Kapitel 7
Eine verbotene Bekanntschaft
Beinahe zu Tode erschrocken, schaute sie völlig unerwartet in sein Gesicht und in seine strahlend braunen Augen. Er hatte dunkle, von kleinen Lachfältchen umgebene Augen voller Wärme, und sein außergewöhnlich intensiver Blick schien bis in ihre Seele vorzudringen. Seine vollen Lippen umrahmte ein Dreitagebart, der kein richtiger Vollbart und auch kein Schnauzer war und dessen Bartstoppeln seine Kieferknochen bedeckten und bis an seine Ohren heran reichten. Sein markantes Gesicht wurde von seinen dunkelbraunen Haaren abgerundet, die ihm in leichten Wellen bis auf die Schultern fielen. Alles in allem war er einfach vollkommen.
Während er sie mit seinen starken Armen festhielt, konnte Raffine die Muskeln in seinen Oberarmen erahnen. Offenbar musste er sich kein bisschen anstrengen und er schien ihr Gewicht kaum zu spüren. Vollkommen mühelos zog er sie hoch und zu sich heran, bis sie wieder auf den Steinen am Ufer des Sees stand. Dabei stieg ihr der Geruch von wildem Moschus, gepaart mit seinem eigenen, männlichen Duft, in die Nase.
Er sah Oded Fehr tatsächlich so verblüffend ähnlich, dass ihn der Schauspieler bei seinem Anblick garantiert als seinen Doppelgänger engagiert hätte. Leicht verärgert über ihre eigenen Gedanken schloss Raffine für einen Moment die Augen, um sich erst einmal zu beruhigen.
Jetzt reiß dich endlich zusammen!
Sobald sie ihre Augen wieder geöffnet hatte, fuhr sie ihn wie aus heiterem Himmel heraus feindselig an: „Wie kannst du es wagen, schon wieder hier herumzuschleichen?“
Dabei hoffte sie inständig, dass ihre Stimme ausreichend verärgert klang.
„Du weißt doch genau, dass du in diesem Garten nichts zu suchen hast und dass du überhaupt nicht hier sein dürftest. Bisher weiß ich ja noch nicht einmal, wer du eigentlich bist und woher du kommst. Vielleicht haben dich sogar die Hyksos zu uns geschickt, damit du uns ausspionieren kannst.“
Mit jedem neuen Satz redete sie sich mehr und mehr in Rage. Dass sein sympathisches Lächeln sie zunehmend verunsicherte, wollte sie auf gar keinen Fall zulassen. Außerdem war es ganz allein seine Schuld, dass sie tief in ihrem Inneren so aufgewühlt war, und dass sie sich gegen ihren Willen zu ihm hingezogen fühlte. Das würde sie sich garantiert nicht noch länger gefallen lassen. Schließlich war sie hierhergekommen, um ganz in Ruhe ihre kleine Auszeit zu genießen. In ihrem Plan spielten Männer definitiv keine Rolle. Oh, verflixt, warum roch er bloß so anziehend und warum gelang es ihm mit seinem Lächeln, sie regelrecht zu hypnotisieren?
„Ich warte immer noch auf eine Erklärung. Also, was zum Teufel tust du hier?“
„Zunächst möchte ich erst einmal feststellen, dass du ohne meine Hilfe eben in den See gefallen wärst. Wer weiß, was sonst noch alles hätte passieren können? Und nein, ich führe absolut nichts Böses im Schilde. Oder meinst du etwa, in dem Fall hätte ich dich vor dem Sturz bewahrt?“
Als er wieder sein nahezu unvorstellbar charmantes Lächeln aufsetzte, blitzten seine weißen Zähne auf.
„Zum Narren machen kann ich mich selber. Wenn ich in den See gefallen wäre, würde ich jetzt eben nass sein. Na und? Dann hätte ich mich umgezogen und alles wäre wieder gut gewesen. Und falls es dir entgangen sein sollte, du kannst mich jetzt ganz unbesorgt wieder loslassen.“
Obwohl Raffine immer noch irgendwie auf halb acht hing und ihr Rücken der Wasseroberfläche gefährlich nahe war, ging sie davon aus, dass ein Angriff grundsätzlich die beste Art der Verteidigung darstellte.
