Kapitel 2
Die ersten Geheimnisse werden gelüftet
In ein traumhaft weiches, leichtes Gewand gehüllt und wie auf Wolken schwebend, führte man Raffine zurück zu Neferafin.
Mittlerweile begann sie allmählich zu begreifen, dass es sich doch nicht nur um einen wunderbaren Traum handelte, sondern um ein wahr gewordenes Märchen. Ihr sehnlichster Wunsch ging tatsächlich in Erfüllung. Hoffentlich werde ich es am Ende nicht furchtbar bereuen, dass ich mir das alles so sehr gewünscht habe
, dachte Raffine.
Beim Anblick der reich gedeckten Tafel vor ihren Augen lief Raffine das Wasser im Mund zusammen. Wie spät ist es eigentlich?
In diesem Moment spürte sie, dass sie schrecklich hungrig war. Trotzdem fiel es ihr gar nicht so leicht, sich zu entscheiden, was sie zuerst probieren wollte. Auf dem Tisch standen unzählige Speisen, die Raffine noch nie zuvor gesehen, geschweige denn gegessen hatte. Neferafin, die sie schon beobachtete, seitdem sie den Raum betreten hatte, lachte plötzlich laut auf.
„Mit Sicherheit wirst du noch eine Weile hierbleiben und dadurch mehr als genug Zeit haben, um diese Speisen zu genießen. Es freut mich aber sehr, dass der Geist und die Vorlieben der Ägypter meiner Familie nach so vielen Jahrtausenden noch immer im Blut liegen.“
Mit vollem Mund sah Raffine zu ihr auf. Darauf hätte sie gern etwas erwidert, aber dafür hatte sie eindeutig zu viel auf einmal in sich hinein geschaufelt. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als Neferafin stumm zuzuhören.
„Meine Vorfahren haben vor langer Zeit festgelegt, dass in jedem Namen unserer weiblichen Nachkommen die Silbe „rafin“ vorkommt, damit unsere Blutlinie erkennbar bleibt. Zusätzlich trägt jeder weibliche Nachkomme unserer Dynastie ein besonderes Erkennungszeichen, einen kleinen Leberfleck auf dem rechten Oberarm. Bei dir musste ich aber gar nicht erst danach suchen, denn wenn du nicht über alle Merkmale verfügen würdest, wärst du gar nicht hier. Jedes Mädchen aus unserer Blutlinie wird bei derselben Sternenkonstellation geboren. An diesen drei Merkmalen erkennen wir unsere Nachfahren, aber nur unsere weiblichen Nachkommen besitzen die Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen und das Tor zum Portal zu öffnen. Am Ende deiner Reise werde ich dir das alles noch näher erklären.
Ihren Ursprung hat unsere Dynastie lange vor unserer Zeitrechnung, als nur ein einziges Reich existierte. Erst 4.000 Jahre später wurde Ägypten geteilt. Seitdem gibt es Ober- und Unterägypten. Unsere Familie, die du am Ziel unserer Reise flussaufwärts auf dem Nil kennenlernen wirst, regiert auch in Unterägypten.
Das Wissen über die Geheimnisse der Pyramiden und des Skarabäus wird von Generation zu Generation weitergegeben und darf niemals verloren gehen. Weil die Angehörigen unserer Blutlinie zu den Hütern gehören, müssen diese Geheimnisse ausschließlich unserer Familie vorbehalten bleiben. Darüber wirst du alles erfahren, sobald wir im Reich Unterägypten bei meiner Schwester sind.
Die Geschichte unserer Familie steht auf dem Thron geschrieben, den du vorhin so sehr bewundert hast. Nein, eigentlich stimmt das nicht ganz, denn auf diesem Thron findest du nur ein Drittel davon. Insgesamt gibt es nämlich drei zusammengehörige Throne. Der Hauptthron, der den Ursprung unserer Familiengeschichte enthüllt, ist gut versteckt und geschützt. Da es keine Aufzeichnungen darüber gibt, kann ich dir leider nicht sagen, wo er sich befindet. Das alles möchte ich dir aber nicht allein erklären. Sobald die Zeit dafür gekommen ist, wirst du alles erfahren. Jetzt müssen wir aber erst einmal unser vorrangiges Problem lösen.“
Nach diesen Worten stutzte Raffine. Sie hob einen ihrer Finger, um Neferafin zu zeigen, dass sie ihr eine dringende Frage stellen wollte. Neferafin nickte zustimmend, gab ihr aber gleichzeitig zu verstehen, dass sie sich noch einen Augenblick gedulden sollte.
Anschließend fuhr sie fort: „Seit knapp 100 Jahren wütet bei uns das Volk der Hyksos, das man auch als die „Wüstenprinzen“ bezeichnet. Diese haben unsere Hauptstadt Memphis, die auch als „Ineb-hedj“ bekannt ist, eingenommen und sie vollkommen verwüstet. Bis dahin herrschte dort unsere Familie, gegen diese Barbaren war sie aber machtlos. Weil wir noch nie Kriege führen mussten, hatten wir kein schlagkräftiges Heer und nicht genug Waffen, um den Einmarsch der Hyksos zu verhindern. Mit „wir“ meine ich in diesem Fall die Generation vor mir.
Um noch Schlimmeres zu verhindern, haben meine Vorfahren die magischen Steine benutzt, wodurch die Hyksos aufgehalten wurden. Deshalb sind sie erst einmal in Memphis geblieben. Auf diese Steine komme ich später noch zurück. Im Laufe der Jahre nach dem Einmarsch haben wir ein Heer aufgestellt, mit dessen Hilfe wir sie eines Tages wieder aus unserem Land verjagen werden. Nur durch die Macht der Magie sind sie bis jetzt noch nicht über Unterägypten hinausgekommen.
