Kapitel 12
So war es nicht geplant
Äußerst interessiert begutachtete Sito die neue Technik, die er sich von Raffine genauestens erklären ließ.
„Damit wir im Ernstfall sofort alles zur Hand haben, sollten wir jetzt schnellstmöglich ausreichend viele Waffen herstellen und sie rund um die Uhr bereithalten. Ich habe nämlich das Gefühl, dass uns für weitere Vorkehrungen keine Zeit mehr bleiben wird, wenn sich die Steine erst wieder in unserem Besitz befinden. Sobald wir den ersten Schritt getan haben, wird der Kampf unmittelbar losbrechen.
Dann werden uns Raffines Techniken enorm helfen und sehr, sehr nützlich sein. Nachdem ich mir gerade alles angeschaut habe, schlage ich vor, einige der Schilde noch etwas zu verändern. In zwei Tagen greifen wir bei Sonnenaufgang an. Auf diese Weise überraschen wir die Hyksos im Schlaf, was uns einen klaren Vorteil verschafft. Gleich morgen werde ich alle unsere Verbündeten zusammenrufen lassen, um unsere Strategie mit ihnen zu besprechen.
Raffine, da wir von allen Seiten her angreifen müssen, brauche ich das gesamte Wissen, das du dir bei deinen Studien der Geschichte angeeignet hast. Für die Rückeroberung unseres Reiches und aller magischen Steine ist es von entscheidender Bedeutung, diesen Kampf zu gewinnen. Die Hyksos müssen unser Land verlassen und wir haben nur eine einzige Chance, dies zu erzwingen. Deshalb dürfen wir diesen Kampf unter gar keinen Umständen verlieren.“
Alle nickten zustimmend.
Im Anschluss an seine Ansprache stand Sito auf, um sämtliche Waffen noch einmal in Augenschein zu nehmen. Dabei schien ihm einiges durch den Kopf zu gehen.
Schließlich rief er mehrere Arbeiter zu sich, denen er detailliert erläuterte, was er noch benötigte und wie er sich die Umsetzung seiner Ideen vorstellte.
Auf der Stelle rannten sie los, um sich direkt an die Arbeit zu machen.
Gespannt wartete der Rest der Runde darauf, dass Sito seine Gedanken mit ihnen teilen würde.
„Mir ist da noch etwas eingefallen, aber das werde ich euch morgen zeigen und erklären.“
Als er sich wieder an den Tisch setzte, genossen alle gemeinsam den milden Abend und die Ruhe vor dem Sturm. Bis tief in die Nacht hinein unterhielten sie sich über die verschiedensten Themen. Erst, als Uaret die Runde auflöste, indem sie sich verabschiedete, spürten auch die anderen, wie anstrengend dieser Tag gewesen war. In einer raschen Aufeinanderfolge verließen alle den Tisch, bis Raffine erschrocken feststellte, dass nur noch Har neben ihr saß.
Weil sie plötzlich zu frösteln begann, rieb sie sich die Arme. Augenblicklich rutschte Har näher an sie heran, um sie in den Arm zu nehmen und zu wärmen.
„Raffine, ich muss dir unbedingt noch etwas sagen und dich um etwas bitten. Bei dem, was uns bevorsteht, wird es Momente geben, in denen du meinen wirst, ich würde auf der Seite der anderen stehen. Wenn es soweit kommt, bitte ich dich darum, dich an meine Worte zu erinnern. Ich stehe hundertprozentig auf eurer Seite und ich würde euch niemals verraten. Meine Gefühle kennst du ja längst und auch an dem, was ich für dich empfinde, wird sich garantiert nichts ändern. Bitte glaube an mich und vertraue mir!“
Behutsam legte er seine Hand auf Raffines Wange, um ihren Kopf zu sich hin zu drehen, bis sie gezwungen war, ihm in die Augen zu schauen. Raffine gab sich die allergrößte Mühe, die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu vertreiben, aber sobald sie in seine Augen sah, war sie dazu nicht mehr in der Lage. Erfüllt von dem Wunsch, dass er sie küssen würde, schloss sie ihre Augen. Als er genau das tat, verlor sie sich auf der Achterbahnfahrt ihrer Gefühle. Tief in ihr rumorte es, als ob dort gerade ein gewaltiges Feuerwerk im Gange wäre. Sie genoss seinen Kuss in vollen Zügen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Endlich ließ sie den Gefühlen, die sie seit Tagen so verzweifelt unterdrückt hatte, freien Lauf. Es war ihr aber trotzdem bewusst, dass sie nicht mehr viel Zeit haben würden und dass durchaus die Möglichkeit bestand, den bevorstehenden Kampf zu verlieren. Im Anschluss an ihren ersten Kuss strich Har ihr sanft über die Haare und schaute ihr dabei noch lange ganz tief in die Augen.
