Kapitel 11
Die Vorbereitungen auf den ersten Kampf mit den neuen Techniken
Raffine beobachtete, wie die Sonne ganz langsam hinter den Palmen der Anlage aufging. Am Abend zuvor war sie vollkommen erschöpft eingeschlafen und an diesem Morgen ungewohnt früh aufgestanden. Vorher hatte sie schon eine Zeit lang wach gelegen und darüber nachgedacht, wie sie die Hyksos mithilfe der neuen Techniken ein für alle Mal aus dem Land vertreiben könnten.
Außerdem gingen ihr noch immer ihre unbedachten Äußerungen durch den Kopf. Was sie am gestrigen Abend von sich gegeben hatte, fand sie inzwischen nämlich doch ein wenig zu hart. Natürlich konnten sie mit den neuartigen Waffen noch keinerlei Erfahrung haben und selbstverständlich war es nicht ihre Schuld, dass ihre Kultur untergegangen war. Deshalb fasste sie den Entschluss, sich später für ihre herzlosen Worte zu entschuldigen.
Jetzt musste sie sich aber erst einmal beeilen. Schließlich war sie verabredet. Nachdem sie sich rasch angezogen hatte, warf sie noch schnell einen prüfenden Blick in den Spiegel und schon ging es ab in den Garten.
Dort saßen Uaret, Lyra und Har am Ufer des Sees bereits beim Frühstück.
„Guten Morgen!“
Raffine freute sich darüber, die anderen wiederzusehen, und sie hatte an diesem Morgen richtig gute Laune.
Sobald Har sie erblickte, sprang er auf, um ihr entgegenzugehen. Obwohl er es nur ungern zugab, hatte er die ganze Zeit auf Raffine gewartet. Als sie jetzt endlich erschien, konnte er seine Freude nur schwer verbergen. In der vergangenen Nacht hatte er sich grübelnd hin und her gewälzt und kaum Schlaf gefunden. Diese Frau zog ihn nahezu magisch an und sie schien es nicht einmal zu bemerken.
„Guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Für einen perfekten Start in den neuen Tag haben wir frischen Kaffee für dich.“
Mit einer einladenden Geste deutete er auf die verlockenden Speisen auf dem gedeckten Tisch.
„Das sieht ja wirklich lecker aus“, stellte sie begeistert fest. Bevor sie auf ihren Platz zusteuerte, umarmte sie Uaret und gab ihr ein Küsschen auf beide Wangen.
„Da scheint ja heute jemand unvergleichlich gute Laune zu haben“, bemerkte Uaret lächelnd. „Dann wirst du dich sicher über meine kleinen Überraschungen freuen.“
Um die im höflichen Abstand wartenden Arbeiter zu ihnen zu rufen, winkte sie ihnen zu.
Während Raffine gerade an ihrem Kaffee nippte, sah sie plötzlich einen ungefähr drei Meter hohen Wehrturm auf sich zukommen. Diesem folgten zwei weitere Arbeiter, die einen zweiten Turm in ihre Richtung schoben.
Wie ein kleines Kind vor Aufregung zappelnd, schnellte Raffine von ihrem Stuhl hoch und lief auf die Arbeiter zu. Dabei entdeckte sie die Schusswaffen in den Türmen und hinter den beiden Wehrtürmen zwei Wurfmaschinen in derselben Größe.
„Das ist alles schon fertig? Alle Achtung, das ist ja der absolute Hammer! Habt ihr etwa die ganze Nacht lang daran gearbeitet? Wahnsinn! Kommt alle schnell her, damit ich euch zeigen kann, wie das alles funktioniert!“
Uaret und Har rührten sich nicht vom Fleck.
„Setz dich bitte erst einmal hin und frühstücke in Ruhe! Du bist ja ganz aufgedreht. Nach dem Frühstück haben wir noch alle Zeit der Welt, um uns mit diesen Wunderwaffen zu beschäftigen, und dann kannst du nach Herzenslust damit spielen.“
Sanft zog Uaret Raffine auf ihren Platz zurück. Ihr war klar, dass Raffine keine Ruhe mehr finden würde, aber für all das, was sie an diesem Tag noch vorhatten, musste sie sich erst einmal mit einem ordentlichen Frühstück stärken.