Seitdem meine Schwester aus dem Hauptpalast vertrieben wurde, lebt sie auf einer weiträumigen Anlage in einem Nebenpalast, der durch die Magie und durch ihre Freunde geschützt ist. Bis hierher nach Oberägypten sind die Barbaren bisher noch nicht vorgedrungen, aber irgendwann werden sie mit Sicherheit kommen, zumal sie schon einen Teil der Steine gestohlen haben. Dadurch gewinnen sie fortlaufend mehr Macht, die es ihnen ermöglichen wird, noch weiter in unser Land vorzustoßen.
Falls es ihnen gelingt, auch diesen Teil unseres Landes einzunehmen, werden sie uns alle töten. Unsere Blutlinie wird aussterben und wir werden unsere Geheimnisse nicht mehr weitergeben können. Dass dadurch alles verloren geht, was wir über Generationen hinweg erschaffen haben, müssen wir mit aller Kraft verhindern. Jetzt ist die Zeit gekommen, diese Barbaren loszuwerden und unser Land zurückzuerobern.“
Raffine sah zu ihr auf. In ihrem Kopf wirbelten die Informationen und ihre Gedanken wild durcheinander.
„Als du am Anfang die Geheimnisse der Pyramiden und des Skarabäus erwähnt hast, musst du dich wohl versprochen haben. Hier geht es doch um die Sphinx und um keinen Skarabäus. Und was das Wissen anbelangt, muss ich leider feststellen, dass es schon längst verloren gegangen ist. Im Laufe der Jahre haben die Archäologen und die Ägyptologen zwar die letzten Überreste des Wissens aus der Vergangenheit zusammengetragen, aber ob ihre Schlussfolgerungen tatsächlich richtig sind, kann ich nicht beurteilen. Trotz allem stehen wir noch vor unzähligen Geheimnissen, und viel zu vieles ist auch weiterhin unklar.
Alle historischen Schriftrollen und Aufzeichnungen, die jemals in Ägypten existierten, bewahrte man in der großen Bibliothek in Alexandria auf, aber als diese abgebrannt ist, wurden all diese wertvollen Schriften auf einen Schlag vernichtet. Inzwischen weiß niemand mehr genau, was es damals hier alles gab. Zum Beispiel ging man bisher davon aus, dass man zu der Zeit noch keine Räder, geschweige denn Wagen hatte. Trotzdem habe ich vorhin sogar in einem Wagen gesessen. Fließendes Wasser habt ihr auch und aus euren Wasserhähnen kommt bereits warmes und kaltes Wasser. Das alles wurde von unseren Wissenschaftlern meines Wissens nach noch nicht bestätigt. Dass ihr dermaßen fortschrittlich seid, hätte ich deshalb niemals vermutet. Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es garantiert nicht glauben.
Außerdem scheint ihr unermesslich reich zu sein, aber auch dieser Reichtum ist längst verloren gegangen, denn in meiner Zeit ist Ägypten ein außerordentlich armes Land, das versucht, von den Artefakten und von seiner früheren Kultur zu profitieren. Dafür werden Gräber ausgehoben und Mumien ausgestellt. Alles aus dieser Zeit hier und aus der Zeit davor betrachtet man als einzigartige Schätze, die Touristen in das Land locken.
Ach ja, du kannst ja gar nicht wissen, was Touristen sind. Das sind Besucher aus aller Welt, die in fremde Länder reisen, um sich dort die Natur, die Kultur und die Lebensweise der Menschen anzuschauen. Aufgrund seiner uralten Kultur und der Mystik des alten Reiches übt Ägypten eine unglaubliche Anziehungskraft auf Touristen aus.“
Neferafin lächelte, bevor sie erwiderte: „Nein, ich habe mich vorhin nicht versprochen. Bei den Pyramiden gibt es keine Sphinx, sondern nur den Wächter der Familie, den Skarabäus. Bei der Sphinx handelt es sich um ein Wesen, das sich nur mit mächtiger Magie erschaffen und zum Leben erwecken lässt, und das man ausschließlich mit ebenso kraftvoller Magie vernichten kann.
Es heißt, dass nur die beiden Rubine mit dem Vogel dazu in der Lage sind, aber es gibt so unendlich viele uralte Geschichten, dass keiner mehr weiß, welche davon wahr sind und welche nicht. Eines würde ich jetzt aber gern von dir wissen. Was ist Alexandria?“
Als Neferafin sie fragend anschaute, erklärte Raffine es ihr in möglichst kurzen Worten, denn eigentlich wollte sie gar nicht reden, sondern viel lieber ausnahmslos alles über das Alte Ägypten hören. Aber es stimmte natürlich.
Alexandria gab es zu dieser Zeit ja noch nicht, weil es erst viel später erbaut werden würde.
„Neferafin, über Alexandria kann ich dir während unserer Fahrt auf dem Nil noch mehr erzählen. Diese Metropole haben die Römer nämlich erst lange nach deiner Zeit erbaut. Wenn ich mich nicht irre, war das ungefähr im Jahr 300. Jetzt steht dort noch die einfache Siedlung Rhaktotis, die wahrscheinlich auch schon in eurer Zeit eine Hafenstadt ist. Über die nicht vorhandene Sphinx und den Skarabäus möchte ich aber unbedingt noch mehr wissen.“
Mit einem aufmunternden Zwinkern bat sie Neferafin, ihr noch mehr zu erzählen, was ihr gleichzeitig die Gelegenheit bot, das köstliche Essen zu genießen und dabei das gesamte neue Wissen wie ein Schwamm aufzusaugen.
