Kapitel 3
Die Reise auf dem Nil
„Aufstehen, Kleines! Wie hast du geschlafen?“
Noch völlig schlaftrunken blinzelte Raffine unter ihrer Decke hervor: „Guten Morgen!“
Während sie versuchte, ihre Augen zu öffnen, um zu erkunden, wo Neferafin stand, schob sie ihre Bettdecke zur Seite. Irgendetwas lag an ihren Füßen.
„Bolle, weg da!“
Weil sie noch im Halbschlaf war, meinte sie, dass sie zu Hause wäre und dass ihr kleiner Mischling wieder einmal bei ihr im Bett liegen würde. Als sie genauer hinschaute, erstarrte sie vor Schreck.
„Neferafin, nimm die sofort weg von mir!! Los!! Schnell!!!“
Wegen des plötzlichen Lärms total erschrocken, richtete sich die Kobra kerzengerade auf und die beiden anderen Schlangen folgten ihrem Beispiel. Bei dem Bild, das sich ihr gerade bot, befürchtete Raffine beinahe, bei „Vorsicht, Kamera!“ gelandet zu sein. Ihr Blick schien die Kobras regelrecht zu durchbohren und die Schlangen schauten sie verstört an. Neferafin verschluckte sich fast vor Lachen.
„Ich habe dir doch erklärt, dass sie absolut zutraulich sind. Meiner Meinung nach sieht es ganz danach aus, dass sie dich tatsächlich mögen. Ansonsten wären sie nämlich nicht zu dir ins Bett gekrochen.“
An die Schlangen gewandt, sagte sie lächelnd: „Nun kommt schon! Jetzt habt ihr Raffine einen gewaltigen Schreck eingejagt. Bedauerlicherweise hat sie immer noch Angst vor euch. Also, kommt runter und ab zum Frühstück!“
Im Anschluss an diese liebevolle Aufforderung bedachte sie Raffine mit einem besorgten Blick: „Wir müssen uns auch beeilen. Unser Frühstück steht schon bereit und unser Gepäck ist auf die Boote verladen worden. So bald wie nur möglich brechen wir auf.“
„Ich dachte, wir würden noch eine Weile hierbleiben, weil ich doch noch längst nicht alles gesehen habe. Die Anlage möchte ich mir unbedingt noch genauer anschauen. Wenn wir noch ein halbes Jahr lang Zeit haben, werden doch zwei bis drei Tage keinen Unterschied machen. Oder? Und von welchem Gepäck sprichst du eigentlich? Ich habe doch nicht einmal frische Unterwäsche bei mir, geschweige denn Kleidung zum Wechseln.“
„Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Wir fahren mit zwei Booten, mit dem Versorgungsschiff und mit einem zweiten Boot, das der Dienerschaft und uns beiden genug Platz bietet. Für deine Kleidung habe ich schon gesorgt. Du brauchst also keine Angst davor zu haben, auf einmal nichts mehr zum Anziehen zu haben.“
Bei diesen Worten konnte sich Neferafin ihr Schmunzeln nicht verkneifen.
Als man Raffine anschließend in bildschöne, kostbare Gewänder gehüllt hatte und sie sich im Spiegel betrachtete, dachte sie: Was für ein Leben! Falls ich eines Tages im Lotto gewinnen sollte, werde ich mir garantiert auch Personal anschaffen.
Sie schlenderte zum Thronsaal, wo ein so reich gedeckter Tisch auf sie wartete, dass sie ihren Augen kaum trauen konnte. Gutes Essen gehörte für sie zu den angenehmsten Dingen des Lebens. Wenn sie im Ausland Urlaub machte, genoss sie es jedes Mal besonders, die einheimischen Gerichte zu probieren. Genau so war es auch hier. Vor ihr stand alles, was das Herz begehren konnte, – sogar Rührei, wie sie es von zu Hause kannte.
„Oh, Mann, was für ein Fest! Frühstückt ihr hier etwa an jedem Morgen so üppig? Wenn ja, will ich ganz sicher nie wieder von hier weg.“
Mit unverkennbarer Begeisterung widmete sie sich ausgiebig ihrem Frühstück. Selbst auf ihren heiß geliebten Kaffee musste sie nicht verzichten.
Da soll noch einmal jemand behaupten, dass es im Alten Ägypten noch lange nicht alles gegeben hätte!
