Kapitel 5
Erste Begegnungen
Sobald sich Raffine wieder wie ein richtiger Mensch fühlte, schlenderte sie durch die Tür hinaus, um die anderen zu suchen. Dabei führte sie ihr Weg in eine Halle, die dem Saal in Neferafins Palast auffallend ähnelte. Genauer gesagt, hatte sie den Eindruck, als ob es sich um zwei vollkommen identische Thronsäle handeln würde. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Thron hier ganz anders aussah als der, den Raffine bei Neferafin gesehen hatte. Dieser wirkte wesentlich schlichter, weil hier die Inschriften und die kunstvollen Verzierungen in Form von Steinen, Schlangen und Skarabäen fehlten.
Hatte ihr Neferafin nicht erzählt, dass es noch einen zweiten, identischen Thron gab? Momentan konnte Raffine nicht genau sagen, ob sie Neferafin vielleicht nur falsch verstanden hatte. Aber gut, das war jetzt wirklich nicht ihr dringendstes Problem.
Trotz allem wirkte auch diese Halle außerordentlich prunkvoll. An ihren Wänden entdeckte sie ähnlich beeindruckende Zeichnungen und unzählige goldene Ornamente und von den Decken hingen dieselben Seidenschals. Nur allzu gern hätte sie sich auch hier stundenlang damit beschäftigt, die Säulen, die Malereien und die Verzierungen zu bewundern.
Sobald sich Raffine aber einer der Wände genähert hatte, um die schmückenden Details genauer in Augenschein zu nehmen, wurde sie leider schon wieder unterbrochen.
„Unsere Welt gefällt dir. Habe ich recht?“
Aus einer der dunklen Ecken des Saals kam Sito langsam auf sie zu.
„Wie lange könnt ihr eigentlich eure Menschengestalt aufrechterhalten?“
Diese Frage beschäftigte Raffine bereits, seitdem sie die Verwandlung der Kobras zum ersten Mal miterlebt hatte.
„So lange, bis der Kampf endgültig entschieden sein wird. Wenn es sich als vorteilhaft erweist, werden wir in bestimmten Situationen manchmal aber auch wieder unsere eigentliche Gestalt annehmen. Sobald wir das Reich zurückerobert und alle Probleme gelöst haben, werden wir uns dann dauerhaft in Schlangen zurückverwandeln. Der hauptsächliche Nachteil der menschlichen Gestalt besteht darin, dass diese Erscheinungsform unsere Möglichkeiten einschränkt. Deshalb sind wir in diesem Zustand nur bedingt dazu in der Lage, alle unsere Fähigkeiten einzusetzen, um euch zu beschützen. In unserer Schlangengestalt können wir unsere Feinde noch wesentlich wirksamer bekämpfen.
In Menschen haben wir uns nur verwandelt, weil Neferafin uns darum gebeten hatte. Höchstwahrscheinlich wollte sie dich nicht zu sehr erschrecken und dich lieber behutsam an die Schlangen in deiner Umgebung gewöhnen. Natürlich können wir uns auf diese Weise auch besser mit dir bekannt machen und dir einen Teil deiner Angst nehmen, was letztendlich uns allen zugutekommt.“
Lächelnd sah Raffine Sito an: „Seien wir doch einmal ehrlich! Für euch scheint es vollkommen normal und alltäglich zu sein, mit der Magie und mit Fabelwesen zu leben. Bei uns sieht es aber ganz anders aus. Schon bei meinem ersten Versuch, meine Erlebnisse zu Hause zu schildern, würde man mich in ein Irrenhaus sperren. Jedenfalls danke ich dir beziehungsweise euch von Herzen dafür, dass ihr für mich eure menschliche Gestalt angenommen habt, damit ich euch mit anderen Augen sehen und mich besser in euch hineinversetzen kann. Eure wahre Gestalt ist für mich, vorsichtig ausgedrückt, immer noch ziemlich gewöhnungsbedürftig.