„Alles, was du mir aus der Sicht deiner Zeit erklärt hast, finde ich wahnsinnig interessant, aber zumindest in einem Punkt kann ich dich beruhigen. Mit hundertprozentiger Sicherheit ist in deinem Alexandria nicht alles verbrannt, weil unsere Vorfahren bereits lange vor unserer Zeit einen Großteil der Schätze versteckt hatten, unter anderem auch zahllose alte Papyrusrollen und Schriften.
Ich weiß zwar nicht genau, ob man unsere geheimen Verstecke später vielleicht doch entdeckt hat, aber das kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor, weil sie bestmöglich geschützt waren. Deshalb bereitet es ja selbst uns oftmals Schwierigkeiten, sie zu finden.
Über die Sphinx kann ich dir leider nicht viel mehr berichten, weil ich auch keine weiteren Einzelheiten kenne. Offensichtlich hat man sie erst nach meiner Zeit erschaffen und eine lebende Sphinx habe ich noch nie gesehen. Auch du wirst mir wohl noch eine ganze Menge Fragen beantworten müssen. Lass uns jetzt aber erst noch einmal auf unser eigentliches Thema zurückkommen!
Vor einiger Zeit schickte meine Schwester mir einen Boten mit einer schrecklichen Nachricht. Neben unseren zahlreichen anderen Schätzen besitzen wir einen magischen Familienschatz, der unsere Macht aufrechterhält. Wenn dieser Schatz in die falschen Hände oder sogar in die Hände unserer Feinde gelangt, ist unsere Herrschaft vorbei. Falls es in unserer Blutlinie eines Tages, was wir natürlich nicht hoffen wollen, einmal keine Nachkommen mehr geben sollte, zerfällt dieser Schatz zu Asche.
Zum Glück weiß ich momentan genau, dass dieser Schatz noch existiert, weil du als eine unserer Nachfahrinnen hier bei mir bist. Und bisher scheint auch noch keiner den Schatz gefunden zu haben, weil du in deiner Zeit sonst schon längst etwas darüber gehört hättest.
Du kannst mir ruhig glauben, dass eine so sensationelle Entdeckung schnell in aller Munde wäre. Demzufolge muss etwas Außergewöhnliches passiert sein, das zum Aussterben unserer Kultur in ihrer jetzigen Form geführt hat. Allzu schlimm kann es aber glücklicherweise doch nicht gewesen sein, weil unsere Familie ansonsten die Magie eingesetzt hätte, um das Land zu retten.
Dies führt uns zurück zu unserem magischen Schatz der Steine. Solange wir diesen besitzen, sind wir dazu in der Lage, wieder über das gesamte Ägypten zu herrschen und gemeinsam mit unserem Volk im Wohlstand zu leben.
Bedauerlicherweise wurden wir aber geschwächt, als die Hyksos unser Land überfallen haben und als uns von ihnen im Anschluss daran auch noch ein Teil unseres magischen Schatzes gestohlen wurde.“
Raffine verdrehte die Augen, weil sie jetzt irgendwie gar nichts mehr verstand. Das alles war eindeutig zu verwirrend. Mittlerweile konnte sie Neferafin nur noch mit Mühe folgen.
Als Neferafin dies bemerkte, musste sie über die unzähligen Fragezeichen in Raffines Augen schmunzeln.
„Dass das alles für dich jetzt etwas verworren klingt und dass es nicht leicht zu begreifen ist, hatte ich schon vermutet. Deshalb versuche ich, es dir noch einmal ganz in Ruhe zu erklären.
In der Überlieferung heißt es, dass der Schatz ursprünglich, also am Ausgangspunkt unserer Dynastie, aus zehn Steinen bestand. Diese setzten sich aus
4 Rubinen,
2 Smaragden,
2 Saphiren und
2 Diamanten zusammen.
Zwei der Rubine sollen damals als Augen in einen goldenen Vogel eingesetzt worden sein, der den Ursprung unserer Familiengeschichte erklärt oder, besser gesagt, der zu Beginn unserer Familiengeschichte eine wichtige Rolle gespielt hat. Deshalb gelten diese beiden Rubine als etwas ganz Besonderes.
Den verschiedenen Farben kommt ebenfalls eine entscheidende Bedeutung zu, wobei die Farbe Rot hoch über allen anderen steht. In der Überlieferung heißt es nämlich, diese beiden angeblich verschwundenen Rubine würden eine einzigartige Macht und Magie in sich tragen und unsere Familie und unser Reich dadurch vor dem Untergang schützen. Sie sollen noch wesentlich mächtiger sein als die restlichen acht Edelsteine.
Damit man mit ihm kein Unwesen treiben kann, wurde der sagenumwobene goldene Vogel nach seiner Erschaffung in ein nahezu unauffindbares Versteck gebracht.
Der hauptsächliche Grund für diese Maßnahme besteht aber darin, dass man mit der Macht der beiden Rubine nicht nur Gutes tun, sondern auch Schaden anrichten kann. Wo der Vogel mit den mythischen Rubinen versteckt ist, weiß ich nicht. Angeblich wird er sich aber zeigen, sobald sich unser Reich in so großer Gefahr befindet, dass nur er es noch retten kann. All dies wird in einer langen Geschichte beschrieben.
Leider kann ich dir nicht alles darüber erzählen, weil es keinerlei Aufzeichnungen gibt. Deshalb wurde diese Geschichte einfach von jeder Generation an die nächste weitergegeben. Ob es sich hierbei nur um eine Legende oder um die Wahrheit handelt, kann ich dir leider auch nicht genau sagen. Als wir noch Kinder waren, haben unsere Eltern sie uns nur ein einziges Mal erzählt. Bedauerlicherweise ist unsere Erinnerung daran im Laufe der Jahre aber mehr und mehr verblasst. Weil wir unsere Eltern schon sehr früh verloren haben, hatten wir auch keine Gelegenheit mehr, sie noch einmal danach zu fragen.