„Wenn du nichts gegen warmes, aber nasses Wasser hast, wenn du der Meinung bist, dass du meine Hilfe nicht brauchst, und wenn du dir wirklich vollkommen sicher bist, dass ich dich loslassen soll, dann werde ich dir deinen Wunsch natürlich gern erfüllen.“
Eigentlich hätte Raffine den Braten riechen müssen, als er sie so unverschämt süffisant anlächelte.
„Was hast du an dem Wort „loslassen“ eigentlich nicht verstanden?“
Herausfordernd funkelte sie ihn an.
„Also gut, wie du willst.“
Noch in derselben Sekunde lockerten sich seine Arme und Raffine fiel wie in einer Filmszene in Zeitlupe nach hinten. Augenblicklich spürte sie um sich herum nur noch Wasser und sie schnappte erschrocken nach Luft, während sie wild mit den Armen ruderte, und verzweifelt versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Damit hätte sie nie im Leben gerechnet. Was für ein Blödmann! Er hatte ganz genau gewusst, dass sie fallen würde, und sie trotzdem losgelassen.
Na warte, das werde ich dir heimzahlen.
„Darf ich dir denn wenigstens aus dem Wasser heraushelfen? Dass es für deine Familie normal ist, vollständig bekleidet zu baden, konnte ich vorher ja beim besten Willen nicht ahnen.“
Es war nicht zu übersehen, dass er sich gerade das Lachen verkneifen musste.
Raffine gab sich alle Mühe, um irgendwo Halt zu finden, aber die Steine am Ufer des Sees waren einfach zu nass und zu schlüpfrig, weshalb sie immer wieder abrutschte. Als er ihr seine Hand reichte, blieb ihr deshalb leider keine andere Wahl, als sie dankend anzunehmen.
„Was sollte das denn jetzt wieder? Du wusstest doch genau, dass ich fallen würde. Hättest du mich nicht erst auf die Füße stellen und mich danach loslassen können?!“
Jetzt war sie richtig sauer. Da stand sie nun vor einem Mann, bei dessen Anblick ihr nichts Besseres als: „Wow!“, einfiel, und sie sah aus wie ein nasser Pudel.
„Ich habe nichts anderes getan, als dir den Wunsch zu erfüllen, den du wiederholt so vehement geäußert hast. Ihr Frauen seid wirklich seltsame Wesen. Wenn man das tut, was ihr wollt, ist es garantiert falsch. Und wenn man nicht auf euch hört, ist es genauso falsch. Da bleibt man als Mann einfach ratlos.“
Jetzt konnte er sein schallendes Lachen nicht mehr länger zurückhalten.
„Lass den Scheiß! Du wusstest nur allzu gut, dass ich im Wasser landen würde.“
Raffines Augen sprühten förmlich Funken und ihr Mund zog sich zu einem schmalen Strich zusammen. Mittlerweile war sie richtig wütend, dummerweise aber nicht nur auf ihn, sondern auch auf sich selber, weil sie sich durch ihre eigene Schuld in diese Lage gebracht hatte.
„Du kommst nicht aus Memphis? Oder?“, warf er mit einem fragenden Blick ein.
„Nein“, kläffte sie ihn an.
„Deine Aussprache, dein Akzent und die fremdartigen Worte, die du benutzt, lassen mich darauf schließen, dass du aus einem anderen Land kommst.“
Dieses Thema schien ihn brennend zu interessieren.
„Warum sollte ich dir verraten, wer ich bin, während du meine Fragen bewusst ignorierst?“, brachte Raffine trotzig hervor. Unter gar keinen Umständen würde sie ihm erklären, wer sie war und was sie hier machte.
„Du weißt doch schon, dass ich Har heiße. Ich wurde hier in Memphis geboren und ich bin auch hier aufgewachsen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
„Na klar! Diese wenigen Worte besagen rein gar nichts. Gehörst du etwa zum Volk der Hyksos?“
Daraufhin veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Sein Lächeln verblasste und er sah sie für eine Weile sehr nachdenklich an.