Meinst du, wir haben einen schweren Kampf vor uns? Seitdem ich euch ein bisschen besser kennengelernt habe, beginne ich nämlich, euch mehr und mehr in mein Herz zu schließen. Deshalb möchte ich keinen von euch wieder verlieren. Leider ist aber jeder Kampf grundsätzlich mit Verlusten verbunden. Das wurde mir erst richtig klar, als ich die toten Schlangen in dem unterirdischen Gang gesehen habe, und dabei denke ich nicht nur über die Verluste auf unserer Seite nach. Wo wir gerade darüber sprechen, was ist eigentlich mit Utho passiert? Nachdem du zusammen mit ihr verschwunden warst, bist du ja allein zurückgekommen.“
„Utho hat mich beschützt. Als ich nur eine einzige Sekunde lang unachtsam war, habe ich nicht bemerkt, dass von hinten eine Apokoinu auf uns zukam. Utho hat sie gerade noch im letzten Augenblick entdeckt und zugebissen. Dummerweise wussten wir zu diesem Zeitpunkt aber beide noch nicht, dass sie inzwischen zwei Köpfe haben, und das ist Utho zum Verhängnis geworden.
Zum Glück ist sie nicht allzu schwer verletzt. Du musst dir also keine ernsthaften Sorgen machen. Natürlich hat es sie ein wenig geschwächt, aber morgen wird ihre Wunde schon wieder verheilt sein.“
„Siehst du, haargenau das ist es, was ich eben gemeint habe. Ich könnte einfach nicht damit umgehen, wenn jemand, den ich mag und den ich in mein Herz geschlossen habe, plötzlich stirbt. Das würde mir so unsagbar wehtun, dass ich es unmöglich verkraften könnte.“
Traurig richtete Raffine ihren Blick auf den Boden.
„Der Tod ist ein Teil unseres Lebens. Irgendwann müssen wir alle sterben, auch wir Kobras. Daran kann selbst die stärkste Magie nichts ändern.“
Beruhigend legte Sito seinen Arm um Raffine, um sie zu trösten.
„Damit hast du selbstverständlich recht, aber es hautnah mitzuerleben, wie jemand stirbt, der einem viel bedeutet, ist etwas ganz anderes, als sich einfach nur dessen bewusst zu sein, dass es eines Tages dazu kommen wird. Den Tod kann ich akzeptieren, aber nur einen natürlichen Tod aus Altersschwäche. Bitte versprich mir, dass ihr an den kommenden Tagen ganz besonders gut auf euch aufpassen werdet! Bitte!“
Nachdem sie diese Worte in einem flehenden Tonfall ausgesprochen hatte, umarmte sie Sito ganz fest.
„Ja, das verspreche ich dir, aber dasselbe gilt auch für dich“, antwortete Sito kaum hörbar.
„Sie trägt ihr Herz am richtigen Fleck und es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie unser Blut in sich trägt.“
Überrascht schauten Raffine und Sito gleichzeitig in die Richtung, aus der die Stimme erklang. Beide hatten noch nicht bemerkt, dass Arafine und Neferafin inzwischen zu ihnen gestoßen waren. Offenbar hatten sie schon eine Weile an der Eingangstür gestanden, um ihr Gespräch zu belauschen.
Schnell wischte sich Raffine die Tränen von ihren Wangen. Um einen möglichst scherzhaften Ton bemüht, bemerkte sie: „Man schleicht sich nicht von hinten an und hört zu, wenn andere sich miteinander unterhalten.“
Daraufhin mussten alle lachen, wodurch sich die düstere Stimmung endlich wieder aufhellte.
„Wir haben euch beide schon überall gesucht. Das Abendessen ist fertig und außerdem möchten wir mit euch besprechen, wie wir ab morgen am Besten vorgehen können.“
Arafine ergriff Raffines Hand und zog sie mit sich.
„Weil es mir zu Ohren gekommen ist, dass du ein richtiger kleiner Vielfraß bist, habe ich heute ganz besonders köstliche Speisen vorbereiten lassen.“
Erneut lachten alle laut auf und erstaunlicherweise war Raffine diese Situation überhaupt nicht peinlich.
Kurz darauf betraten sie einen Raum, in dem eine lange Tafel aufgebaut war, an der Arafine, Neferafin, Utho, Uaret und Raffine Platz nahmen. Während sie sich stärkten, begannen sie, ihre zukünftige Strategie auf einen Nenner zu bringen.
Vor ihnen waren mehrere Papyrusrollen ausgebreitet. Wenn man sie wie ein Puzzle zusammensetzte, entstand so etwas wie ein Bauplan, der den technischen Zeichnungen eines Architekten ähnelte.