Jedenfalls wurde der Vogel bisher nie gefunden und es gibt auch keinen Beweis dafür, dass er tatsächlich existiert. Demzufolge bleibt uns nichts als die mündliche Überlieferung. Eines wissen Arafine und ich aber ohne jeden Zweifel. Nachweislich beinhaltet dieser magische Schatz die folgenden acht Steine:
2 Rubine als Symbole für die Farbe Rot, die unseren Familienmitgliedern gewidmet sind,
2 Smaragde als Symbole für die Farbe Grün, die den Kobras gewidmet wurden,
2 Saphire als Symbole für die Farbe Blau, die den Skarabäen gewidmet sind, und
2 Diamanten, die sämtliche Farben in sich tragen und die als Symbole für die Wahrheit gelten.
Wenn man sie für diesen Zweck verwendet, leuchten die Farben auf und spiegeln die reine Wahrheit wider. Genau so habe ich es bei dir erlebt, als ich dich in strahlendem Rot gesehen habe. Darauf komme ich aber später noch einmal zurück.
Solange wir denken können, befanden sich diese acht Steine immer an dem für sie vorgesehenen Platz.
Vier Steine, jeweils einer von jeder Art, sind in einen Skarabäus und die restlichen vier Steine in eine Kobra eingefasst. Den Skarabäus hast du ja schon gesehen. Die Kobra besitzt meine Schwester.
Beide Tiere symbolisieren und beschützen unsere Familie und haben für uns eine ganz spezielle Bedeutung.
Seitdem der Rubin aus der Schlange gestohlen wurde, ist die Kraft der doppelten Königskombination geschwächt. Wie es den Hyksos gelungen ist, diesen Stein unbemerkt zu entfernen, weiß ich leider nicht. Eigentlich sind die Steine nämlich so fest eingefasst, dass es unmöglich sein müsste, sie einzeln zu entnehmen.
Dieser Diebstahl ermöglichte es unseren Feinden, in diesem Fall den Hyksos, Unterägypten, das Reich meiner Schwester, außerhalb des Nil-Deltas zu erobern. Deshalb blieb uns nichts anderes übrig, als wenigstens eine der beiden Königskombinationen der Steine in Sicherheit zu bringen und zu hoffen, dass sich die Prophezeiung erfüllt, die auf meinem Thron geschrieben steht.
Die Königskombination, die wir von hier fortbringen mussten, um sie zu schützen, war meine, die noch über ihre gesamte Kraft verfügt und die den Rubin beinhaltet, der dazu dient, unsere Nachfahren zu finden. Seit dem Moment, in dem sie in Sicherheit gebracht wurde, rieselt der Sand durch die Sanduhr. Bis zu dem Augenblick, in dem diese abgelaufen sein wird, sind unsere Grenzen geschützt, aber danach öffnet sich sofort das magische Tor der Grenze und dadurch kann Oberägypten ebenfalls eingenommen werden.
Solange meine Schwester noch drei der Steine besitzt, die Unterägypten schützen, sind die Hyksos nicht dazu in der Lage, das gesamte Land zu erobern. Ausschließlich aus diesem Grund ist es ihnen bis jetzt nur gelungen, die Hauptstadt Memphis und einige kleinere Orte in ihrer Umgebung zu besetzen, also grob gesagt, das Nil-Delta. Das heißt, dass noch nicht alles verloren ist.
Momentan befindet sich der Rubin in den Händen von Anartura, der sich selbst zum König der Hyksos gekrönt hat. Solange sich daran nichts ändert, wird Anartura von einem Teil unserer Magie geschützt, was es ihm ermöglicht, seine Macht zu festigen und seinen Reichtum weiter zu vermehren. Da der Rubin das Symbol unserer Familie darstellt, verleiht ihm die Magie gleichzeitig die Fähigkeit, fremde Wesen zu erschaffen und uns damit zu schwächen.
Für uns gibt es jetzt nur noch einen einzigen Weg, die verloren gegangenen Steine zurückzubekommen. Die Grundvoraussetzungen dafür bestehen darin, dass drei Frauen aus unserer direkten Blutlinie beteiligt sind und dass sich noch mindestens 55 Prozent der Gesamtzahl der Steine in unserem Besitz befinden.
Weil wir aber nur zwei Schwestern sind, fehlte uns noch ein weiterer weiblicher Nachkomme, der über eine besondere Begabung und über eine außergewöhnliche Stärke verfügt. Nur gemeinsam mit einer unserer Nachfahrinnen mit diesen speziellen Eigenschaften können wir den Skarabäus finden. Dazu muss diese Nachfahrin natürlich mit uns im Land der Ägypter sein.
Bisher habe ich den magischen Skarabäus sechsmal ausgesandt. Insgesamt wäre es nur achtmal hintereinander möglich. So steht es auf dem Thron geschrieben. Eine dermaßen bedrohliche Situation hat es im Laufe unserer Familiengeschichte noch nie zuvor gegeben, weshalb keine von uns eine genaue Vorstellung davon hat, wie wir uns verhalten sollen und müssen.“
„Woher wusstest du eigentlich, dass ich in Ägypten bin?“ Mittlerweile war Raffine völlig fasziniert.
„Auch wir können durch die Zeit reisen. Dabei sind wir aber für alle anderen unsichtbar, weil wir als Schattengestalten reisen. Außerdem gibt es für uns mehrere Einschränkungen. Unter anderem dürfen wir pro Tag nur maximal zwei Stunden lang an dem betreffenden Ort erscheinen. In meinem Fall handelt es sich bei diesem Ort um Theben, wo ich bisher uneingeschränkt geherrscht habe. Hier ist mein Kraftfeld, das bis zum Tal der Gräber reicht, am stärksten. Darüber hinaus sind Zeitreisen für mich unmöglich, weil mich das Kraftfeld an weiter entfernten Orten verlässt.