„Und? Wäre es das denn so schlimm? Haben sie dir etwas angetan? Niemand auf dieser Welt trägt die Schuld daran, in welche Zeit und in welche Familie er hineingeboren wurde. Oder siehst du das etwa anders?“
Im Anschluss an diese Frage schob er seine Hand unter Raffines Kinn, um ihren Kopf anzuheben und sie dazu zu zwingen, ihm in die Augen zu schauen. Bis zu diesem Moment hatte sie es nämlich vorgezogen, sich auf ihre Füße zu konzentrieren, die mit den Steinen spielten. Vielleicht wollte sie ja nur nicht hören, dass er einer ihrer Feinde war.
„Also gehörst du tatsächlich zum Volk der Hyksos?“
Ebenso zaghaft wie trotzig versuchte sie, ihn endlich dazu zu bewegen, die unangenehme Wahrheit auszusprechen.
Mehrere Sekunden lang sah er ihr tief in die Augen: „Ja, so ist es. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich etwas mit der Fehde zwischen den Hyksos und eurem Volk zu tun hätte. Als diese ihren Anfang nahm, war ich noch nicht einmal geboren. Außerdem habe ich auch nicht die geringste Absicht, mich in diese Feindseligkeiten verwickeln zu lassen. Ich liebe und genieße ganz einfach mein Leben.“
„Ich muss die nassen Sachen loswerden und mich erst einmal umziehen. Und dir gebe ich den guten Rat, dich hier nie wieder sehen zu lassen. Dabei begibst du dich nämlich in große Gefahr.“
Mit einem wehmütigen Blick wandte sich Raffine ab, um zum Palast zurückzugehen. Tief in ihrem Herzen war sie maßlos traurig und enttäuscht, gleichzeitig aber auch weiterhin total fasziniert. Warum musste ausgerechnet er zu ihren Feinden gehören?
Nachdem sie sich umgezogen und einigermaßen wiederhergerichtet hatte, stellte sie sich völlig überraschend die Frage, ob sie nicht doch noch einmal in den Garten gehen sollte.
Während sie sich noch im Spiegel betrachtete, fiel es ihr aber glühend heiß ein, dass Lyra wahrscheinlich schon am See auf sie wartete, weil sie sich ja dort treffen wollten.
So schnell wie der Blitz rannte sie durch die zahllosen verschachtelten Gänge des Palastes, bis sie total verschwitzt und abgehetzt im Garten ankam.
Schon von Weitem entdeckte sie Lyra, die am Ufer des Sees saß und ihr Köpfchen aufgeregt hin und her bewegte. Offenbar suchte Lyra nach ihr, wobei sie langsam, aber sicher unruhig wurde.
Um ihr schlechtes Gewissen ein wenig zu beruhigen, rief Raffine ihr zu: „Hier bin ich. Ich komme schon, Lyra.“
Augenblicklich drehte sich Lyra um.
„Wo hast du denn bloß die ganze Zeit über gesteckt? Ich warte hier schon ziemlich lange auf dich und allmählich habe ich mir ernsthafte Sorgen gemacht. Vor lauter Angst habe ich mir schon ausgemalt, dass dir irgendetwas zugestoßen ist.“
Dass Lyra in diesem Moment ein Stein vom Herzen fiel, war deutlich spürbar.
Als Raffine vollkommen erschöpft bei Lyra ankam, redete sie sofort auf sie ein: „Lyra, sei mir bitte nicht böse! Irgendwie habe ich die Zeit völlig vergessen und gar nicht mehr daran gedacht, dass wir hier draußen im Garten verabredet waren. Vorhin ist mir im Garten nämlich ein kleines Missgeschick passiert und deshalb musste ich erst einmal in meine Gemächer zurückkehren, um mich umzuziehen.“
„Was war denn los?“, fragte Lyra immer noch sichtlich aufgeregt, aber auch äußerst interessiert.
„Als ich vorhin im Garten war, wollte ich nach einigen von den Blüten greifen, die auf dem Wasser des Sees schwimmen, aber weil ich dabei zu nahe an das Ufer herangetreten bin, habe ich dummerweise auf einmal das Gleichgewicht verloren.“
Während Raffine ihr ausführlich erzählte, was sie eben erlebt hatte, hörte ihr Lyra aufmerksam zu.