Diesmal schlang Raffine alles in sich hinein, ohne die Genüsse entsprechend zu würdigen. Sobald sie fertig war, sprang sie blitzschnell auf, um auf die neuen „Spielzeuge“ zuzueilen.
„Wir brauchen unbedingt Kugeln aus Teer, die genau in die Wurfarme passen.“
„Was meinst du damit?“
Jetzt stand auch Har auf. Mit raschen Schritten ging er auf Raffine zu.
„Das ist doch ganz einfach zu verstehen. Wenn wir Kugeln aus Teer anfertigen und diese härten lassen, legen wir sie anschließend in Spiritus oder in Alkohol, damit sie sich damit vollsaugen. Kurz bevor wir sie abfeuern, zünden wir sie dann an und wir haben die perfekten Feuerkugeln.“
Bei dieser Erklärung strahlte Raffine vor Begeisterung, aber Har sah sie an, als ob er gerade einen Geist erblickt hätte.
„Sag mal, kämpfst du öfter mal in einem Krieg? Ich meine, so etwas kann sich ein kleines Persönchen wie du doch nicht einfach ganz nebenbei aus den Fingern saugen.“
Dass er innerlich zwischen seiner Neugier, aufrichtiger Bewunderung und grenzenlosem Erstaunen hin und her gerissen war, konnte man ihm deutlich ansehen.
Anstatt ihm zu antworten, schob Raffine die eine Wurfmaschine nach links und die andere nach rechts, bis die beiden Maschinen ungefähr zwanzig Meter voneinander entfernt waren und sie zwischen ihnen stand. Dann rannte sie los, um zwei große Steine zu suchen, die exakt in die entsprechenden Vorrichtungen passten. Diese trug sie zu den Maschinen, wo sie die Steine in die dafür vorgesehenen Mulden legte. Im Anschluss daran wandte sie sich der rechten Wurfmaschine zu und zog an dem Seil, das dazu diente, das Katapult nach oben schnellen zu lassen. Mit voller Wucht glitt das Bauteil, das einem Löffelchen ähnelte, nach oben und schleuderte den Stein in die Richtung des Sees. Da der Druck aber leider noch nicht ausreichte, landete der Stein kurz vor dem Seeufer genau auf dem Frühstückstisch. Dass Uaret so schnell aufspringen und die Flucht ergreifen konnte, hätte Raffine vorher nicht für möglich gehalten. Ihr durch diesen Anblick ausgelöster Lachanfall schien kein Ende mehr nehmen zu wollen.
Weil Raffine sie so maßlos erschreckt hatte, war Uaret schon im Begriff, lauthals mit ihr zu schimpfen, aber Raffines Lachen wirkte so ansteckend, dass sie stattdessen gemeinsam mit Har losprustete.
„Das ist tatsächlich eine Wunderwaffe.“
Har ging um die Wurfmaschinen herum, um sie von allen Seiten zu mustern und Uaret tat es ihm gleich.
„Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wo sich die Hyksos überall angesiedelt haben. Soweit ich weiß, haben sie ihr Hauptquartier hier in Memphis errichtet. Ihre zahlreichen Siedlungen dehnen sich aber bis nach Alexandria aus. Ja, schon klar, Alexandria gibt es bei euch noch nicht. Also, ich meine damit, bis nach Norden zu dem größten Hafen am Meer, der ungefähr zweihundert Kilometer von hier entfernt ist. Mit dem Auto wäre das natürlich ein Klacks, aber wenn es Hannibal gelungen ist, mit seinen Elefanten die Alpen zu überqueren, sollten wir es doch wohl schaffen, die Hyksos zweihundert Kilometer weit bis zum Meer zurückzudrängen.
Trotzdem schlage ich vor, taktisch vorzugehen. Zunächst würde ich die Hyksos aus Memphis vertreiben und sie anschließend im Konvoi unter ständiger Beobachtung auf dem Nil zum Meer eskortieren. Ihre Boote liegen ja sowieso alle vor der Stadt auf dem Nil. Damit hätten wir die Metropole schon einmal von ihnen befreit. Danach würde ich das Heer an eurer Stelle ganz langsam auf das Meer zumarschieren lassen und auf diese Weise die restlichen Hyksos dorthin verscheuchen. An der Küste sollte dann bereits eine Flotte bereitstehen, um die Boote der Hyksos auf das offene Meer hinauszutreiben.