Zu den zusätzlichen Bedingungen gehört es, dass ich nur reisen darf, wenn unsere Blutlinie in Gefahr ist. Über meine maximale Kraft verfüge ich in der Tempelanlage des Karnak, an deren Errichtung unsere Vorfahren von Anfang an beteiligt waren und die von Magie durchdrungen ist. Die Bauarbeiten wurden in der 12. Dynastie in Angriff genommen. Inzwischen besteht die gesamte Anlage aus dem Tempel, einem imposanten Palast, einem weitläufigen Garten und einer Säulenhalle, auf deren Säulen zahlreiche Geschichten und detaillierte Beschreibungen unseres Lebens verewigt wurden. Bis heute vergrößert und verschönert man diese Tempelanlage fortlaufend.“
Während Raffine ihrer Ahnin aufmerksam zuhörte, breitete sich auf ihrem gesamten Körper eine Gänsehaut aus. Sie hing förmlich an Neferafins Lippen und konnte einfach nicht genug bekommen.
„Dann gibt es also tatsächlich echte Magie und vieles von dem, was sich wissenschaftlich nicht nachweisen lässt, entspricht der Wahrheit.“
Nachdem sie zustimmend genickt hatte, fuhr Neferafin lächelnd fort.
„Ja, die Magie und zahlreiche andere Dinge, die du bis jetzt vielleicht noch nicht als real betrachten konntest oder wolltest, existieren ohne den geringsten Zweifel. Ganz sicher wirst du staunen, wenn du mit deinen eigenen Augen siehst, wie unsagbar mächtig die Magie sein kann. Darüber wirst du schon sehr bald mehr erfahren.“
„Wohl auch auf unserer Fahrt auf dem Nil?“ Diese kleine Spitze konnte sich Raffine beim besten Willen nicht verkneifen.
„Nein, erst etwas später, genauer gesagt, wenn wir bei meiner Schwester Arafine sein werden. Während der Fahrt muss ich dich nämlich auf den Kampf vorbereiten.“
„Auf welchen Kampf denn? Ich habe garantiert nicht vor, mein Leben hier in einer längst vergangenen Zeit zu beenden. Mir wäre es schon wichtig, unbeschadet wieder nach Hause zurückzukehren. Oder sollte ich vielleicht doch besser hierbleiben, falls wir den Frieden wiederherstellen können? Ach, mal sehen, diese Entscheidung kann ich ja auch später noch treffen. Zunächst möchte ich in jedem Fall erst einmal das Leben genießen. An euren Wein und an euer Essen könnte ich mich wirklich gewöhnen“, gestand Raffine mit einem verschmitzten Lächeln, das Neferafin aber kaum wahrzunehmen schien. Ihr standen die Sorgen förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Raffine, du musst mir bitte auch weiterhin aufmerksam zuhören, denn das, was ich dir zu sagen habe, ist unendlich wichtig. Du hast mich gefragt, woher ich wusste, dass du meine Nachfahrin bist? Das kann ich dir leicht erklären. Jede unserer Nachfahrinnen hat eine ganz bestimmte, einzigartige Aura – auch du. Deinen Körper umgibt ein rot leuchtendes Licht, das aber auch für uns nur sichtbar wird, wenn wir die Steine als Hilfsmittel einsetzen. Tag für Tag habe ich danach Ausschau gehalten und die Hoffnung nie aufgegeben, bis dieser glutrote Schimmer endlich erschien. Danach habe ich gewartet, bis du am Granit des Skarabäus angekommen warst. Dort ließ ich die Nachricht für dich fallen und hoffte, dass du sie finden und mitnehmen würdest.“
Bei dieser Erklärung ging Raffine ein Licht auf: „Ja, genau, dort habe ich den kleinen Skarabäus gefunden. Das stimmt. Ich fand ihn zwar ein bisschen seltsam, aber irgendwie auch faszinierend. Natürlich war ich der Meinung, ein Tourist hätte ihn verloren.
Sind die Steine eigentlich echt? Ich dachte nämlich, es wären nur besonders gut gelungene Imitationen. Apropos, in deiner Schattengestalt konntest du doch sicher auch die anderen Touristen sehen?“
Schmunzelnd fuhr Neferafin fort: „Ja, die Steine sind tatsächlich echt. Was deine nächste Frage angeht, muss ich dich aber enttäuschen. Leider konnte ich außer dir niemanden erkennen. Wenn ich mich in einer anderen Zeit aufhalte, darf ich von dieser Zeit nämlich nichts sehen. Das ist ein Teil der magischen Gesetze. Ihr dürft in die Vergangenheit reisen, aber für uns ist es verboten, die Zukunft deutlich wahrzunehmen. Deshalb sah der Tempel für mich genauso aus wie in der jetzigen Zeit und die Menschen blieben für mich unsichtbar.
Die einzige Ausnahme gilt für die direkten Nachfahren unserer Blutlinie und das ist der Grund dafür, dass ich nur dich ganz allein sehen konnte. Damit war der erste Schritt getan. In der Hoffnung, dass du sie finden und aufheben würdest, legte ich die Schatulle auf die Widder-Allee. Mehr konnte ich nicht tun, aber zum Glück hat mein Plan funktioniert. Es hat nur leider noch ziemlich lange gedauert, bist du endlich das Portal geöffnet hast.“
„Sorry! Wenn du eine Gebrauchsanleitung dazugelegt hättest, wäre es wahrscheinlich schneller gegangen. Bisher hatte ich ja nun wirklich noch keine Erfahrung mit Portalen, die geöffnet werden müssen.“
Nach dieser Bemerkung musste Raffine laut lachen. Eine Frage beschäftigte sie aber ganz besonders: „Warum kann ich die Arbeiter und die anderen Leute hier eigentlich überhaupt nicht verstehen, aber dich schon? Unsere Sprache kannst du doch unmöglich kennen und eure Sprache wird schon seit Jahrtausenden nicht mehr verwendet.“
„Unsere Sprache wird nicht mehr gesprochen? Das wäre ja furchtbar schade und ich kann es kaum glauben. Wie konnte das denn passieren? Wenn es so ist, macht mich das sehr traurig, aber dann muss ich erst recht versuchen, dir so viel Wissen wie nur möglich mit auf den Weg zu geben. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob es mit oder ohne Magie geschieht. Ich möchte einfach nicht, dass etwas so Wunderbares in Vergessenheit gerät.“
Neferafins trauriger Blick zeigte Raffine nur allzu deutlich, wie tief sie diese Nachricht getroffen hatte.