„Har, wer bist du wirklich? Bitte, verrate es mir!“, bat Raffine ihn mit einer kaum hörbar leisen Stimme.
Anstatt ihr zu antworten, legte Har seinen Zeigefinger auf ihren Mund, um ihr damit zu verstehen zu geben, dass sie ihn nicht danach fragen sollte. Offensichtlich kannte er Raffine aber noch lange nicht gut genug.
„Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, wie es jetzt weitergehen soll. Du weißt, aus welcher Zeit ich komme, und es ist uns beiden klar, dass wir uns schon bald wieder voneinander trennen müssen. Falls wir beide diesen Kampf überleben sollten, würde es für uns trotzdem keine gemeinsame Zukunft geben, weil wir in verschiedenen Welten zu Hause sind.“
Tieftraurig sah sie ihn an. Nachdem Har sie noch einmal zärtlich geküsst hatte, streichelte er liebevoll ihre Wange.
„Ja, ich weiß, aber bitte glaube mir, dass sich für alles eine Lösung und ein Weg finden lässt! Du möchtest von mir hören, wer ich bin? Ich bin Haralet, der Sohn von Anartura, dem Fürsten der Hyksos. Trotzdem kannst du mir bedenkenlos vertrauen, weil nichts so ist, wie es scheint und wie es momentan aussieht.“
Mit großen Augen schaute Raffine sichtlich verunsichert zu ihm auf. Bevor sie aber auch nur ein weiteres Wort herausbringen konnte, legte er seinen Zeigefinger noch einmal sanft auf ihre Lippen: „Bitte sage jetzt nichts, das du später vielleicht bereuen könntest! Genieße stattdessen doch einfach die Zeit, die wir haben, und deine Gefühle! Im richtigen Moment wird sich alles klären.“
Diese Worte sprach er ebenso leise wie bestimmt aus. Instinktiv wusste Raffine genau, dass sie ihm vertrauen konnte und dass sich alles zum Guten wenden würde. Als sie ihre Arme noch einmal um seinen Hals schlang, fühlte es sich so an, als ob sie ihn nie wieder loslassen würde. Sie schloss ihre Augen und nahm seinen Duft und seine Anwesenheit tief in sich auf.
Völlig unerwartet hob er sie plötzlich mit einem Schwung hoch, um sie bis zu den Toren des Palastes zu tragen.
Erst dort ließ er sie wieder herunter. Nachdem er sich liebevoll von ihr verabschiedet hatte, wandte er sich an Lyra, die ständig in ihrer Nähe war. „Pass bitte gut auf sie auf!“
Er zwinkerte Lyra verschwörerisch zu und Lyra nickte lächelnd.
Wenig später verschwand Har in der Dunkelheit der Anlage.
Auf dem Weg zu ihren Gemächern tanzte Raffine, eine fröhliche Melodie summend, durch die Flure des Palastes. Sobald sie angekommen war, ließ sie sich mit Schwung auf ihr Bett fallen, wo sie gedankenversunken vor sich hin träumte.
„Lyra? Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe?“
Mit einem mitfühlenden Blick schüttelte Lyra ihr Köpfchen.
