht sein wollen.«
»Wieso?«
»Ich würde sagen, Paula war zur Liebe nicht fähig, Liebe hat sie nicht interessiert. Ich glaube, nicht einmal der Sex. Den hat sie hingenommen, weil’s halt dazugehört und sich eine Abhängigkeit ohne Sex schlecht machen lässt. Die reinen Poeten unter den Männern sind ja eher selten. Es regiert doch eher der Körper. Jedenfalls hat sie die Männer ausgewechselt, als wären sie die Schuhe in ihrem Schrank – und es sind viele Schuhe in ihrem Schrank.«
»Kann ich die Schuhe sehen?«
»Im Ernst?«
»Ja, bitte.«
»Nur, wenn Sie mir endlich sagen, wieso Sie sich für jemanden interessieren, der einfach nur das Pech hatte, in diesem dummen Konzertsaal zu sitzen.«
»Weil ich an diese Art von Pech nicht glaube«, sagte Cheng. »Weil ich nicht glaube, dass die Kugel, die in das Herz ihrer Freundin eingedrungen ist, es unabsichtlich getan hat.«
»Das klingt, als machten Sie die Kugel verantwortlich und nicht den Schützen.«
»Beide«, meinte Cheng kryptisch.
»Jedenfalls ist das Unfug, was Sie da sagen«, erklärte Frau Zweig, »das war doch ein politisches Attentat. Mit Politik hatte Paula rein gar nichts am Hut. Es hat sie überhaupt nicht gekümmert.«
»Und Sie? Kümmert Sie die Politik?«
»Sie wollten sich doch Paulas Schuhe ansehen, oder?«
»Ja, gerne.«
Dabei wusste Cheng gar nicht, wieso er das wollte. Das verdankte er wieder mal einer seiner Eingebungen. (Es war aber nicht so, dass Chengs Eingebungen stets einen Nutzen besaßen, manche waren einfach Unsinn. Doch das wusste er vorher nicht und berücksichtigte die sinnvollen wie die sinnlosen.)
Cheng folgte Frau Zweig hinüber in den Flur, der die zwei Wohneinheiten verband. In diesem Moment kam aus irgendeiner Ecke eine kleine schwarze Katze gekrochen, mit so einem weißen Fleck auf der Nase. Das Tier ging neben Frau Zweig her, wobei es sich in typischer Katzenmanier ein wenig schräg stellte und wohl auch umgefallen wäre, wären da nicht die Beine der Frau Zweig gewesen, gegen die das Tier mit seiner Flanke streifte. Was nur Katzen können, gleichzeitig gehen und sich anlehnen.
»Ihre Katze oder die von Paula?«, fragte Cheng.
Frau Zweig hielt inne, drehte sich zu Cheng hin und fragte: »Wovon reden Sie?«
»Na, von der Katze«, sagte er, aber da war das Tier bereits verschwunden.
»Ich hatte mal eine«, sagte Frau Zweig, »einen jungen Kater. Er ist unglücklicherweise vom Dach gefallen.«
Sie sagte nicht, dass er gestorben war, aber das war schon klar.
»So ein kleiner schwarzer mit einem weißen Fleck auf der Schnauze?«, fragte Cheng und bereute sogleich, das gesagt zu haben.
»Woher können Sie das wissen?« Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ich glaube, ich habe da im Vorraum ein Foto gesehen«, log er.
»Da ist kein Foto«, sagte sie.
»Also ich weiß auch nicht. Immerhin bin ich Detektiv.«
»Aber doch nicht Wahrsager.«
Cheng dachte sich, verdammt, fängt das bei mir jetzt auch noch an. Zwar nicht, dass er seinen eigenen verstorbenen Hund sah, wie das hin und wieder andere taten, sondern indem er die tote Katze … In der Elbphilharmonie war das ja auch schon geschehen, als er hinter den Beinen einer jungen Servierkraft eine kleine Schildpattkatze erkannte, die dort schwerlich etwas verloren hatte.
Mein Gott, dachte er, das war sicher dem Ding in seinem Kopf zu verdanken. Erstaunlich jedoch, dass das Ding wissen konnte, wie dieses vom Dach gestürzte Katzentier der Frau Zweig ausgesehen hatte. Andererseits, schwarze Kater mit weißen Flecken im Gesicht, die gab’s zuhauf.
»Ich bin wegen der Schuhe hier, nicht wegen der Katze«, beeilte sich Cheng zu erklären.
Noch einmal schüttelte Frau Zweig den Kopf. Auf ihrer Stirn zeigte sich eine unschöne Falte. Ihr Blick war unsicher und zweifelnd. Aber sie tat, worum Cheng sie gebeten hatte, und führte ihn zu dem hohen, breiten Schrank, dessen Spiegeltüren sie nach beiden Seiten öffnete. Solcherart offenbarte sich eine auf gut zehn Regale verteilte so museal wie seriell anmutende Anordnung edlen Frauenschuhwerks. Nicht nur viele Schuhe, sondern vor allem teures Zeug, das erkannte Cheng sofort: das unverkennbare Gucci-Symbol, das aus noch so simplen Pumps Geld fressende kleine Teufel machte, auch wenn der Teufel bekanntermaßen Prada trägt. Aber Prada-Schuhe gab es hier natürlich gleichfalls, ebenso wie Schuhe von Valentino oder Sportschuhe von Nike, die aussahen, als sei eine Langstreckenläuferin an einem rosa Farbtopf hängen geblieben. Oben waren die Stiefel aufgereiht, in der Mitte die Pumps und Sandaletten und Abendschuhe, unten ruhten der Sport und die Freizeit. Alles mit der größten Sorgfalt und in absolut gleichmäßigen Abständen platziert. Als hätte hier ein Pop-Art-Künstler ein Werk mit dem Titel Der Untergang des Abendlands besteht aus fünfundfünfzig Schritten geschaffen (was jedoch in Wirklichkeit ein Satz aus den 33 Sätzen ist und von einem belgischen Psychotherapeuten stammt).