„Was die Verständigung angeht, verhält es sich im Grunde ganz einfach. Was du eben gesagt hast, ist vollkommen richtig, und auch du wirst unsere Sprache sprechen und verstehen. Wo ist eigentlich dein Skarabäus? Nimm ihn bitte mit und folge mir, damit wir ihn austauschen können! Gleich gebe ich dir dafür einen anderen und den hier werde ich wieder sicher verwahren.“
Bevor sie gemeinsam aufbrachen, schnappte sich Raffine noch schnell ein Stück von dem Hühnchen. Oder war es vielleicht doch Kalbfleisch? Obwohl sie es nicht genau einordnen konnte, war es unheimlich lecker.
Kurz darauf lief sie Neferafin mit schnellen Schritten hinterher. Ihr Weg führte durch mehrere Gänge, durch dunkle Räume und durch eine Wand, bis sie sich in einem unterirdischen Gang befanden. Um diesen zu erleuchten, waren an den mit kunstvollen Hieroglyphen versehenen Wänden in regelmäßigen Abständen Fackeln angebracht worden.
Diese einzigartige Kunst stellt ein unschätzbares Vermächtnis dar
, stellte Raffine tief in Gedanken fest. Am liebsten wäre sie einfach stehen geblieben, um alles in Ruhe zu betrachten, und um es in sich aufzunehmen.
„Kommst du?“ Mittlerweile wirkte Neferafin ziemlich hektisch. „Wir müssen uns wirklich beeilen. Dieser Raum ist zwar ausschließlich unserer Familie vorbehalten und außer uns kennt ihn keiner, aber hier im Palast haben die Wände Augen und Ohren. Deshalb ist man ständig in Gefahr, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, dass hier jemals zuvor Verräter oder Spione ihr Unwesen getrieben haben. Trotzdem hat unser Vater uns ständig vor ihnen gewarnt und uns gebeten, keine einzige Sekunde lang zu vergessen, immer extrem vorsichtig zu sein.“
Ja, das kommt mir bekannt vor. Es stimmt also wirklich, wenn man sagt, dass das Leben im Alten Ägypten ziemlich gefährlich war. Wenigstens bewahrheitet sich damit eine der unzähligen Theorien
, ging es Raffine durch den Kopf.
Weil sie sich mittlerweile an das schwache Licht gewöhnt hatte, konnte sie Neferafin jetzt schneller folgen. Am Ende des Ganges trafen sie auf eine Wand, die mit dem Bild einer riesigen Schlange verziert war, welche sich um acht Blüten herum schlängelte. In der Mitte der Blüten saßen zwei Skarabäen, die so täuschend echt wirkten, als ob sie jeden Moment an der Wand herunter krabbeln würden.
Aus ihrem Gewand heraus brachte Neferafin zwei Skarabäen zum Vorschein, die sich nur durch die Art der in sie eingearbeiteten Steine von dem Käfer unterschieden, den Raffine vor langer Zeit gefunden hatte. Dieser wies nämlich die Königskombination der Steine auf, während die beiden Exemplare, die Neferafin in ihrer Hand hielt, auf ihrem Rücken mit Saphiren geschmückt waren.
Lächelnd erklärte Neferafin: „Jedes Kind, das in unserer Familie geboren wird, erhält einen mit Saphiren versehenen, magischen Skarabäus. Dessen hauptsächliche Aufgabe besteht darin, seinen jeweiligen Besitzer zu beschützen. Zusätzlich verfügt er über wunderbare Eigenschaften, die den Körper und die Seele beruhigen und heilen können.
Einst gab es sechs dieser Skarabäen, die in jeder Generation von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben wurden. Jetzt sind nur noch drei davon übrig. Zwei befinden sich in meinem Besitz und einer gehört meiner Schwester. Sobald mindestens drei dieser Skarabäen vereint sind, wird eine unvorstellbare Macht freigesetzt, die weit über die herkömmliche Magie hinausgeht. Zumindest steht es so geschrieben.
Angeblich wurden die Skarabäen von demjenigen, der sie für uns erschaffen hat, mit einem mächtigen Zauber belegt. Dieser soll sich entfalten, wenn die Familie oder das Reich in Gefahr sind. Weiterhin heißt es, dass das Reich nur durch drei Skarabäen gerettet werden kann.
Demzufolge müssen sich drei Familienmitglieder gleichzeitig in das Reich des Skarabäus begeben. Wo sich dieses genau befindet, weiß keiner von uns ganz genau. Glücklicherweise war es bisher noch nie erforderlich, die Legende beim Wort zu nehmen, und wir haben auch nicht erfahren, wo wir suchen müssen.
Einer so großen Gefahr standen wir noch niemals zuvor gegenüber. Da ich für alles offen bin, spüre ich überdeutlich, dass um uns herum wesentlich mehr existiert, als wir es uns vorstellen können. In diesem Fall befürchte ich aber trotz allem, dass es sich nur um eine Geschichte handelt, die man erfunden hat, um sie den Kindern zu erzählen. Was auch immer, für alle Fälle werden wir die Skarabäen mit auf unsere Reise nehmen.