„Raffine, das gefällt mir ganz und gar nicht, weil wir ja nicht einmal wissen, wer dieser Har eigentlich ist, woher er kommt und zu welcher Familie er gehört. Wir müssen außerordentlich vorsichtig sein und ich habe überhaupt kein gutes Gefühl, wenn du dich mit ihm triffst!“
Leicht verlegen senkte Raffine ihren Kopf und Lyra musterte sie besorgt.
„Liegt dir noch etwas auf dem Herzen, das du mir sagen möchtest? Falls es so wäre, würde ich es wirklich gern hören. Du weißt doch genau, dass du mir vertrauen kannst.“
„Eigentlich habe ich dir schon alles erzählt, was eben im Garten vorgefallen ist. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich aber zugeben, dass ich noch eine Kleinigkeit vergessen hatte, die höchstwahrscheinlich wichtig ist.“
Im Anschluss an dieses Geständnis suchte Raffine verzweifelt nach den richtigen Worten, bis sie ins Stottern kam und es Lyra allmählich zu bunt wurde. Nachdrücklich forderte sie Raffine dazu auf, endlich alle Karten auf den Tisch zu legen: „Heraus mit der Sprache! Was hast du mir bis jetzt verschwiegen?“
„Ich habe ihn gefragt, ob er zum Volk der Hyksos gehört und er hat es bestätigt“, gab Raffine leise flüsternd zu, bevor sie ihre Selbstsicherheit zurückgewann und detailliert berichtete, worüber sie sich unterhalten hatten.
Lyra hörte ihr schweigend zu und bewegte dabei unentwegt ihren Kopf hin und her.
Je mehr Raffine preisgab, desto stärker wurde ihr Gefühl, dass Lyra ein wenig sauer auf sie war, und genau dies traf auch zu. Zunächst schaute Lyra Raffine nämlich nur an, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Erst nach einigen Minuten des Schweigens fand sie ihre Stimme wieder: „Haben dir die anderen nicht ausdrücklich eingeschärft, dass du dich vor den Hyksos in Acht nehmen sollst, und haben sie es dir nicht unmissverständlich verboten, im Garten mit Fremden zu sprechen? Alle haben dich gewarnt und du hast dich einfach so ohne Weiteres darüber hinweggesetzt. Ich finde das gar nicht gut, und ich kann dir wirklich nicht genau sagen, was ich von dieser Sache halte. Wie soll es deiner Meinung nach denn jetzt weitergehen?“
Ebenso ratlos wie beschämt schüttelte Raffine den Kopf, bevor sie kaum hörbar eingestand: „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“
Erneut warf ihr Lyra einen ernsten, prüfenden Blick zu. Dann fragte sie leise: „Du magst ihn sehr gern. Oder irre ich mich?“
Verlegen bekannte Raffine:
„Lyra, mir ist es durchaus bewusst, dass die anderen mich darauf hingewiesen haben, dass die Hyksos unsere Feinde und außergewöhnlich bösartig sind. Deshalb verstehe ich auch, dass wir gegen sie kämpfen müssen, aber er scheint tatsächlich anders zu sein. Du hättest ihn eben erleben müssen. Ja, natürlich war es nicht besonders nett von ihm, dass er zugelassen hat, dass ich in den See falle, aber das hat er doch nur getan, weil ich so dickköpfig reagiert habe.
Im Grunde geht es ja auch gar nicht um den Vorfall am See. Lyra, wenn du seine Augen gesehen hättest, wäre es dir sofort klar geworden, dass er es ehrlich gemeint hat. Und so, wie er mich festgehalten hat, würde es kein bösartiger Mensch tun. Außerdem hat er mir versichert, dass er mit der Fehde zwischen unseren Familien nichts zu tun hat. Dabei klang seine Stimme vollkommen glaubwürdig und überzeugend, und er hat mir direkt in die Augen geschaut. Menschen, die einen anlügen, sind gar nicht dazu in der Lage. Irgendetwas tief in meinem Innersten sagt mir, dass er uns wirklich nichts antun will.“
Zweifellos schien Raffine von dem, was sie gerade gesagt hatte, vollkommen überzeugt zu sein. Lyra richtete sich kerzengerade auf und musterte Raffine eingehend.