„Sag mal, Neferafin, stimmt es eigentlich, dass ihr hier Sklaven haltet? Im Palast scheint es zumindest nicht so zu sein, weil alle so freundlich und nett sind.“
Erstaunt sah Neferafin zu ihr auf: „Ich weiß ja nicht, was man dir alles beigebracht hat, aber Sklaven kennt unser Volk nicht. In unseren Tempelanlagen, in den Palästen und auf den Feldern wirst du ausnahmslos Arbeiter finden, die für ihre Arbeit bezahlt werden. Auch für die Errichtung der Gräber erhalten die Arbeiter einen fairen Lohn. Nur ein zufriedener Arbeiter macht seine Sache gut. Oder hast du im Tal der Gräber etwa Sklaven gesehen?“
„Nein, das habe ich nicht, aber wie war das bei den Pyramiden? Wie hat man die eigentlich erbaut? Wurden dabei auch ganz normale Arbeiter eingesetzt?“
Mit einem leisen Seufzen begann Neferafin, ihre Fragen zu beantworten: „Ich befürchte, du hast ein vollkommen falsches Bild von unserer Zeit. Schon bald wirst du sehen, wie wir hier wirklich leben. Dann kannst du dir endlich ein eigenes Bild machen.
Im Augenblick haben wir gerade Winter. Das heißt, dass die Felder vom Wasser und vom Schlamm des Nils überschwemmt sind. Für den Ernteertrag ist das enorm wichtig, aber in dieser Jahreszeit kann niemand auf den Feldern arbeiten. Deshalb lassen wir die Arbeiter in diesen Monaten andere Aufgaben übernehmen, wie beispielsweise bei der Errichtung von Gebäuden und Grabstätten. Als du im Tal der Gräber gelandet bist, hast du dort einige von ihnen gesehen, die gerade mein Grab fertigstellen. Dabei müssen sie sehr tief in die Felsen eindringen, aber für diese harte Arbeit werden sie auch reichlich belohnt. Ich stelle ihnen und ihren Familien eine Unterkunft zur Verfügung, ich sorge für ihre Nahrung und ich zahle ihnen Golderbsen aus. Dabei handelt es sich übrigens um kleine Goldstücke mit einem exakt vorgegebenen Gewicht, die sie zum Handeln am Hafen brauchen.“
„Bei uns bezeichnet man das „Tal der Gräber“ als das „Tal der Könige“. Angeblich wurden dort nur Könige beigesetzt, weshalb sich die Grabstätten der Königinnen in einem anderen Tal befinden, das man zu deiner Zeit noch nicht genutzt hat. Momentan arbeiten die Archäologen am Grab von Tutenchamun, der lange nach dir lebte. Ich glaube, er stammt aus der 18. Dynastie, ungefähr um das Jahr 1330 herum. Als er starb, war er noch sehr jung. Deshalb hat man für ihn zunächst ein provisorisches Grab errichtet. Jetzt vermuten die Archäologen, dass sich hinter diesem noch ein weiteres Grab befindet. Wenn das Tal im Laufe der Zeit nicht komplett verschüttet worden wäre, hätte man dieses Grab wahrscheinlich nie entdeckt.“
Mittlerweile redete Raffine wie ein Wasserfall, um ihr gesamtes Wissen über die Gräber mit Neferafin zu teilen, die ihr äußerst interessiert zuhörte und dabei schmunzelte.
„Was du da gerade erzählst, klingt überaus faszinierend, aber leider ist vieles davon nur erfunden oder es beruht auf den falschen Annahmen eurer Wissenschaftler. Bisher wurden unsere Gräber jedenfalls noch nie getrennt. Was die Generationen nach mir tun werden, kann ich jetzt natürlich noch nicht wissen. Es wäre aber sehr schade, wenn man die Gräber der Männer und Frauen beziehungsweise der Könige und Königinnen voneinander trennen würde. Selbst in den Bergen werden die höhergestellten Familienmitglieder bis heute gemeinsam begraben.
Jetzt musst du dich aber bitte beeilen. Die Boote warten schon auf uns und auch dort gibt es mehr als genug zu essen. Ich frage mich wirklich, wo du das alles lässt, was du in dich hinein schaufelst. So viel kann eine einzige Person doch unmöglich verarbeiten.“
Nachdem sie über ihre eigene Bemerkung gelacht hatte, fügte sie noch hinzu: „Genieße es ruhig, wenn es dir schmeckt! Deine Kleidung können wir später ja ändern lassen.“ Daraufhin musste Neferafin noch einmal laut und herzlich lachen, während Raffine ein wenig verlegen wirkte und sich endlich beeilte.