Neferafin deutete auf verschiedene Stellen und erklärte: „Diese unterirdischen Gänge wurden schon lange vor unserer Zeit von unseren Vorfahren errichtet. Im Fall einer drohenden Gefahr sollten sie einen geheimen Fluchtweg bilden. Im Laufe der Jahre hat man sie immer weiter ausgebaut, bis sie einer unterirdischen Stadt glichen. Benutzt wurden sie bisher aber noch nie, weshalb sie nach und nach in Vergessenheit geraten sind. Diese Pläne habe ich erst vor wenigen Minuten von Benu erhalten, der sie seit einer halben Ewigkeit in seinem Nest aufbewahrt und sorgsam gehütet hat.“
Raffine sah sich alles sehr aufmerksam an. Unter anderem fielen ihr Zeichnungen ins Auge, auf denen die großen Pyramiden, der Skarabäus und zahlreiche kleinere, eng beieinanderstehende Gebäude und Pyramiden abgebildet waren.
„Sind das alles Säle oder außergewöhnlich große Räume innerhalb der Gebäude?“
Raffine staunte nicht schlecht:
„Wenn ich diese Pläne richtig verstehe, würde das ja bedeuten, dass es unter dem Skarabäus und unter den Pyramiden doch noch etwas zu entdecken gibt.
Apropos, kann mir bitte einmal jemand die Frage beantworten, warum ihr ständig nur von dem Skarabäus sprecht und warum ich nur ihn sehe? Neben den Pyramiden steht immerhin eine riesengroße, ganze 20 Meter hohe und knapp 74 Meter lange Sphinx, die zu den bekanntesten Wahrzeichen von Ägypten gehört. Wenn man an Ägypten denkt, hat man sofort das Bild der Pyramiden und der Sphinx von Gizeh vor Augen. Ja, ich weiß, Gizeh gibt es jetzt noch nicht, aber in unserer Zeit existiert dieser Ort schon sehr lange. Angeblich hat man die Sphinx aus einem monolithischen Kalkstein herausgearbeitet. Wann und warum sie erbaut wurde, ist bis in meine Zeit hinein ein Rätsel geblieben. Man vermutet aber, dass man sie während der 4. Dynastie von Cheops oder Chephren erbaut hat. Darüber konnten sich die Wissenschaftler bisher noch nicht einigen.“
In diesem Moment lachten alle laut auf.
„Raffine, wir können dir versichern, dass die Sphinx von keinem Mitglied unserer Familie erbaut, geschweige denn hier in Ägypten als Statue aufgestellt wurde. Sobald wir etwas mehr Zeit und Ruhe haben, können wir gern noch einmal ausführlich auf dieses Thema zurückkommen. Aber was meintest du, als du gesagt hast, dass es noch etwas zu entdecken gibt?“
Fragend sah Sito Raffine an.
„Na ja, in meiner Zeit steht die Sphinx in der Nähe der Pyramiden, aber wie gesagt, weiß keiner so ganz genau, wann und warum man sie erschaffen hat. Vor allem ahnt aber niemand, dass sich noch Räume darunter befinden. Es wird zwar gemunkelt, dass es zwischen der Sphinx und den Pyramiden einen geheimen Gang geben soll, aber dafür existieren bisher keinerlei Beweise. Außerdem kann keiner mit Sicherheit sagen, welchen Zweck die Sphinx eigentlich erfüllt und wer ihren Bau befohlen hat, aber tagtäglich werden Ausgrabungen durchgeführt, um nach weiteren Schätzen zu suchen.“
Diese Erläuterungen sprudelten nur so aus Raffine heraus und alle hörten ihr äußerst interessiert zu.
„Natürlich hoffen wir, dass niemand in deiner Zeit jemals das Rätsel lösen und die Hallen entdecken wird. Ansonsten wäre es ein großer Verlust für uns alle. Dort liegt nämlich so manches Geheimnis verborgen, das schon jetzt, in unserer Zeit, nicht für fremde Augen bestimmt ist. Raffine, du musst uns versprechen, all das, was du hier siehst und erfährst, später unter gar keinen Umständen irgendjemandem zu erzählen. Das vertrauliche Wissen unserer Familie darfst du weder in deiner Zeit noch hier und jetzt jemals weitergeben.“
Im Anschluss an diese Ermahnung wirkten alle ein wenig besorgt, weshalb Raffine ehrfürchtig nickte, ohne zu zögern.