„Ich weiß immer noch nicht, was ich von dieser Sache halten soll, und im Grunde haben wir ja auch ganz andere Probleme.“
Raffine setzte sich neben Lyra an das Ufer des Sees, um ihre Füße im Wasser zu kühlen.
„Welche Probleme meinst du denn gerade?“, warf sie fragend ein.
„Ich war doch eben bei Uaret, weil sie mich gebeten hatte, noch einmal zurückzukommen. Während der Abwesenheit der anderen sollte sie dir ja eigentlich verschiedene Kampftechniken beibringen und dich im Umgang mit unseren Waffen schulen. Um dazu in der Lage zu sein, muss sie aber wieder ihre menschliche Gestalt annehmen. Als sie vorhin versucht hat, sich zu verwandeln, hatte sie plötzlich sehr starke Schmerzen. In ihrer Schlangengestalt verheilen die Wunden recht schnell, aber sobald sie die Verwandlung vornimmt, sind ihre Verletzungen noch zu gravierend. Das heißt im Klartext, dass sie dir momentan keinen Unterricht erteilen kann, obwohl uns die Zeit davonrennt. Im Augenblick wissen wir leider absolut nicht, wie wir dich auf den Kampf vorbereiten sollen.“
Mit einem traurigen Blick legte Lyra ihr Köpfchen auf Raffines Schoß.
„Dazu fällt mir auf Anhieb leider auch keine Lösung ein. Gibt es denn wirklich niemanden, der mir das sonst noch beibringen könnte? Hier im Palast habt ihr doch unendlich viele Angestellte.“
„Weil wir vorher noch nie kämpfen mussten, ist die entsprechende Ausbildung bisher ausschließlich den königlichen Herrschaften zuteilgeworden. Vielleicht könnte man dir die richtige Handhabung unserer Waffen ja noch irgendwie erklären. In Bezug auf die Kampftechniken wäre das aber schlicht und einfach unmöglich“, gab Lyra resignierend zu.
Inzwischen suchte Raffine fieberhaft nach einer Lösung: „Dann müssen wir uns im äußersten Notfall eben gedulden, bis die anderen zurückkommen. Sicher wird die Zeit dann ziemlich knapp, aber es wäre doch immer noch besser als gar nichts.“
Raffine tat ihr Bestes, um Lyra wieder aufzumuntern und um ihr neuen Mut zuzusprechen.
„Was würden die Damen denn davon halten, wenn ich einspringe und den Part des Lehrers übernehme?“, erklang urplötzlich eine Raffine bereits vertraute Stimme aus dem Hintergrund.
Auf die Sekunde synchron drehten sich Lyra und Raffine um, wobei Lyra sofort wieder ihre Kampfbereitschaft signalisierte.
„Lyra, warte! Lass ihn doch erst einmal zu Ende sprechen!“
Har kam hinter einem blühenden Baum hervor, hinter dem er wohl schon länger gestanden und sie belauscht haben musste.
„Du gehörst zu unseren Feinden. Glaubst du wirklich, dass wir ausgerechnet deine Hilfe in Anspruch nehmen werden? Keiner von uns kann mit Sicherheit sagen, ob du nicht hier bist, um uns auszuspionieren oder um uns zu töten“, zischelte Lyra herausfordernd.
„Deine Einwände kann ich ebenso gut verstehen wie die Tatsache, dass ihr nicht gut auf mein Volk zu sprechen seid. Trotzdem habe ich mit alldem nicht das Geringste zu tun. Schon seit Langem bin ich mit den Machenschaften meines Volkes absolut nicht einverstanden und deshalb beteilige ich mich weder an den Kämpfen noch an irgendwelchen Intrigen. Ob ihr mir das jetzt glaubt oder nicht, spielt im Grunde keine Rolle, aber ich bitte euch dennoch darum, mir zu vertrauen. Wenn ich jemals die Absicht gehabt hätte, euch zu töten, wäre es spielend leicht gewesen. Aber warum sollte ich das tun? Was hätte ich davon?! Ich bin ausschließlich daran interessiert, mein Leben zu genießen und es nicht mit sinnlosen Auseinandersetzungen zu vergeuden. Da ich aber in der Kampfkunst ausgebildet wurde, könnte ich euch in eurer Notlage helfen.“
Halb bittend und halb mitfühlend musterte Har Raffine und Lyra. Weil sie diesem Blick unmöglich widerstehen konnte, wandte sich Raffine von ihm ab.