Natürlich müsst ihr euer Land auch oben im Norden schützen und dafür einen Wall, also Festungen, errichten, damit sie dort später nicht wieder einfallen können. Momentan ist die Waffentechnologie der Hyksos höher entwickelt als eure. Das heißt, sie verfügen über Streitwagen, Helme, Schutzwesten und Kompositbögen. Demzufolge kommen wir nicht weit, wenn wir versuchen, sie mit herkömmlichen Waffen und mit einem halbherzigen Angriff in die Flucht zu schlagen.“
„Mein Kind, du sprichst schon wieder in Rätseln. Dass es Alexandria noch nicht gibt, weiß ich ja bereits. Das hattest du uns schon erklärt, aber wer ist Hannibal und was sind Elefanten? Und was bedeutet der Rest von dem, was du uns da eben erzählt hast?“
Offensichtlich war Uaret gerade vollkommen überfordert.
„Mit welchen Waffen mein Volk ausgerüstet ist, kann ich dir gleich genau aufzählen, aber alles andere würde ich auch gern verstehen. Woher weißt du eigentlich, welche Waffen wir besitzen?“
Fragend schaute Har erst Uaret und anschließend Raffine an.
„Har, wenn du uns wirklich helfen möchtest, erkläre ich dir alles, was du möchtest, aber ich muss dich auch um etwas bitten. Wir brauchen nämlich dringend grundlegende Informationen, die nur du uns beschaffen kannst. Dafür müsstest du uns die folgenden Fragen beantworten:
1. Aus wie vielen Soldaten besteht euer Heer?
2. Wo genau befindet sich euer Waffenlager in Memphis?
3. In welcher Anzahl, wo und zu welchen Zeiten sind eure Wachen aufgestellt?
4. Welche Waffen stehen euch im Einzelnen zur Verfügung?
5. Wo liegen die bedeutendsten Stützpunkte deines Volkes und eures Heeres zwischen Memphis und der Küste?
6. Wie viele Boote besitzt ihr, wie groß ist eure Flotte und wo ist sie verteilt?
Diese Informationen sind für uns von entscheidender Bedeutung, weil wir unsere Strategie darauf aufbauen müssen. Was deine weiteren Fragen betrifft, …“
An dieser Stelle unterbrach sich Raffine selbst, weil sie lachen musste.
„He, wenigstens einen Vorteil muss es ja haben, dass eure Zeit in meiner Welt längst schon Geschichte ist. Dadurch kenne ich bereits eine Menge Fakten, die ich mir hier zunutze machen kann.“
An Uaret gewandt, fuhr sie fort: „Im Augenblick ist eure Flotte leider noch ziemlich erbärmlich. Das müsst ihr unbedingt ändern. Da euch aber die Zeit fehlt, um ausreichend viele Boote zu bauen, müsst ihr die Magie anwenden, um eine schlagkräftige Flotte zu erschaffen. Sobald wir alle Informationen zusammengetragen haben, die wir für die geeigneten Vorbereitungen brauchen, erkläre ich euch meine Ideen. Ich habe nämlich schon eine ganz klare Vorstellung davon im Kopf, wie wir den Angriff am Besten starten und durchführen. Das Einzige, was wir im Vorfeld nicht mit einplanen können, sind die von den Hyksos erschaffenen magischen Wesen. Was diese angeht, haben wir nicht die geringste Ahnung, wie viele es sein werden und womit sie kämpfen.“
Weil sie so furchtbar aufgeregt war, sprudelten die Worte inzwischen wie Salven aus einem Maschinengewehr aus Raffine hervor, weshalb sie gar nicht mitbekam, dass Har und Uaret ihr nur noch mit viel Mühe folgen konnten.
„Jetzt habe ich völlig den Faden verloren. Wie gehen wir denn nun ab heute vor?“
Uaret war eindeutig irritiert, und Har schien es genauso zu gehen.