„Ich habe schreckliche Angst vor dem Tag, an dem ich mich für immer von ihm verabschieden muss.“
„Das verstehe ich sehr gut, aber du kannst auch mir glauben, dass es für alles eine Lösung geben wird.“
Während Lyra ihr Bestes tat, um sie aufzumuntern, verstärkte sich in Raffine die Vermutung, dass alle anderen etwas wussten, von dem sie noch keine Ahnung hatte.
„Sag mal, was habt ihr denn alle? Ihr wisst doch längst viel mehr, als ihr zugeben wollt.“
Lyra warf Raffine einen verständnisvollen Blick zu: „Das hast du zwar vollkommen richtig erkannt, aber ich darf es dir trotzdem nicht sagen. Bitte versuche jetzt, ein wenig zu schlafen! Dabei lese ich dir auch gern wieder die Schriften auf der Decke vor.“
Schließlich gab sich Raffine geschlagen. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf Lyras Stimme.
Am folgenden Morgen fühlte sich Raffine überraschend frisch und munter. Voller Vorfreude auf den neuen Tag sprang sie aus ihrem Bett. Kurz darauf machte sie sich in Windeseile fertig, um möglichst schnell in den Garten rennen zu können. Obwohl die Sonne eben erst aufgegangen war, herrschte dort bereits ein lebhaftes Treiben. Schon von Weitem sah sie, dass mehrere Schilde auf dem Boden lagen, um die Uaret, Har und Sito einen Kreis gebildet hatten.
„Guten Morgen! Ihr seid ja schon früh auf den Beinen.“
Zur Begrüßung umarmte Raffine jeden mit einem Küsschen auf beide Wangen.
Har bedachte sie noch zusätzlich mit einem verschmitzten Zwinkern. Weil sie sich so unbeschreiblich sehr darüber freute, ihn wiederzusehen, war sie wahnsinnig gut gelaunt.
Sobald sie einen prüfenden Blick auf den Boden geworfen hatte, fragte sie Sito: „Warum liegen die Schilde hier herum?“
„Um unseren Kämpfern einen weiteren Vorteil zu verschaffen, habe ich noch eine kleine Änderung in Auftrag gegeben. Dabei habe ich mich in der Hoffnung, dass es auch so funktionieren wird, deiner Technik bedient. Bisher hattet ihr ja Kegelgeschosse eingebaut. Wenn wir die Schilde aber irgendwann einmal auf dem Boden liegen lassen, werden die Angreifer aus der Luft sofort versuchen, sich diese unter den Nagel zu reißen. Sobald sie sich den Schilden mit dieser Absicht nähern, werden unsere Helfer, die Kobras, die sich darunter verstecken, an einem Hebel ziehen und dadurch kleine Speere abschießen. Zu diesem Zweck werden wir unter den Schilden Löcher in die Erde bohren, in denen die Speere Platz finden. Zusätzlich habe ich die Schilde mit jeweils zwei kleinen Löchern versehen lassen. Durch diese können die Kobras hindurchschauen, um im richtigen Moment den Hebel zu betätigen, wenn sich ihnen einer unserer Feinde nähert. Diese Maßnahme wird die Angreifer massiv schwächen und es unseren Kämpfern ermöglichen, unsere Feinde nahezu ungefährdet zu vernichten, sobald sie zu Boden gestürzt sind. Auf diese Weise könnten wir zumindest einen Teil der Angriffe aus der Luft erfolgreich vereiteln. Selbstverständlich werden die Schilde nach dem Abschießen der Speere auch weiterhin nutzbar sein, denn sie sind mit ebenso vielen Kegeln bestückt, wie ihr es vorgesehen hattet“, verkündete Sito mit sichtlichem Stolz.
„Das hast du wirklich sehr geschickt durchdacht. Darauf hätte ich auch kommen können. Also, ich finde diese Idee fabelhaft“, lobte ihn Raffine, wobei sie ihren Daumen hochhielt. Sie stellte sich das Ganze gerade bildlich vor und fand es absolut genial.