„Das muss ich erst noch mit den anderen besprechen. Begeistert bin ich von dieser Idee zwar ganz und gar nicht, aber es liegt nicht in meiner Macht, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Deshalb werde ich mich jetzt für ein paar Minuten zurückziehen, um mit …“ Eindringlich sah sie Raffine an: „Du weißt schon, mit wem ich darüber reden muss.“
Raffine nickte ihr zu. Hars Angebot hatte ihr vollkommen die Sprache verschlagen, und sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie die Situation einschätzen und was sie davon halten sollte. Tief in ihre Gedanken versunken, schaute sie Lyra nach, die sich auf den Weg zum Palast begab.
Als Lyra aus ihrem Blickfeld verschwunden war, vermied sie es auch weiterhin, Har anzusehen. Stattdessen betrachtete sie erst einmal den See, wobei sie den Anschein erweckte, sie hätte dort gerade etwas unheimlich Interessantes entdeckt, das sie unbedingt genauer in Augenschein nehmen musste.
„Dann heißt du also Raffine. Das ist ein wunderschöner Name, aber er kommt ganz gewiss nicht aus diesem Land. Man sagt, du wärst hierher zu Besuch gekommen, um deiner Familie zu helfen. Stimmt das?“
Har setzte sich neben Raffine und stieß sie mit seinem Ellenbogen an.
„Lass das! Selbst wenn es so wäre, würde dich das absolut nichts angehen. Dass du uns deine Hilfe angeboten hast und dass du hier deine Unschuldsmiene zur Schau trägst, bedeutet noch lange nicht, dass ich oder, besser gesagt, dass wir dir vertrauen. Genauso gut könntest du den Plan verfolgen, dir deinen Feind zum Freund zu machen, und haargenau dieser Verdacht drängt sich mir gerade auf.“
Anstatt Har dabei in die Augen zu sehen, richtete Raffine ihren Blick zum Himmel hinauf.
„Da muss ich dir natürlich recht geben. Dummerweise sind euch die Hände gebunden und ihr könnt mich jetzt nicht einfach grundlos umbringen oder mich gefangen nehmen. Aber ganz ehrlich gesagt, was hättet ihr denn davon? Und was würde es mir bringen, euch zu hintergehen? Lass uns doch einfach auf die Nachricht warten, die deine kleine Schlange uns bringen wird! Anschließend sehen wir dann weiter.“
Ebenso wie Raffine ließ er seine Füße in das Wasser hinein gleiten und auch er gab jetzt vor, irgendwo auf dem See etwas ungeheuer Spannendes entdeckt zu haben.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Lyra endlich zurückkam, aber sie war nicht allein. An ihrer Seite schlängelte sich Uaret den Weg entlang und sie sah ganz und gar nicht danach aus, als ob sie sich auf eine nette Plauderei eingestellt hätte. Während sie sich ihnen näherte, war ihr Kopf kerzengerade aufgerichtet und ihre Augen spähten wachsam von rechts und nach links und wieder zurück.
„Komm mit! Wir müssen dringend miteinander reden.“
Dabei zischelte sie Har alles andere als freundlich an.
„Lyra, du weißt Bescheid. Raffine, es wird eine Weile dauern. Also genießt einfach beide die kleine Ruhepause! Lyra, vielleicht wäre es eine gute Idee, Raffine noch ein wenig mehr von der Anlage zu zeigen, während ich mich mit Har unterhalte. Schließlich interessiert sie das alles ja brennend und sie möchte unbedingt ihr Wissen erweitern. Das war doch immer dein größter Wunsch, Raffine. Oder etwa nicht?“
Nachdem sie Raffine noch einmal zugezwinkert hatte, verließ sie die Anlage zusammen mit Har, den sie aber nicht zum Palast führte. Stattdessen gingen sie in der entgegengesetzten Richtung auf einen kleinen Tempel zu.
„Meinst du, sie wird ihn töten?“
Raffine sah Lyra beinahe flehentlich an. Insgeheim erhoffte sie sich als Antwort auf ihre Frage ein klares: „Nein“.