„Also, zunächst würde ich vorschlagen, dass Har uns die Informationen verschafft. Sobald er zurück ist, werden wir weiter mit den magischen Wesen üben. Du, Uaret, hast die Aufgabe, einen Schutzwall über die Anlage zu zaubern, damit keiner von außen sehen kann, was und wie wir hier trainieren. Heute Nachmittag werden wir uns ein wenig ausruhen. Während dieser Zeit zeichne ich einen Plan, um euch zu zeigen, wie unser Angriff ausgeführt werden könnte. Das halten wir schon einmal fest. Wenn die anderen wieder hier sind, gehen wir das alles dann gemeinsam durch. Wer weiß, vielleicht haben die anderen ja noch weitere Vorschläge, die sie mit einbringen möchten. Wäre das für euch so in Ordnung?“
Har stand auf und nickte: „Ich werde sofort die erforderlichen Erkundigungen einholen, damit wir direkt im Anschluss daran unser Training fortsetzen können.“
Nur Uaret hatte sich auch weiterhin nicht gerührt. Sie saß immer noch total verblüfft und schweigend auf ihrem Platz.
„Uaret, wie sieht es aus? Wollen wir mit dem Schutzwall beginnen? Dabei musst du mir bitte helfen, weil ich ja leider nicht zaubern kann.“
Lachend ging Raffine auf Uaret zu, um sie zu umarmen.
„Komm schon, so viel auf einen Schlag war das doch eben gar nicht“, ermutigte Raffine Uaret mit einem verschmitzten Lächeln.
„Kindchen, allein mit deinem Wissen kann man einen Krieg gewinnen und dabei beherrschst du noch nicht einmal die Magie. Das wird für mich wohl ewig ein Rätsel bleiben.“
„Man kann ja schließlich nicht alles können, aber zum Glück habe ich dafür ja euch“, erwiderte Raffine mit einem schelmischen Zwinkern.
„Da hast du natürlich auch wieder recht.“
Endlich stand Uaret auf, wobei sie den Skarabäus aus ihrem Gewand hervorholte. Wenig später hob sie ihn hoch in die Luft und murmelte für Raffine unverständliche Worte vor sich hin. Daraufhin sandte der Skarabäus Farben und Lichter in Rot, Grün, Blau und Weiß aus, die, einem Strudel ähnelnd, zum Himmel aufstiegen und sich dort zu einer bunten Glocke aus Glas zusammenschlossen. Kurzzeitig erschien über Raffines Kopf ein farbenprächtiger Nebel, der sich überraschend schnell wieder auflöste. Danach sah man nichts mehr, weil die Kuppel zwar fertig, aber vollkommen unsichtbar war.
Wesentlich früher, als sie erwartet hatten, kehrte Har zurück, der Raffine augenblicklich eine Papyrusrolle übergab.
„Ich hoffe, hierauf findest du alle Informationen, die du beziehungsweise, die ihr so dringend benötigt.“
Raffine war sichtlich beeindruckt, nahm es aber so hin. Insgeheim fragte sie sich, warum er alles so freiwillig preisgab, obwohl er damit gerade sein Volk verriet.
Also gut, stundenlang darüber nachzugrübeln, hilft mir auch nicht weiter , riet sie sich im Stillen.
„Vielen Dank!“
In diesem Moment überkam sie urplötzlich der Wunsch, ihn einfach einmal zu umarmen, was sie auch, ohne eine einzige Sekunde lang nachzudenken, tat. Zum allerersten Mal hatte sie ausschließlich auf ihr Herz gehört, was sie sofort wieder bereute. Als sie seinen Geruch wahrnahm, fühlte sie sich nämlich augenblicklich wie hypnotisiert und sie war beim besten Willen nicht mehr dazu in der Lage, klar zu denken.
Glücklicherweise rettete sie Uaret aus dieser heiklen Lage.
„Wollen wir jetzt das Kämpfen üben?“
Har und Raffine drehten sich gleichzeitig zu ihr um und antworteten wie aus einem Mund: „Ja, liebend gern!“
Umgehend legten beide ihre Waffen zurecht, bevor sie sich die Schilde umschnallten.
Raffine warf noch einen raschen Blick auf die Waffen, die Har ausgewählt hatte, um ihren Bestand entsprechend aufzustocken und an seinen anzugleichen. Danach lagen hinter ihr ein Schwert, ein Einhandschwert, ein Speer und ein Dolch auf dem Boden.