»Wow!«, sagte Cheng. »Das nennt man wohl Fetischismus.«
»Ach was, sie hatte gute Beine und wollte ihre guten Beine noch besser aussehen lassen.«
»Und Sie?«, erkundigte sich Cheng.
»Was interessiert Sie das schon wieder?«, fragte Beatrice Zweig und runzelte ihre Stirn wie ein kleines Meer, das in Unruhe gerät. Meinte dann aber, bei ihrer Größe kämen eigentlich nur flache Schuhe und Ballerinas infrage, wenn sie nicht gerade mit ihren Air Jordans über einen Sportplatz fegte.
Und so stand Cheng also vor dieser delikaten und teuren Ansammlung von Frauenschuhen und starrte auf das Bild, das sich daraus ergab. Und kam sich dabei vor wie dieser Junge aus M. Night Shyamalans Lady in the Water , der auf einen Schrank voll mit Cerealien-Packungen blickt und versucht, ein System herauszulesen. Ein System, das den verschiedenen Bewohnern eines Appartementhauses jene Rollen zuordnet, die sie gemäß einer alten Sage besitzen, an ancient thing in modern times … someone who sees meaning in the ordinary . Ja, genau so einen Eindruck hinterließ Cheng in diesem Augenblick. Als versuche er, aus der Anordnung der Schuhe eine Nachricht herauszulesen, irgendeinen Hinweis, eine höhere Bedeutung im Gewöhnlichen luxuriöser Fußbekleidung.
Cheng dachte sich, dass er auf Frau Zweig einen ziemlich vertrottelten Eindruck machen musste. Und richtig, wie schon gesagt, nicht jede Eingebung, die er hatte, besaß auch einen Sinn. Manche Eingebung war einfach nur Humbug. Wie auch geisterhaft auftauchende Katzen. Und Hunde erst recht.
»Und?«, fragte die junge Frau, die mit ihren einssechsundneunzig so ziemlich an das obere Ende des hohen Schranks heranreichte. »Haben Sie irgendetwas entdeckt, was Ihnen weiterhilft? Außer der Erkenntnis, wie viele Schuhe eine Frau auch in einem kurzen Leben zusammentragen kann.«
»Nein«, sagte Cheng, »verzeihen Sie. Ich weiß auch nicht …«
Beatrice Zweig seufzte. Aber diesmal klang es weniger spöttisch, mehr bedauernd. Sie schob die beiden gläsernen Schiebetüren wieder gegen die Mitte hin.
Und dann erkannte Cheng, was zu erkennen war.
Er sah es im Spiegel der rechten Schranktüre: ein gerahmtes Foto unter anderen gerahmten Fotografien. Ein Bild, das er aber nicht auf diese spezielle Weise zu Gesicht bekommen hätte – das ihm nicht in den Schoß seines Auges gefallen wäre –, wäre er nicht der Eingebung gefolgt, sich Paula Kochs Schuhsammlung ansehen zu wollen. Ein schwarz-weißes Bild in einem sandfarbenen Passepartout. Aber kein altes Foto wie einige andere an dieser Wand. Es zeigte die erwachsene Paula Koch, wie Cheng sie aus den Bildern im Internet kannte. Auf diesem einen Foto befand sie sich in einem Raum … Cheng kannte den Raum. Er selbst war einmal darin gestanden.
Und dann kam der Druck. Der ungemeine und unheimliche Druck in Chengs Kopf. Das Ding in seinem Hirn meldete sich mit aller Kraft. Es fühlte sich an, als werde Cheng von einem Bulldozer überrollt, der absurderweise nicht von außen, sondern von innen über ihn fuhr. Ein Bulldozer mit einer Aufschrift seitlich auf der Karosserie. Ein Satz, den Cheng noch lesen konnte.
Der Weg des Kriegers liegt im Sterben.
Ja, mein Gott, Cheng kannte den Satz, der aus dem japanischen Hagakure stammte. Aber er war doch kein Japaner, und schon gar nicht war er ein Krieger.
Er wollte noch etwas sagen, einen Widerspruch einlegen inmitten des Schwindels, der ihn erfasst hatte, aber es war zu spät. Er meinte bloß noch, zu erkennen, wie da zwischen zwei Paar Schuhen der Kopf eines kleinen schwarzen Katers mit weißem Punkt auf der Nase auftauchte.
Nicht schon wieder, dachte Cheng. Dann verlor er endgültig das Bewusstsein und sank hinein in eine namenlose Nacht.