„Das kommt ganz darauf an“, meine Lyra vieldeutig, um sich nicht festlegen zu müssen. Dabei hatte sie aber Raffines Hartnäckigkeit nicht mit einkalkuliert.
„Worauf denn?“, bohrte Raffine sofort nach.
„Etwas Genaueres kann oder, besser gesagt, darf ich dir jetzt noch nicht sagen. Was die beiden zu klären haben und was Uaret beabsichtigt, weiß ich zwar, aber was das anbelangt, bin ich leider zur Verschwiegenheit verpflichtet. Also warten wir beide besser einfach ab, wie Uarets Urteil ausfallen wird. Wenn Uaret dir später erzählen möchte, was jetzt gerade geschieht, wird sie das unaufgefordert tun.
Deshalb sollten wir erst einmal ihren Vorschlag aufgreifen und ich zeige dir einige Besonderheiten der Anlage. Du hast doch schon ewig davon geträumt, unsere Bauwerke in ihrem Originalzustand besichtigen zu können, und genau diesen Wunsch werde ich dir jetzt erfüllen. Vergiss besser erst einmal alles andere und genieße es einfach!“
Daraufhin stupste sie Raffines Arm so lange mit ihrem Kopf an, bis Raffine lachen musste.
„Du hast ja vollkommen recht. Immerhin befinde ich mich hier gerade in meinem schönsten Traum. Dass er jemals wahr werden würde, hätte ich vorher niemals für möglich gehalten, aber anstatt hellauf begeistert zu sein, mache ich mir Gedanken über jemanden, der höchstwahrscheinlich zu unseren Feinden gehört. Ich muss völlig verrückt sein.
Also, lass uns einfach gehen! Ich hoffe doch sehr, du wirst eine perfekte Fremdenführerin abgeben.“
Fest entschlossen zog sie ihre Schuhe an, bevor sie aufsprang und rief: „Na, dann mal los! Worauf wartest du noch?“
Dabei lachte sie befreit auf, ohne noch länger nachzudenken. Schließlich war das Alte Ägypten schon immer ihre ganz große Leidenschaft gewesen. Deshalb durfte sie sich diese einmalige Gelegenheit auf gar keinen Fall entgehen lassen.
Kurz darauf belohnte sie Lyra mit einer ganz besonderen Überraschung. Als sie eine der zahlreichen kleinen Nischen betraten, in denen Bänke aus Stein aufgestellt waren, bemerkte Raffine, dass ein Teil der Wand noch frei war. Davor stand ein Arbeiter, der ein Werkzeug in seiner Hand hielt. Nachdem sie ihn beide begrüßt hatten, nickte Lyra ihm zu.
„Raffine, könntest du deine Hand bitte auf diese Wand legen und sie anschließend nicht mehr bewegen, bis er einen Abdruck gemacht hat?“
Obwohl Raffine diese Aufforderung leicht verwirrte, tat sie es. Daraufhin begann der Arbeiter, eifrig zu hämmern und zu zeichnen. Vollkommen fasziniert betrachtete Raffine die prachtvollen, kräftigen Farben, die sie schon ihr Leben lang bewunderte. In ihrer Zeit hatte sie sich oftmals gefragt, wie diese hergestellt wurden.
Ungefähr zehn Minuten später gab der Arbeiter Raffine zu verstehen, dass sie ihre Hand wieder von der Wand nehmen konnte.
„Das war es schon. Auf das Ergebnis werden wir noch eine Weile warten müssen. Ich bekomme Bescheid, sobald das Ganze fertig ist, und dann schauen wir es uns gemeinsam an.“
Aufgeregt wackelte Lyras Köpfchen hin und her.
„Was wird das denn werden? Sag es mir doch bitte! Lyra, jetzt komm schon! Ich sterbe ja schon fast vor Neugier.“
Bettelnd hüpfte Raffine vor Lyra auf und ab.
„Das ist ein Geheimnis und Überraschungen verrät man nicht schon im Voraus.“
Man konnte deutlich spüren, dass Lyra die Situation genoss und dass sie sehr viel Spaß daran hatte. Es half alles nichts. Wohl oder übel musste sich Raffine damit abfinden, sich noch für eine Weile zu gedulden.