„Von mir aus kann es losgehen“, rief sie Uaret zu und schon lag ein schwirrendes Geräusch in der Luft und das Spielchen vom Vortag begann von Neuem.
Diesmal standen jeweils eine Grinaha und ein Maronostos vor den beiden, um sie anzugreifen. Schon bald wurde es offensichtlich, dass sich Raffine mittlerweile ein wenig erholt hatte, und dass sie heute wesentlich besser vorbereitet war.
Mit der linken Hand hob sie ihren Schild über ihren Kopf, um sich zu schützen, und in der rechten Hand hielt sie das gebogene Einhandschwert. Damit versuchte sie, die Füße der Grinaha zu treffen, um sie zum Umknicken zu bringen.
Diese Strategie erwies sich als erfolgreich und nebenbei erwischte sie auch noch den Maronostos, der sich gerade von hinten an Raffine heranschleichen wollte. Nachdem sie die Sphinx am linken Vorderfuß verletzt hatte, ließ sie sich blitzschnell auf den Boden fallen, um die Kegel von unten abzuschießen. Auch diese Taktik führte zu dem erwünschten Ergebnis und sie hatte die Grinaha im Handumdrehen erledigt. Daraufhin erschien wieder der grüne Nebel, der die Grinaha verschwinden ließ. Sobald sich dieser gelichtet hatte, stand auch schon die zweite Grinaha vor ihr, während der Maronostos hinter ihrem Rücken weitere Versuche unternahm, Raffine zu attackieren. Als sie mit ihrer rechten Hand kräftig ausholte, traf sie ihn aber so stark am Hals, dass das Blut in Strömen aus seiner Wunde herausschoss. Kurz darauf kippte er nach vorn und Raffine meinte, sie hätte ihn bereits besiegt. Deshalb widmete sie nun der Grinaha ihre gesamte Aufmerksamkeit. Diese tödlich zu verletzen, gestaltete sich wesentlich schwieriger, weil ihre drei Köpfe diesmal im perfekten Zusammenspiel auf den Kampf ausgerichtet waren. Sie kreisten Raffine ein und zielten darauf ab, den Panzer, also ihren Schild, zu durchbrechen.
Aus diesem Grund dauerte der Kampf eine gefühlte Ewigkeit und Raffine ärgerte sich maßlos darüber, dass sie eine so schlechte Kondition hatte und ihre Kräfte sie langsam, aber sicher verließen. Bevor es endgültig zu spät sein würde, griff sie hinter sich und ertastete den Speer, den sie mit ihren allerletzten Kraftreserven in den Hals der Grinaha hineinstieß. Als sie anschließend die Kegel abschoss und dabei zufrieden feststellte, dass sie die Grinaha beim sechsten oder siebten Anlauf genau zwischen die Augen getroffen hatte, spürte sie auf einmal einen stechenden Schmerz an ihrem rechten Bein. Noch in derselben Sekunde war sie gelähmt und brach hilflos zusammen.
Aus ihren Augenwinkeln heraus nahm sie noch wahr, dass Har links von ihr ebenfalls am Boden lag. Um ihn herum hatten sich bereits mehrere Apokoinus versammelt. Dann wurde alles schwarz.
Als sie später wieder zu sich kam, blickte sie direkt in Uarets Gesicht.
„Wie schön, dass du dich wieder unter den Lebenden befindest! Keine Angst! Inzwischen bist du schon vollständig geheilt“, verkündete sie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Verflixt! Woran lag es denn diesmal? Ich hatte sie doch alle erwischt“, brachte Raffine, spürbar verärgert, hervor.
„Nun ja, eben doch noch nicht ganz. Du hättest dich rechtzeitig davon überzeugen müssen, dass der Maronostos tatsächlich tot ist. Er war nämlich derjenige, der dich am Ende noch überwältigt hat. Erst wenn der grüne Nebel erscheint, sind diese Wesen wirklich tot. Wahrscheinlich hattest du das im Eifer des Gefechts vergessen“, antwortete Uaret mit einem leisen Lachen.
„Okay, dann beginnen wir eben gleich noch einmal von vorn. So einen dummen Fehler mache ich garantiert nur ein einziges Mal.“
Sobald Raffine aufgesprungen war, nahm sie sofort wieder ihre Kampfstellung ein.