„Was für ein Anblick! Das sind ja gar keine Boote, sondern riesige Schiffe!“
Ehrfürchtig staunend stand Raffine am Ufer. Ihrer Schätzung nach musste jedes der beiden Boote ungefähr 50 Meter lang sein.
„Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Pool an Bord und wir könnten zu einer echten Luxus-Kreuzfahrt auf dem Nil aufbrechen. Das habe ich mir schon mein ganzes Leben lang gewünscht. Offensichtlich geht dieser Traum für mich wesentlich schneller in Erfüllung, als ich es jemals zu hoffen gewagt hätte. Und dann wird es auch noch eine unvergessliche Fahrt in der perfekten Zeit.“
„Was ist ein Pool?“, fragte Neferafin verunsichert.
Nun war Raffine diejenige, die lachte: „Wir verstehen uns ja wirklich prächtig. Wenn ich dir alles erklären würde, was du nicht kennst, und wenn du mir alles erzählen solltest, was ich nicht weiß, wären wir wochenlang beschäftigt.“
Während die Boote ablegten, machte sie Neferafin dann aber doch noch mit einigen Begriffen aus ihrer Zeit vertraut.
Für Raffine war die Fahrt auf dem Nil ein wahr gewordener Traum. Sie konnte gar nicht anders, als alles, was sie sah, mit großen Augen zu bestaunen. Nirgendwo entdeckte sie Ruinen, Verfall oder Armut. Stattdessen säumten endlose blühende Felder, auf denen sie freundliche Menschen erblickte, die Ufer des Flusses. Hinzu kamen beeindruckende Bauwerke, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Demzufolge waren diese Gebäude in ihrer Zeit wohl noch nicht ausgegraben worden. Am liebsten hätte sie sich für den Rest ihres Lebens in ihren Tagträumen verloren, als sie ein lauter Aufschrei urplötzlich in die Realität zurückholte: „Ihre Majestät, bitte, kommen Sie schnell!“
In heller Aufregung kam ein Arbeiter auf die beiden Frauen zugerannt. Dass er vor Angst zitterte, war nicht zu übersehen.
„Majestät, drei von unseren Schiffsjungen sind tot.“
„Tot? Wie konnte das passieren?“
Neferafin wirkte so ernst wie noch nie. Als sie den grünen Nebel erblickte, sprang sie augenblicklich auf.
„Daran ist der Biss schuld, der Biss der Grinaha und ihrer Jungen. Sie sind geschlüpft. Völlig unerwartet sind sie auf einmal geschlüpft und sie sind unglaublich stark.“
Blitzschnell lief er an den beiden Frauen vorbei, um sich in Sicherheit zu bringen. Überall auf dem Boot herrschte helle Aufregung. In diesem Moment konnte selbst Neferafin nicht mehr die Ruhe bewahren.
„Was ist ein oder eine Grinaha?“, fragte Raffine verunsichert.
„Raffine, bringe dich sofort in Sicherheit! Schnell!!“
Vollkommen überraschend griff Neferafin nach einer Waffe, die Raffine gänzlich unbekannt war. Auf den ersten Blick wies sie eine gewiss Ähnlichkeit mit einer Armbrust auf, aber sie wurde mit kleinen Kegeln betrieben.
In derselben Sekunde entdeckte Raffine eine furchterregende Gestalt, die etwa ein Viertel der Länge des Bootes einnahm und die sich wie eine Schlange vorwärtsbewegte. Sie hatte drei Köpfe und stieß mit ihrer langen, gespaltenen Zunge ein unangenehmes Zischen aus. Aus ihrem Maul ragten links und rechts acht spitze Zähne hervor. Auf ihrem Weg folgten ihr drei oder vier Junge.
„Was zum Teufel ist das?“, schrie Raffine in unverkennbarer Panik.
„Das ist eine Kreuzung zwischen einer Schlange und einem Drachen. Bring dich in Sicherheit, denn sie sprühen ein tödliches Gift aus, das dich augenblicklich lähmt! Lauf! Lauf!“, rief Neferafin ihr zu.