Vielleicht müssen wir eines Tages ja doch das Reich der Skarabäen suchen, das sich gemäß der Überlieferung im Nil-Delta befinden soll. Dazu könnte uns Sito vielleicht noch nähere Informationen verschaffen. Zumindest hoffe ich, dass er etwas darüber weiß. Wenn nicht, sollten wir wohl Benu befragen. Aber das werden wir dann schon sehen.
Bitte frage mich jetzt nicht, wer diese beiden sind! Du wirst sie nämlich schon bald persönlich kennenlernen.“
Nach diesen Worten lächelte sie Raffine wieder vielsagend an.
Raffine ahnte Schlimmes: „Möchtest du mich jetzt etwa darauf vorbereiten, dass wir nicht nur zu deiner Schwester reisen, sondern ziellos durch die Gegend ziehen werden, um nach dem Land der Krabbeltierchen zu suchen, von dem keiner genau weiß, ob es überhaupt existiert?“
Sofort versuchte Neferafin, Raffine zu beruhigen: „Ja, wir werden wohl keine andere Wahl haben, aber das wollte ich dir eigentlich schonender beibringen und es war nie meine Absicht, dich damit hier in diesem geheimen Gang einfach so nebenbei zu konfrontieren. Bitte sei mir nicht böse! Später reden wir noch einmal ganz in Ruhe darüber. Jetzt lass uns erst einmal die Magie freisetzen!“
Damit gab sie Raffine den zweiten Saphir-Skarabäus und die entsprechenden Anweisungen: „Stecke seine Rückseite auf den linken Skarabäus in der Wand, während ich dasselbe mit dem rechten Skarabäus tue!“
Gesagt, getan. Sobald beide ihren Skarabäus in der Wand platziert hatten, erwachte die Wand wie von Zauberhand zum Leben. Die Schlange zischte und formte sich zu einem Kreis, die Skarabäen schienen zu tanzen und die acht Blüten erstrahlten so hell und prachtvoll, als ob sie im Sonnenlicht draußen auf einem Feld stehen würden.
Gleichzeitig schob sich die Wand nach oben, wo sie sich im Nichts aufzulösen schien. Raffine stockte der Atem, als sich vor ihren Augen ein Raum öffnete, der nicht größer war als das Häuschen an einer Bushaltestelle. Darin stand ein riesiger Skarabäus, der verblüffend lebendig wirkte. Beim genaueren Hinsehen stellte Raffine aber fest, dass dieser aus Granit bestand.
„Ich könnte schwören, dass haargenau dieser Skarabäus am Karnak-Tempel stand“, flüsterte sie ehrfürchtig.
Schmunzelnd erklärte ihr Neferafin: „Wir befinden uns gerade inmitten des Tempels. Das heißt, du bist auf dem Gelände von Karnak. Kamen dir die Anlage, der Palast, der Tempel und seine Umgebung nicht bekannt vor? Ich dachte, das wäre dir vorhin schon klar gewesen, als wir uns über diese Anlage hier unterhalten haben.“
Raffine schüttelte den Kopf: „Nein, in der Zeit, aus der ich komme, sieht alles irgendwie ganz anders aus. Natürlich sind die hohen Säulen noch vorhanden und während der Ausgrabungen wurde ein Teil des Tempels freigelegt, aber die Widder-Allee ist völlig anders ausgerichtet und der komplette Aufbau hat sich vollkommen verändert. Deshalb wäre ich nie im Leben auf die Idee gekommen, dass wir uns dort befinden.
Das alles ist wirklich der Wahnsinn. Jetzt bin ich zum zweiten Mal an diesem Ort und diesmal unterscheidet er sich in so vielen Punkten von dem, den ich beim ersten Mal gesehen habe. Mit dem, was in meiner Zeit davon übrig geblieben ist, lässt sich diese Anlage unmöglich vergleichen.“
Auf einmal wirkte Neferafin sehr nachdenklich: „Trotzdem freut es mich sehr, dass nicht alles verloren gegangen ist. Wir betrachten unsere Bauten und unsere gesamte Architektur nämlich als Heiligtümer und als Zeichen der Macht und des Reichtums. Wie dieser Ort in deiner Zeit aussehen mag, kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen.
Dass sich über einen so langen Zeitraum hinweg sehr vieles verändert hat, ist natürlich nachvollziehbar. Immerhin liegen mehrere Jahrtausende zwischen dem Hier und Jetzt und deiner Zeit. Also sollten wir uns eigentlich glücklich schätzen, weil zumindest einige Bruchstücke unserer Architektur diese lange Zeit überdauert haben.
Später musst du mir unbedingt noch mehr von deiner Zeit erzählen und genau beschreiben, was von dieser Anlage übrig geblieben ist. Jetzt sollten wir uns aber wirklich beeilen.“
Nachdem sie auf die imposante Statue zugegangen waren, begann das Steckspiel mit den Käfern noch einmal von vorn. Diesmal hielt Neferafin Raffines Hand, während ihre anderen beiden Hände den jeweiligen Skarabäus berührten. Dadurch entstand das Bild eines geschlossenen Kreises.
„Ja mal rar en tut je marakent di lau rar.“
Ununterbrochen wiederholte Neferafin diesen einen Satz und sie bat Raffine, ihn gemeinsam mit ihr laut auszusprechen und nicht damit aufzuhören, bis sich um die Statue herum ein roter Schimmer zeigen würde. Nachdem sich Raffine den magischen Satz mehrmals aufmerksam angehört hatte, begann sie, ihn nachzusprechen.