Daraufhin stand Neferafin auf, um noch mehr Papyrusrollen zu holen, die sie neben den bereits vorhandenen Teilen des Puzzles ausbreitete.
„Auf diesen Plänen sind sämtliche Gänge und Räume vermerkt, die man unter der Stadt Memphis erbaut hat. Zunächst müssen wir uns hauptsächlich an diesen Zeichnungen orientieren. Die anderen Pläne werden wir erst später benötigen.“
Neugierig studierte Raffine die neu hinzugekommenen Skizzen, die sich ein wenig von den anderen unterschieden.
„Sind das da etwa Abwasserkanäle? Habt ihr tatsächlich schon unterirdische Kanäle? Bisher vertrat man die Auffassung, dass ihr so etwas in eurer Zeit noch nicht einmal gekannt habt. Jetzt bin ich wirklich sprachlos.“
Mit vor Erstaunen geweiteten Augen musterte sie die anderen.
„Raffine, ich muss doch sehr bitten. Selbstverständlich haben wir die. Du willst doch nicht etwa ernsthaft behaupten, du hättest geglaubt, dass wir unser Wasser noch aus Brunnen schöpfen und es anschließend vor der Tür ausschütten, wenn wir es nicht mehr brauchen? In Ägypten ist jede Stadt und jede Siedlung dazu verpflichtet, die erforderlichen Kanäle anzulegen. Schließlich muss das Abwasser doch irgendwohin abgeleitet werden. Wenn es nicht in den Kanälen gesammelt würde, wäre es hier nicht einmal annähernd so sauber und es würde furchtbar riechen. Außerdem würden sich Krankheiten ausbreiten. Diese Kanäle zählen zu den wesentlichen Bestandteilen unserer gesamten Architektur.“
Ebenso verblüfft wie belustigt warf Sito Raffine einen prüfenden Blick zu.
„Kanäle, Abwasser, Toiletten, fließendes, warmes Wasser aus Hähnen – das alles ist in unserer Zeit längst eine Selbstverständlichkeit, aber bisher gab es keinen einzigen Beleg dafür, dass auch die Bewohner des Alten Ägypten schon so weit waren. Leider besitzen wir keinerlei Aufzeichnungen aus eurer Zeit. Deshalb vermuten die meisten, dass ihr zwar schon außerordentlich hoch entwickelt gewesen seid, aber noch lange nicht so hoch.“
Raffine redete wie ein Wasserfall, bis Sito sie unterbrach: „Offensichtlich gibt es noch unendlich viel zu besprechen, aber jetzt müssen wir uns unverzüglich auf das Wesentliche konzentrieren. Ich habe Boten ausgesandt, die herausfinden sollen, wo Anartura die Steine versteckt hält. Eigentlich sollten sie schon längst wieder zurück sein. Erst wenn wir wissen, wo sich die Steine befinden, können wir unseren genauen Plan ausarbeiten.“
„KAKERLAKEN! Oh, Scheiße, Kakerlaken! Ihr habt hier Kakerlaken! Macht die sofort weg!!!“
In heller Panik sprang Raffine auf, während sie schrie wie am Spieß.
Erschrocken fuhren auch die anderen hoch, wobei sie sich augenblicklich auf einen Angriff einstellten. Blitzschnell bildeten sämtliche Kobras einen schützenden Kreis um die kleine Gruppe. Sito und Utho verwandelten sich in Windeseile zurück in ihre Schlangengestalt und jede einzelne Faser ihrer Körper schien hundertprozentig kampfbereit zu sein.
„Wo? Wo hast du etwas entdeckt? Raffine, wo?“, schrie Neferafin panisch.
„Dort drüben.“
Dabei zeigte Raffine auf eine Säule, auf der Tausende von Kakerlaken gleichzeitig nach unten krabbelten.
Über den gesamten Raum breitete sich eine gespenstische Stille aus und alle starrten ungläubig auf die kleinen Tierchen. Als sie sich von ihrem Schock erholt hatten, drehten sie sich vollkommen sprachlos zu Raffine um. Noch schienen nahezu alle bewegungsunfähig zu sein. Nur das gesamte Heer der Kobras verließ seine Kampfposition und schlängelte sich zurück in die Ecken, aus denen es gekommen war. Dabei gaben die Schlangen flüsternde Kommentare ab und manche von ihnen lachten unüberhörbar.