Inzwischen schaukelte das Boot ziemlich stark und Raffine wurde von panischer Angst ergriffen. Völlig aufgelöst kreischte sie: „Wo sind eure Waffen? WOOO?“
„Unter Deck, aber lass die Finger davon! Du weißt doch gar nicht, wie sie funktionieren.“
Diese Warnung ignorierend, spurtete Raffine los, um die Waffen oder zumindest das, was sie dafür hielt, zu suchen.
„Wo bewahrt ihr die Munition auf?“
„Die grünen Kegel liegen direkt daneben. Bitte, bring dich jetzt endlich in Sicherheit! Du kannst doch gar nicht damit umgehen.“
Während sich Neferafin in den Kampf stürzte, kletterte Raffine in den Schiffsrumpf herunter, um die Waffen und die Kegel zu holen.
Na, super! Die sehen ja aus wie Räucherkerzen. Mit denen soll man dieses Vieh erledigen können? Das klappt doch nie im Leben!
Über ihr erklangen die Schreie der verzweifelt Kämpfenden. Als Raffine zurück auf das Deck stürmte, sah es dort aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall war Blut und auf dem Boden lagen bereits mehrere Verletzte. Raffine blieb keine Zeit mehr, um erst noch lange darüber nachzudenken. Außerdem strömte auf einmal so viel Adrenalin durch ihre Blutbahnen, dass sie meinte, sie könnte ganze Bäume ausreißen. Ohne zu zögern, wollte sie einfach nur helfen und diese Biester endgültig aus dem Weg räumen.
„Euch werde ich es zeigen!“
Sie warf einen Blick auf Neferafin, um herauszufinden, wie sie ihre Waffe in Gang setzte, und schon legte sie los. Auf den gewaltigen Rückstoß dieser Waffen hatte sie allerdings niemand vorbereitet.
„Das wird mit Sicherheit ein blaues Auge“, murmelte sie, als sie nach hinten fiel.
Okay, hier kommt mein zweiter Versuch. Jetzt reicht es mir endgültig. Dass ich in diesem Land sterbe oder mit einem blauen Auge durch die Gegend reise, gehörte eindeutig nicht zu unserem Plan.
Inzwischen war sie nicht nur wütend, sondern stocksauer. Ihre Augen sprühten regelrecht Funken und ihr gesamtes Bestreben galt nur noch ihrem Vorhaben, diesem Spuk ein Ende zu bereiten.
„Ziele genau auf den Punkt zwischen den Augen! Dort befindet sich das Herz dieser Bestien. Du musst unbedingt exakt zielen und treffen. Verwende aber nur die grünen Kegel!“
Obwohl Neferafin so laut schrie, wie sie nur konnte, war es nicht zu überhören, dass sie schon längst am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Diese Biester ließen sich einfach nicht töten und wüteten auch weiterhin auf dem Boot. Dabei verteilten sie überall ihren grünen Schleim, der es ihren Feinden unmöglich machte, auf dem Deck zu stehen oder zu laufen, ohne darauf auszurutschen.
Ebenso wie Neferafin schossen alle Besatzungsmitglieder unermüdlich auf die Ungeheuer, aber es stellte eine nahezu unlösbare Aufgabe dar, die Grinaha genau zwischen ihren Augen zu treffen. Mit jedem Treffer, der die Bestien verletzte, wurden sie nur noch wütender und aggressiver.
Selbst ihre Jungen standen dem Kampfgeist ihrer Mutter in nichts nach. Überraschenderweise waren sie schon genauso gefährlich wie die ausgewachsene Grinaha und es schien, als würde sich der erbitterte Kampf noch endlos hinziehen.
Neferafin und Raffine taten ihr Bestes, um das Muttertier zu töten, während sich die Besatzung um die Jungen kümmerte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das erste Junge endlich getroffen war. Um ihm eine ernsthafte Verletzung zuzufügen, hatte eines der Besatzungsmitglieder einen Speer benutzt. Als das Junge anschließend für einen Moment vor Schreck erstarrte, nutze sein Angreifer die Gelegenheit, um es zu töten. Somit blieben nur noch drei Jungtiere übrig. Umgehend übernahm der Rest der Besatzung die Technik, die eben zu einem Erfolg geführt hatte.