„Nicht so schnell! Immer mit der Ruhe!“
Mit dieser Aufforderung zog Har sie zu sich heran: „Erst musst du wenigstens wieder einigermaßen zu Kräften kommen. In der Zeit kann ich dir noch ein paar Tipps geben, die du später direkt umsetzen kannst.“
In diesem Moment wirkte er ungewohnt ernst und alles andere als belustigt.
„Wir dürfen auf gar keinen Fall die Tatsache aus den Augen verlieren, dass wir hier ja nur Übungen durchführen. Wenn du in einem echten Kampf erwischt würdest, wäre niemand zur Stelle, um dich ins Leben zurückzuholen und um deine Wunden wegzuzaubern. In einer realen Schlacht muss jeder mit Angriffen von allen Seiten her rechnen, wobei er ganz auf sich allein gestellt ist. Mit einem Spiel hat das dann nicht mehr das Geringste zu tun. Komm, lass uns einen kurzen Spaziergang unternehmen! Unterwegs gebe ich dir noch ein paar nützliche Ratschläge.“
Im Anschluss an diesen Vorschlag ergriff er Raffines Hand, um sie mit sich zu ziehen.
Wenig später gingen sie durch die Anlage, in der Raffine noch immer jede einzelne Blume, jede Pflanze, jede kunstvoll verzierte Säule und jedes Gebäude bestaunte.
„Während du jetzt hier entlanggehst, musst du ständig darauf gefasst sein, dass etwas aus einer Ecke, hinter einem Baum oder hinter einen Bauwerk hervorgekrochen oder angeflogen kommt und dich völlig unerwartet überrumpelt. Haargenau dasselbe gilt für einen Kampf. Beim Training weißt du von Anfang an, was sich wo befindet, was Uaret mithilfe der Magie erschaffen hat und wo sie es platziert. Im wahren Leben verhält es sich aber vollkommen anders. Wenn du von allen Seiten gleichzeitig angegriffen wirst, musst du dich wirksam davor schützen können. Ich mag dich wirklich sehr gern und es würde mich umbringen, wenn dir etwas zustößt.“
Bei diesem Eingeständnis wirkte Har so ungemein ernst, wie Raffine ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Insgeheim freute sie sich maßlos darüber, dass er sie mochte. Schließlich empfand sie für ihn längst dasselbe. Wenn sie ihm in ihrer Zeit begegnet wäre, hätte sie ihm wahrscheinlich auch ehrlich gesagt, was sie fühlte. An diesem Jahrtausende entfernten Ort wollte sie ihr Herz aber unter gar keinen Umständen an jemanden verlieren, mit dem es für sie keine Zukunft gab. Aus diesem Grund ging sie mit keiner einzigen Silbe auf sein Geständnis ein. Stattdessen entschied sie sich dafür, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Ich verstehe genau, was du meinst. Was würdest du davon halten, wenn wir als Nächstes mit den Türmen und den Wurfmaschinen üben? Das ist doch jetzt erst einmal wesentlich wichtiger als irgendwelche Gefühle. Oder? Außerdem möchte ich dir auch gleich noch die Handfeuerwaffen zeigen. Geschossen habe ich mit ihnen zwar noch nicht, aber das könnten wir ja direkt nachholen.“
Raffine hoffte, dass Har damit einverstanden sein würde, was er glücklicherweise auch war. Als sie sich auf den Rückweg zu Uaret begaben, ließ sie seine Hand los, was möglichst beiläufig wirken sollte.
„Na, ihr zwei, habt ihr inzwischen alles geklärt, was ihr klären wolltet?“, rief Uaret ihnen schon von Weitem entgegen.
„Ja, es ist alles bestens. Sag mal, Uaret, könntest du für uns ein kleines Modell von Memphis herbeizaubern? Wäre das machbar?“
Einerseits beabsichtigte Raffine, das Thema rasch wieder zu wechseln, und andererseits interessierte es sie wirklich brennend, ob die Magie auch dafür eingesetzt werden konnte.
„Dann werde ich es einfach einmal versuchen“, erwiderte Uaret, bevor sie begann, mithilfe der Magie und weiterer unverständlicher Zaubersprüche eine Miniaturausgabe von Memphis zu erschaffen. Das Ergebnis war gerade so groß, dass die Türme und die Katapulte exakt dazu passten.