„Raffine! Würdest du bitte so nett sein, dir solche Scherze in Zukunft zu verkneifen?! In unserer momentanen Situation können wir das wirklich nicht noch zusätzlich gebrauchen.“
Utho und Sito nahmen bereits wieder ihre Menschengestalt an und begaben sich zurück an ihren ursprünglichen Platz. Auch Neferafin und Arafine setzten sich und wussten offenbar nicht, was sie von all dem halten sollten.
„Warum schaut ihr mich denn alle so vorwurfsvoll an? Da drüben sind ganze Scharen von Kakerlaken!“
„Raffine!“
Mit einer betont sanften Stimme rief Sito Raffine zur Ordnung. Man merkte ihm deutlich an, dass er sich dabei das Lachen verkneifen musste. Neferafin und Arafine schien es ganz ähnlich zu gehen. Leicht betreten richteten sie ihre Blicke auf den Boden.
„Das sind unsere Asili, die Boten, die ich ausgesandt hatte. Wie konnten dich diese harmlosen, kleinen Schaben denn bloß so erschrecken? Gibt es diese Tierchen in deiner Zeit etwa nicht? Oder werdet ihr von den kleinen Asili gefressen?“
Wie auf Kommando brach das Gelächter los. Alle lachten mit Tränen in den Augen und keiner schien sich so schnell wieder beruhigen zu können. Raffine fühlte sich schamlos verspottet und verspürte das dringende Bedürfnis, den Raum erst einmal zu verlassen. Ihre Lage war ihr mehr als peinlich und die Röte brannte förmlich auf ihren Wangen.
„Nein, das werden wir nicht, aber, ach, das ist ja jetzt auch egal. Bitte seid mir nicht böse, aber jetzt brauche ich ganz dringend frische Luft.“
Während sie zur Tür ging, hörte sie Neferafin noch rufen: „Sei draußen bitte vorsichtig und nimm dich vor den Asili in Acht!“
Erneut hallte schallendes Gelächter durch den Raum.
Im Garten suchte Raffine nach einem stillen Plätzchen am See. Sobald sie es gefunden hatte, schaute sie sich um. Mit bewundernden Blicken betrachtete sie die Seerosen, die Papyrusstängel, den Bambus und die gesamte faszinierende Pflanzenwelt um sich herum.
Schon bald ließ sich eine kleine Kobra neben ihr nieder, die ihren Kopf auf Raffines Schoß legte. Sofort erkannte Raffine, das es Lyra war, die sich zu ihr gesellt hatte.
„Das war dir eben furchtbar peinlich. Oder?“, fragte sie mitfühlend.
Raffine sah ihr in die Augen: „Du ahnst ja gar nicht, wie sehr. Bei uns nennt man diese Asili Kakerlaken. Natürlich sind sie nicht gefährlich, aber wenn man sie im Haus hat, ist es trotzdem schlimm. Sie fressen einfach alles und sie vermehren sich im Handumdrehen. Bei uns möchte garantiert keiner diese Schädlinge in seinem Zuhause haben. Wie sollte ich denn ahnen, dass sie hier einen ganz anderen Stellenwert einnehmen?“
„Das konntest du wirklich nicht wissen und das ist auch allen klar. Deshalb nimmt dir auch niemand deinen kleinen Ausbruch übel. Zweifellos unterscheiden sich unsere Welten in vielem total voneinander, aber lustig war das eben trotzdem.“
Bei diesen Worten bewegte sich Lyras Köpfchen unentwegt hin und her und Raffine sah, dass sie lächelte.