Wie auf ein stummes Kommando griffen alle zu spitzen Waffen. Dabei spielte es nicht die geringste Rolle, ob gerade ein Speer, ein Dolch oder ein Schwert verfügbar war. Ihr einziges Ziel bestand darin, diese Wesen schwer genug zu verwunden, damit sie anschließend die Kegel abschießen konnten. Zum Glück erwies sich diese Technik als außerordentlich effektiv und es gelang ihnen tatsächlich, ein Jungtier nach dem anderen zu erlegen.
Natürlich gingen auch Neferafin und Raffine zu dieser Strategie über. Sie griffen einfach nach allem, was auf die Schnelle verfügbar war, und gaben sich alle Mühe, auch die ausgewachsene Grinaha zu treffen. Mit einem Schwert stach Raffine von links und Neferafin gleichzeitig von rechts auf die Grinaha ein.
Es schien ewig zu dauern, bis Raffine es endlich zustande brachte, die Grinaha so schwer zu verletzen, dass diese für ein paar Sekunden innehielt und in eine Schockstarre verfiel.
Diesen kurzen Augenblick nutze Neferafin, um mehrere Kegel abzuschießen und die Grinaha damit genau zwischen ihren Augen zu treffen. Da sie – wie alle anderen – schon außerordentlich geschwächt war, brachte aber erst der dritte Versuch den erhofften Erfolg.
Zu Tode erschöpft, mit zahlreichen Verletzungen und mit Tränen in den Augen, hatten sie es endlich geschafft. Alle fünf Bestien waren tot. Wie von Zauberhand verwandelten sich ihre leblosen Körper in grünen Rauch. Nur wenige Sekunden später schien es, als ob es sie nie gegeben hätte.
„Was war das denn?“
Mit völlig verweinten Augen und vor Schmerzen stöhnend, verlangte Raffine eine Erklärung.
„Die Grinaha sind Ungeheuer, die sich nur durch Magie erschaffen lassen.“
„Durch Magie? Kann denn bei euch jeder so einfach nach Lust und Laune mit Magie herumexperimentieren und solche Viecher heraufbeschwören?“
Tief in ihrem Inneren kochte Raffine vor Wut.
„Nein, so ist es ganz und gar nicht. Dazu ist einzig und allein derjenige fähig, der sich unsere Steine angeeignet hat. Dass sie grün waren, hat mir verraten, dass die Hyksos jetzt auch noch den Smaragd gestohlen haben. Also besitzen sie jetzt den Rubin und den Smaragd. Unsere Feinde wissen, dass wir diese Reise angetreten haben, und der Angriff durch die Grinaha war eine unmissverständliche Warnung.“
„Warnung? Das soll eine Warnung gewesen sein? Noch vor wenigen Minuten wären wir alle um ein Haar ums Leben gekommen. Was werden die denn wohl als Nächstes mit dem Saphir heraufbeschwören. Vielleicht einen blauen Gollum?“
Raffine wurde immer wütender und alles tat ihr weh. Bisher hatte sie noch nicht einmal feststellen können, wo sie eigentlich verletzt war.
„Ich habe zwar keine Ahnung, was ein Gollum ist, aber du hast nicht die geringste Vorstellung davon, was sie mit dem Saphir alles bewerkstelligen können. Wahrscheinlich ist es sogar besser, dass du das nicht weißt. Jetzt müssen wir aber erst einmal die Boote durchsuchen, um uns zu vergewissern, dass nicht noch mehr Eier der Grinaha auf unseren Schiffen versteckt sind. Außerdem wäre es durchaus möglich, dass sie uns schon einen Boten in der Gestalt von Maronostos gesandt haben. Deshalb müssen wir auch danach Ausschau halten. Wir werden an Land gehen, um alles genauestens unter die Lupe zu nehmen und um uns um die Verwundeten zu kümmern.“
Plötzlich schienen Raffines Schmerzen zunehmend stärker zu werden. Vorsichtig berührte sie ihren Arm, den eines der Biester vermutlich mit seinen Zähnen durchbohrt hatte.
„Maronostos? Wer oder was ist das denn schon wieder?“
Noch während sie diese Frage aussprach, wurde es schlagartig dunkel.