„Zusätzlich brauchen wir noch Kugeln, deren Durchmesser dem der Mulden auf den Wurfmaschinen entspricht“, bat Raffine.
Auch diese zauberte Uaret im Nu herbei.
„Du kannst einen ja wirklich ganz schön auf Trab halten“, bemerkte sie lachend.
Als alles fertig war, freute sich Raffine wie ein kleines Kind. Begeistert lief sie los, um die Kugeln in die „Löffelchen“ zu legen. Anschließend nahm sie die Papyrusrolle zur Hand, die Har ihr mitgebracht hatte. Nachdem sie diese eingehend betrachtet und sich genau eingeprägt hatte, was sich wo befand, beförderte sie die gesamte Ausrüstung in die Ausgangsposition.
„Har, komm doch bitte mal her und hilf mir!“
Um Har dazu zu animieren, mit ihr und mit den neuen Spielzeugen zu üben, gestikulierte Raffine wie wild mit beiden Händen. Sie musste ihn aber nicht lange bitten, denn Har wollte mindestens ebenso gern „spielen“ wie sie.
Gemeinsam rollten sie die Wehrtürme und die Maschinen an den perfekten Ausgangspunkt, von dem aus sie die wichtigsten Gebäude im Zentrum von Memphis ins Visier nehmen konnten. Gleich danach holten sie die Kugeln und schon begann das Übungsschießen, bei dem sie von Anfang an vielversprechende Ergebnisse erzielten. Alles, was sie treffen wollten, trafen sie auch, was ihren Gegner in einem echten Kampf erheblich schwächen würde. Nur bei den Angriffen aus der Luft erwies es sich als wesentlich schwieriger, mit den Kugeln ähnlich befriedigende Resultate zustande zu bringen. Dafür mussten sie sich also noch etwas einfallen lassen.
„Wenn wir ausreichend viele Wehrtürme hätten und diese in kleinen Gruppen im Kreis aufstellen würden, könnten wir auf ihnen die Bogenschützen postieren. Zusätzlich müssten wir eine möglichst große Anzahl von Kämpfern oben auf den Stadtmauern aufreihen, von wo aus sie alles überblicken können und nach oben und nach unten eine freie Schussbahn haben. Von dort aus würden sie die Angreifer mit einem Treffer zwar nicht töten, sie aber zumindest verletzen. Sobald die Verwundeten dann am Boden liegen, wird das Heer den Rest übernehmen und sie mit den Kegelbogen erledigen. Im Klartext heißt das also, dass wir Unmengen von Kämpfern brauchen.“
„Da stimme ich dir vollkommen zu. Leider habe ich aber keine Ahnung, wie viele Kämpfer euch insgesamt zur Verfügung stehen.“
Fragend richtete Har seinen Blick auf Uaret.
„So ganz genau kann ich das jetzt noch gar nicht sagen, aber sobald die anderen hier sind, werden wir es erfahren.“
In diesem Moment schoss Raffine ihre letzte Kugel mit besonders viel Schwung ab.
„AU!!!“
Aus weiter Ferne erklang ein ohrenbetäubender Schmerzensschrei. Raffine, Har und Uaret sahen einander erschrocken an, bevor Har und Raffine wie auf Kommando in die Richtung rannten, aus der der Schrei gekommen war. Kurz darauf erkannten sie völlig fassungslos, dass die Kugel genau vor Sito gelandet und auf seinen Fuß gerollt war.
„Oh, oh“, flüsterte Raffine. „Das wollte ich wirklich nicht.“
Im Bruchteil einer Sekunde wurde sie puterrot. Beschämt richtete sie ihren Blick vor Sito auf den Boden.
„Was ist denn hier los?“
Sito schaute sich um und musterte gleich danach Raffine. Noch im selben Augenblick lachte er aus voller Kehle. Es war aber auch ein Bild für die Götter, wie Raffine mit dem Gesichtsausdruck eines kleinen Kindes, das gerade eine Fensterscheibe zerschossen hat, total zerknirscht vor ihm stand.
Hinter Sito tauchten Neferafin und Arafine auf, die sich nur allzu gern von seinem Lachen anstecken ließen. Als sich Raffine wieder einigermaßen gefangen hatte, stürmte sie auf Sito los, um ihn und gleich darauf die beiden anderen zu umarmen.