Anschließend schauten sich die beiden hier und dort noch vieles an, bis Raffine die Füße wehtaten. Außerdem schien die Mittagssonne inzwischen so brennend heiß vom Himmel, dass sie beschlossen, erst einmal in den kühlen Palast zurückzukehren, um sich zu stärken und um sich ein wenig auszuruhen. Obwohl Raffine die Sonne liebte, musste sie sich nämlich eingestehen, dass sie allmählich doch an ihren Kräften zehrte.
Nachdem Raffine einen kleinen Mittagsschlaf gehalten hatte, fühlte sie sich aber wieder wunderbar frisch und munter. Als sie sich überall im Raum umschaute, konnte sie Lyra nirgendwo entdecken.
Also zog sie sich an, um nach Lyra zu suchen. Auf ihrem Weg durch den Palast erkundete sie weitere Gänge und Korridore, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Während sie das unermesslich große, imposante Gebäude einschließlich der Anlage eingehend erforschte, konnte sie absolut nicht verstehen, warum in ihrer Zeit, trotz der beeindruckend soliden Bauweise überhaupt nichts mehr davon übrig geblieben war. Was könnte wohl dazu geführt haben? Dass ein derartig riesiger Komplex auf einen Schlag restlos verschwunden sein sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Raffine war immer noch vollkommen sprachlos und unbeschreiblich dankbar dafür, dass sich ihr die einzigartige Gelegenheit bot, das alles im Originalzustand sehen zu dürfen. All das, was sie hier erlebte, würde kein anderer Mensch aus ihrer Zeit jemals mit ihr teilen können. Tief in ihrem Herzen machte sie dieses kostbare Geschenk überglücklich.
Am Ende ihres kleinen Streifzuges stand sie auf einmal vor den Gemächern von Uaret. Als sie von drinnen Stimmen hörte, klopfte sie leise und vorsichtig an die Tür.
„Komm nur herein!“, rief Uaret. Also drückte Raffine die Klinke herunter, um den Raum zu betreten. Sofort fiel ihr Blick auf Lyra, die in sich zusammengerollt auf Uarets Bett saß.
„Wir hatten beschlossen, dir noch ein wenig Ruhe zu gönnen, und wollten dich deshalb nicht wecken. Aber da du ja jetzt hier bist, möchten wir gern etwas mit dir besprechen.
Du hast ja inzwischen erfahren, dass ich dich leider noch nicht in der Kampfkunst ausbilden kann. Trotzdem musst du dir diese Fähigkeiten schnellstmöglich aneignen. Ich kann mir nur allzu gut vorstellen, dass du zunächst einmal wissen möchtest, was ich mit Har besprochen habe, aber das werde ich dir erst erzählen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Da es jetzt noch zu früh dafür wäre, bitte ich dich, es vorerst einfach so hinzunehmen und mir keine Fragen zu stellen.
Heute Nachmittag wird Har beginnen, mit dir zu trainieren. Betrachte ihn also bitte nicht mehr als unseren Feind, sei aber dennoch auf der Hut! Damit, dass er dich ausbildet, bin ich hundertprozentig einverstanden. Aus verschiedenen Gründen habe ich sein Angebot angenommen.
In drei bis vier Tagen werden die anderen wieder hier sein und bis dahin solltest du schon einiges gelernt haben, was für uns alle außerordentlich wichtig ist.
Für dein erstes Training lasse ich dir gleich noch bequemere Kleidung in deine Gemächer bringen.“
Bevor sie Raffine die folgende Frage stellte, lächelte sie verschmitzt.
„Wie nennt ihr eigentlich eure Hosen?“
Raffine, die jetzt lachen musste, antwortete ihr schmunzelnd: „Jeans.“
„Das ist wirklich eine seltsame Bezeichnung.“
Offenbar konnte Uaret gar nicht mehr aufhören, lauthals zu lachen, und Raffine und Lyra stimmten mit ein.
Wenig später verabschiedete sich Raffine von den beiden anderen, um sich blitzschnell umzuziehen und um pünktlich zu ihrem Training zu erscheinen. Obwohl sie es sich nur ungern eingestehen wollte, freute sie sich schon sehr auf ihre nächste Begegnung mit Har.