„Raffine! Raffine!“
Neferafins sanfte, beruhigende Stimme schien meilenweit weit weg zu sein, bis Raffine allmählich wieder zu sich kam und das Licht ganz langsam zurückkehrte. Noch völlig benommen, versuchte Raffine, sich aufzurichten. Als sie sich umschaute, stellte sie fest, dass sie auf mehreren weichen Kissen auf dem Boden lag. Über ihr war eine Art Himmel aufgebaut.
„Wo sind wir? Was ist passiert?“, fragte sie kaum wahrnehmbar.
„Du wurdest von einem Zahn der Grinaha gestreift und dadurch ist das Gift in deinen Körper gelangt. Außerdem hast du schwere Verletzungen erlitten. Mithilfe von Heilkräutern ist es uns gelungen, das Gift aus deinem Körper herauszuziehen und dich zu heilen. Auch dein blaues Auge und die Wunden an deinem Bein sind dadurch inzwischen verheilt.“ Neferafin lächelte sie aufmunternd an: „Jetzt bist du also wieder vollkommen gesund. Du befindest dich in dem kleinen Lager, das wir am Ufer des Nils errichtet haben, um die Boote zu säubern und um die Verwundeten besser versorgen zu können.“
Nachdem Raffine ihren Kopf abgetastet hatte, richtete sie sich endgültig auf, um ihren gesamten Körper zu begutachten.
„Gibt es hier einen Spiegel?“
Sofort erfüllte ihr Neferafin ihren Wunsch.
„Das ist echt der Wahnsinn! Man kann wirklich überhaupt nichts mehr sehen und ich habe auch kein blaues Auge mehr. Wie lange war ich denn eigentlich bewusstlos?“
Noch völlig verblüfft über ihre wundersame Heilung, schaute sie Neferafin fragend an.
„Nicht allzu lange. Inzwischen haben wir unsere Reise einen Tag lang unterbrochen. Die Zeit, die du gebraucht hast, um dich von deinen Verletzungen zu erholen, haben wir genutzt, um die Boote zu inspizieren und um Wasser und frische Lebensmittel an Bord zu bringen.“
„Ich war nur einen Tag lang bewusstlos? Alle Achtung! Darf ich diese Wundermittel mit nach Hause nehmen? Dann würde ich nie mehr zum Arzt gehen müssen.“
Glücklicherweise war Raffine schon wieder zum Scherzen aufgelegt. In demselben Moment, in dem sie diese Sätze aussprach, ahnte sie aber bereits, dass sie sich ihre Frage selber beantworten konnte. Wie richtig sie mit dieser Vermutung lag, verriet ihr ein einziger Blick in Neferafins lächelndes Gesicht.
„Ich schlage vor, dass wir jetzt gemeinsam packen und im Anschluss daran direkt weiterfahren. Allmählich wird die Zeit nämlich knapp und wir haben noch zwei Tage auf dem Nil vor uns.“
Obwohl Raffine ihr aufmerksam zuhörte, unterbrach Neferafin ihren Redefluss, um Raffine eine Frucht zuzuwerfen, die einem Apfel ähnelte.
„Iss das, damit du schnellstmöglich wieder zu Kräften kommst!“
Raffine musste laut lachen.
„Stimmt, gegessen habe ich ja schon seit einer Ewigkeit nicht mehr.“
Genüsslich biss sie in die Frucht.
Die verbleibende Strecke ihrer Fahrt auf dem Nil legten sie ohne weitere Zwischenfälle zurück, was es Raffine ermöglichte, sich noch einmal voller Begeisterung der atemberaubenden Landschaft und den Ehrfurcht gebietenden Bauten an den Ufern des Flusses zu widmen.
„Dass ich das alles tatsächlich erlebe, kann ich trotz allem immer noch nicht richtig glauben. Wenn ich die Chance hätte, diese Zeitreise später noch einmal zu wiederholen, würde ich es jederzeit tun, ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern. Ich werde niemals die passenden Worte finden, um diesen wunderbaren Traum beschreiben zu können.“
Ebenso besorgt wie belustigt schaute Neferafin ihr in die Augen: „Nur allzu gern würde ich dir ausschließlich das Positive aus unserer Zeit zeigen, aber leider sind mir die Hände gebunden. Bedauerlicherweise haben wir noch einiges vor uns, das deinen Enthusiasmus wohl erheblich abschwächen wird. Dass auch hier nicht alles vollkommen ist, wirst du schon sehr bald schmerzlich erkennen.“