„Die anderen haben mich zu dir geschickt, um nach dir zu sehen.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Ich brauche nur ein wenig frische Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Was ich an den letzten Tagen alles erlebt habe, war wohl einfach ein bisschen zu viel für mich. So schnell kann ich das alles unmöglich verarbeiten. Die Ereignisse überschlagen sich ja förmlich, und ich komme eigentlich gar nicht mehr richtig zur Ruhe. Sicher verstehst du, dass ich das, was ich hier sehe und erlebe, tief in mir aufnehmen und nie wieder vergessen möchte. Aber sobald ich mich gerade mit einem aufregenden Ereignis auseinandersetze, passiert schon wieder etwas Neues. Deshalb brauche ich jetzt wirklich ganz dringend ein paar Minuten für mich, aber trotzdem finde ich es schön, dass du da bist.“
Tief in Gedanken versunken, streichelte sie den Rücken der kleinen Kobra, bis sie leicht verlegen innehielt: „Ach, entschuldige bitte! Ihr mögt es ja gar nicht, dass man euch anfasst.“
„Das ist schon in Ordnung. Schließlich weiß ich ja, wer du bist und warum du es tust.“
Mit geschlossenen Augen legte sie ihr Köpfchen wieder zurück auf Raffines Schoß.
Mittlerweile spiegelte sich der Mond im Wasser des Sees. Raffine zog ihre Schuhe aus und ließ ihre Füße in das kühle, klare Wasser gleiten. Eigentlich war dieser Abend absolut fantastisch. Der Mond schien hell vom Himmel, es war angenehm warm, überall um sie herum zirpten die Grillen und die Frösche quakten. Jetzt fehlte nur noch ein Cocktail oder ein Glas Wein und alles wäre perfekt.
„Was war das?“
Ruckartig schauten Raffine und Lyra gleichzeitig nach oben, weil sie meinten, sie hätten am anderen Ufer des Sees Schritte gehört. Raffine gab sich die größte Mühe, um im Halbdunkel etwas erkennen zu können, aber es wollte ihr beim besten Willen nicht gelingen.
„Hier dürfen sich ausschließlich die Mitglieder der Familie und Tiere aufhalten. Den Hyksos ist es strengstens untersagt, das Gelände in der unmittelbaren Nähe des Palastes zu betreten, und den Bediensteten bleibt der Zutritt zur Lotus-Anlage ebenfalls verwehrt. Also haben wir uns wahrscheinlich geirrt.“
Obwohl Lyra beruhigend auf sie einredete, befand sie sich eindeutig in Alarmbereitschaft.
Raffine nickte und sah zum Himmel hinauf. In dieser klaren Nacht konnte sie jeden einzelnen Stern erkennen. Da sie sich völlig erschöpft fühlte, schloss sie für einen Moment ihre Augen, um ein wenig zu träumen. Als es vor ihr aber auf einmal dunkler zu werden schien, schreckte sie hoch. Sobald sie ihre Augen wieder geöffnet hatte, schaute sie direkt in ein fremdes Gesicht. Unmittelbar vor ihr stand ein stattlicher junger Mann, der, wie sie widerwillig zugeben musste, gar nicht so schlecht aussah. Zumindest erweckte das Wenige, das sie in dem schwachen Licht des Mondes erkennen konnte, in ihr diesen Eindruck.
Im Bruchteil einer Sekunde richtete sich Lyra kerzengerade auf und es war deutlich spürbar, dass sie sich für den Fall eines Angriffs bereits auf einen Kampf eingestellt hatte.
Leise, aber unüberhörbar bedrohlich zischelte sie: „Wer bist du und was hast du hier zu suchen? Diese Anlage darf niemand betreten. Sprich, wenn dir dein Leben lieb ist!“
„Immer mit der Ruhe! Man nennt mich Har und ich war mir vollkommen sicher, dass ich hier um diese Zeit niemandem begegnen würde. Ich liebe es, einfach nur den See zu betrachten und die friedliche Stille zu genießen. Spätabends kann man hier hervorragend nachdenken und neue Kräfte sammeln. Ja, ich weiß, dass ich eigentlich nicht hier sein dürfte, und ich gebe zu, dass ich mich über das Verbot meines Vaters hinweggesetzt habe. Bitte verzeiht mir!“
Daraufhin sah er die beiden fast schon flehend an. Raffine wirkte nachdenklich und Lyra befand sich immer noch in Alarmbereitschaft. Schließlich traf Raffine eine Entscheidung: „Gut, einverstanden, wir können dein kleines Geheimnis für uns behalten. In Zukunft solltest du aber besser vorsichtiger sein und diese Anlage nach Möglichkeit meiden. Weil ich dich nicht kenne, könnte ich dir im Notfall auch nicht helfen. Außerdem kann ich wirklich nicht sagen, wie meine Familie darauf reagieren würde, hier in ihrem Garten einem Fremden zu begegnen. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich gestehen, dass du mich auch ziemlich erschreckt hast.“
„Entschuldige bitte! Das war ganz sicher nicht meine Absicht. Normalerweise ist um diese Zeit nie jemand hier. Darf ich fragen, wer du bist?“
Während er diese Worte aussprach, ließ er Raffine für keinen Moment aus den Augen.