„Ja mal rar en tut je marakent di lau rar.“
„Ja mal rar en tut je marakent di lau rar.“
„Ja mal rar en tut je marakent di lau rar.“
Wie von selbst wurden ihre Stimmen lauter und lauter. Jedes Mal, wenn sie dieselbe Silbe aussprachen, klang es inzwischen, als ob nur eine einzige Person sprechen würde. Urplötzlich breitete sich in dem Raum ein eigenartiger roter Nebel aus, der sich um die beiden Frauen herum nach oben schlängelte, bis er sie mit seinem betörenden, süßlichen Geruch umhüllte.
Allmählich befürchtete Raffine, ihren Verstand zu verlieren. Wie in Trance meinte sie, über dem Boden zu schweben, während etwas Unerklärliches in ihrem Inneren sie dazu zwang, es widerstandslos zuzulassen. Nicht einmal in ihren seltsamsten Träumen hätte Raffine es jemals für möglich gehalten, eine so überwältigende Magie spüren zu können, die den gesamten Raum auszufüllen schien. Erstaunlicherweise hatte sie dabei überhaupt keine Angst. Stattdessen fühlte sie sich beschützt und wunderbar geborgen.
Als das helle, rote Licht begann, sich um die Statue herumzuwinden, wurde Raffine in wohltuende Wärme gehüllt. Vor ihren Augen erschienen tanzende Hieroglyphen, Steine und Tiere.
Ganz langsam senkte Neferafin ihre Stimme, bis sie vollständig verstummte. Das Verschwinden des roten Lichtscheins empfand Raffine als ein eiskaltes Erwachen aus dem allerschönsten Traum, den sie jemals geträumt hatte. Zurück blieben nur der süßliche Geruch und ein Hauch von Blütenduft in ihrer Nase.
„War das jetzt etwa schon alles? Was war das? Was ist mit uns passiert? Ich spüre gar nichts mehr. Irgendetwas ist eben total schiefgegangen.“
Völlig aufgelöst ergriff Raffine Neferafins Schultern, um sie zu schütteln.
„Bitte versuche, dich zu beruhigen! Wenn wir wieder oben im Palast sind, wirst du die Veränderung ganz sicher wahrnehmen.“
Gemeinsam verließen sie den Raum. Von dem unterirdischen Gang aus verschlossen sie die Wand, bevor sie sich wieder nach oben begaben.
Obwohl sie so aufgeregt und so gespannt war wie noch nie zuvor in ihrem Leben, bemerkte Raffine zunächst nichts das Geringste. Als sie in den Thronsaal zurückkehrten, fiel es Raffine nur auf, dass neue Speisen aufgetragen worden waren.
Eine der Dienerinnen kam auf Raffine zu: „Darf ich dir noch Wein bringen?“
„Ja, danke, sehr gern, aber bitte ein Glas von dem lieblichen Wein!“
Raffine stutzte. Was war das denn schon wieder? Ich habe sie ebenso problemlos verstanden wie sie mich, und ich habe ihr ganz selbstverständlich geantwortet.
Neferafin lachte laut auf: „Genau das sollte das Ritual ja bewirken. Wir haben die Magie freigesetzt, damit du unsere Sprache verstehst und damit du sie sprechen kannst. Vor einiger Zeit habe ich allein schon einmal dasselbe getan, um deine Sprache verstehen zu können.“
Während sie ihr noch verschwörerisch zuzwinkerte, begann Raffine, sich zu überlegen, wie sie das alles zu Hause erzählen könnte, ohne dass man sie für vollkommen übergeschnappt halten würde.
„Ich würde vorschlagen, dass wir uns jetzt erst einmal gründlich ausschlafen. Die kommenden Tage werden gewiss sehr aufregend sein. Deshalb brauchen wir vorher unbedingt noch etwas Ruhe. Samiris und Nefru werden dich in deine Gemächer begleiten und gemeinsam mit den Kobras bei dir Wache halten.“
Zum Abschied nahm Neferafin Raffine in den Arm.
„Kobras? Lebendige Kobras? Das kannst du unmöglich ernst meinen. Die sind doch gefährlich. Und wenn sie mich beißen? Dann bin ich doch sofort tot. Das mache ich ganz sicher nicht mit. Diese Tiere lasse ich garantiert nicht in mein Schafzimmer, auf gar keinen Fall.“
Erstaunt und ein klein wenig belustigt sah Neferafin Raffine an: „Die Kobras symbolisieren unsere Familie und sind unsere Beschützer. Sie sind völlig zahm und du wirst sofort bemerken, dass sie dich respektieren. Du kannst sie sogar ohne Bedenken berühren und sie werden dir dein Leben lang treu ergeben sein. Ich kann dir mit gutem Gewissen versichern, dass diese Schlangen für uns absolut keine Gefahr darstellen.“
„Zahme Kobras, na klar! Und morgen früh bin ich tot.“
Jetzt musste Raffine doch lachen, weil sie diesen Spruch vor langer Zeit in einer Fernsehsendung gehört und ihn seitdem nicht mehr vergessen hatte. Im Grunde fand sie ihn völlig bescheuert, aber in diesem Moment passte er wie die Faust aufs Auge.
Wenig später lugte sie ängstlich unter ihrer Decke hervor, um die Schlangen zu mustern, die ihr direkt in die Augen schauten und Raffine das Gefühl vermittelten, dass sie ihr etwas sagen wollten.
„Na gut, sie scheinen ja wirklich nichts Böses im Schilde zu führen. Also warten wir erst einmal bis morgen. Gibt es hier eigentlich irgendwo Papier, damit ich die hunderttausend Fragen notieren kann, die ich jetzt noch habe?“
Am Ende dieses spektakulären Tages fielen ihr trotz allem allmählich die Augen zu. „Gute Nacht, alle zusammen“, murmelte sie noch ganz leise und schon war sie im Land der Träume angekommen.