„Wie schön, dass ihr endlich wieder zurück seid! Inzwischen haben wir hier schon fleißig geübt. Wie ist es denn gelaufen?“
Schlag auf Schlag bombardierte sie die drei Heimkehrer mit ihren Fragen und ihr Mundwerk stand überhaupt nicht mehr still, bis sie sich auf einmal suchend umsah: „Wo ist denn Utho?“
„Utho?“, rief sie in einem fort, während sie in die Richtung lief, aus der die drei gekommen waren.
„Raffine, komm bitte zurück!“
Sofort verstummte das Lachen und Sito wirkte mit einem Mal erschreckend ernst. „Lasst uns erst einmal richtig ankommen! Dann erzählen wir euch alles, was passiert ist.“ Schlagartig verspürte Raffine ein beängstigend flaues Gefühl in ihrem Magen.
Mittlerweile war auch Uaret bei ihnen angelangt, um die Rückkehrer zu begrüßen.
„Bevor wir unsere Neuigkeiten austauschen, werde ich noch schnell ein paar Erfrischungen kommen lassen.“
Damit drehte sie sich um und rief nach den Bediensteten.
Sobald frische, kühle Getränke und kleine, einladende Speisen aufgetischt waren, saßen alle erschöpft an der Tafel im Garten.
Uaret, Har und Raffine blieben zunächst stumm und warteten darauf, dass Sito das Wort ergreifen würde.
Während er die Ereignisse der letzten Tage kurz darauf Revue passieren ließ, hingen alle spürbar erschüttert an seinen Lippen.
Die Zeit verging wie im Flug, bis Sito sich selbst unterbrach und eine Frage in die Runde warf: „Wer ist denn der junge Mann in eurer Mitte?“
Bisher hatte Har nämlich noch gar keine Gelegenheit gehabt, sich vorzustellen.
„Raffine, Arafine und Neferafin, ich würde vorschlagen, dass ihr drei euch erst einmal frisch macht. In der Zwischenzeit muss ich etwas mit Sito besprechen.“
Uarets Blick zeigte den drei Frauen auf eine unmissverständliche Art und Weise, dass dieser Vorschlag eigentlich eine Aufforderung dazu war, den Tisch ohne weitere Diskussionen zu verlassen. Dementsprechend verabschiedeten sie sich auf der Stelle.
Auf ihrem Weg zum Palast löcherten Neferafin und Arafine Raffine ununterbrochen mit ihren neugierigen Fragen: „Wer ist das? Was hat er hier zu suchen? Weißt du vielleicht, was Uaret und Sito gerade miteinander besprechen?“
„Ich kann euch nur sagen, dass Har von den Hyksos abstammt, aber ich habe immer noch nicht die leiseste Ahnung, warum Uaret ihn hierbleiben lässt. Genau das interessiert mich selber brennend. Momentan hilft er uns dabei, die bestmögliche Strategie gegen seine eigenen Leute auszuarbeiten. Den Grund dafür verstehe ich aber auch nicht.“
„Er sieht verdammt gut aus und er scheint bis über beide Ohren in dich verliebt zu sein. Deshalb muss ich gestehen, dass ich dich gerade ein wenig beneide.“
Mit einem verschmitzten Lächeln musterte Neferafin Raffine von Kopf bis Fuß.
„Da irrst du dich ganz gewaltig. Vielleicht bildet er sich tatsächlich ein, dass er verliebt wäre, aber da ist absolut nichts.“
Raffine gab sich alle Mühe, das Thema umgehend wieder zu wechseln: „Beeilt ihr euch? Dann können wir nämlich noch schneller in die Anlage zurückkehren und ich zeige euch dort meine Waffen.“
Natürlich hatte Raffine schon längst wieder ihre „Spielzeuge“ im Kopf.
Nachdem sich die drei Frauen noch einmal gegenseitig umarmt hatten, verschwanden sie in ihren Gemächern.
Währenddessen saßen Sito, Har und Uaret im Garten, wo sie noch lange mit ungewöhnlich ernsten Stimmen miteinander sprachen. Als sie endlich fertig waren, kamen die drei Frauen gerade zurück.