„Nein, das darfst du nicht. Da du sie nie wiedersehen wirst, hat ihr Name auch keinerlei Bedeutung für dich.“
Erneut richtete sich Lyra drohend auf, wodurch sie ihm unmissverständlich signalisierte, dass er endlich gehen sollte.
Offensichtlich deutete er ihre Geste richtig. Nachdem er sich vor den beiden verneigt hatte, rannte er schleunigst davon.
„Raffine, du darfst nicht so gutgläubig sein! Schließlich könnte er unser Feind und von den Hyksos zu uns geschickt worden sein. Wer er tatsächlich ist und was er hier wollte, wissen wir beide nicht. Eigentlich müsste ich diesen Vorfall umgehend melden.“
„Bitte, lass es unser Geheimnis bleiben! Er war doch sehr höflich und er hatte garantiert nicht die Absicht, uns etwas anzutun. Vielleicht hat er ja die Wahrheit gesagt und er wollte wirklich nur den wunderschönen Abend genießen.“
Nahezu beschwörend schaute Raffine Lyra an. Es war deutlich spürbar, dass diese innerlich mit sich kämpfte, bis sie entschied: „Also, gut. Weil ich an den kommenden Tagen sowieso nicht mehr von deiner Seite weichen werde, können wir dieses kleine Geheimnis wohl für uns behalten.“
Damit schlängelte sie sich um Raffine herum, um sich zu vergewissern, dass sich ihnen nicht noch jemand näherte.
Währenddessen schaute sich Raffine um, weil sie herausfinden wollte, ob sich Har vielleicht noch irgendwo in ihrer Nähe aufhielt. Nachdem sie ihn nicht mehr entdecken konnte, wandte sie sich wieder an Lyra: „Komm, Lyra! Lass uns zurückgehen und nachschauen, wie weit die anderen inzwischen gekommen sind!“
Lyra nickte zustimmend. Ohne sich zu beeilen, schlenderten die beiden auf den Palast zu.
Auf ihrem Weg dorthin blieb Raffine ab und zu stehen, um sich die eine oder andere Pflanze genauer anzusehen und um den Duft der unzähligen Blüten einzuatmen. Hier roch es ganz ähnlich wie in einer Parfümerie. Außerdem fand sie es faszinierend, auf verschiedene Gewächse zu stoßen, von denen sie vorher noch nie etwas gehört hatte, nicht einmal auf ihren Reisen nach Ägypten.
„Obwohl ich natürlich weiß, dass die momentane Stille trügt, fühle ich mich gerade, als ob ich in einem kleinen Stück vom Paradies gelandet wäre.“
Nach einer kurzen Pause wechselte Raffine das Thema: „Sag mal, Lyra, weißt du eigentlich, warum hier nicht derselbe Thron steht wie im Palast von Neferafin?“
Fragend sah Raffine Lyra an.
„Das kann ich dir ganz genau sagen. Der identische Thron befindet sich nämlich im Hauptpalast, der von Anartura eingenommen wurde. Mit dem Thron kann er aber nichts anfangen, weil ihm die Wächter den Zugang verwehren und weil sie den Thron für ihn vollkommen unbrauchbar gemacht haben. Unter anderem kann man dadurch die Schriftzeichen nicht mehr erkennen, was ihn für Anartura nutzlos macht. Zum Glück sind auch seine Versuche, den Thron zu zerstören, restlos gescheitert. Da die beiden Throne mithilfe von außergewöhnlich starker Magie erschaffen wurden, tragen sie diese Magie auch weiterhin in sich. Um ihn vor uns zu verbergen, ließ Anartura den Thron in einen durch alle erdenklichen Schutzmaßnahmen abgeschirmten Raum bringen, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass deine Familie letztendlich auch den Thron zurückerobern wird.“
Bevor sie den Palast erreichten, beantwortete Lyra Raffine noch so manche ihrer Fragen.