„Jetzt bleibt nur noch die Frage offen, wie wir am Besten vorgehen sollten. Meiner Meinung nach werden die Hyksos augenblicklich alarmiert sein, wenn wir uns die Steine holen. Demzufolge hätten wir danach keine Zeit mehr, um wieder zu Kräften zu kommen und um uns vorzubereiten. Also werden wir wohl alles in einem Ritt durchziehen müssen. Das heißt, wir beginnen mit einem Überraschungsangriff und bringen es anschließend ohne eine einzige Unterbrechung zu Ende. Dafür benötigen wir natürlich jeden einzelnen Kämpfer, die gesamte verfügbare Ausrüstung und jedes Boot unserer Flotte. Außerdem müssen wir vorher gut ausgeruht sein und über unsere maximale Kraft verfügen. Inzwischen habe ich schon alle zu einer letzten Lagebesprechung zusammengerufen. Im Laufe des Tages wird einer nach dem anderen eintreffen. Jetzt würde ich aber vorschlagen, dass wir erst einmal frühstücken und dass wir uns im Anschluss daran nochmals eingehend mit den Techniken beschäftigen. Wie wir am Besten an die Steine herankommen können, ohne von Anfang an zu viel Blut zu vergießen, ist mir leider noch nicht ganz klar, aber dazu wird uns schon noch etwas einfallen.“
Nachdem er seine Ansprache beendet hatte, setzte sich Sito wieder an den Tisch.
„Uaret, hast du auch an die Flotte gedacht?“, fragte Raffine.
„Ja, das habe ich. Mittlerweile sind wir ziemlich gut ausgerüstet. Für alle Fälle haben Sito und ich in der vergangenen Nacht auch bereits die Aufstellung unserer Posten am Weg zur Küste organisiert.“
„Jetzt schon? Okay, das halte ich zwar für etwas verfrüht, aber ihr werdet wohl eure Gründe dafür gehabt haben.“
„Har, möchtest du mit uns frühstücken?“, wandte sich Raffine an Har.
„Nein, danke, noch nicht. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen, bevor ich wieder zu euch stoßen kann.“
Mit einem rätselhaften Blick legte er seine Hände an Raffines Wangen, um sie völlig überraschend zu küssen. Obwohl Raffine seinen seltsamen Gesichtsausdruck in diesem Augenblick nicht richtig deuten konnte, spürte sie, dass irgendetwas in der Luft lag, das nichts wirklich Gutes zu bedeuten hatte. Es fühlte sich beinahe so an, als ob sich gerade ein Gewitter zusammenbrauen würde.
„Habe ich eben vielleicht etwas verpasst? Was ist denn auf einmal hier los?“
Raffine warf den anderen, die leicht angespannt am Tisch saßen, fast schon flehende Blicke zu.
„Setz dich erst einmal hin und lass es dir schmecken! Ja, wir haben auch ein komisches Gefühl, das wir aber irgendwie noch nicht einordnen können.“
Damit reichte Sito ihr einen Becher Kaffee.
Trotz allem brachte die einladende Vielfalt der Speisen auf dem Frühstückstisch Raffine auch an diesem Morgen zum Lächeln. Seitdem sie in dieser Zeit angekommen war, hatte sie es noch nicht einmal ansatzweise geschafft, alles der Reihe nach zu probieren. Zu ihrem Leidwesen glaubte sie auch nicht, dass ihr dies jemals gelingen würde. Während sie genüsslich kaute, folgte ihr Blick Uaret, die das Modell der Stadt und sämtliche Waffen verschwinden ließ.
„Löst du auch den Schutzwall wieder auf?“
„Ja, aber erst, wenn sich alle heute Abend auf dem Rückweg befinden werden. Bis dahin können wir es unmöglich riskieren, dass jemand unsere Gespräche belauscht.“
Uaret wirkte außerordentlich besorgt.
Als Raffine gerade in eine Frucht beißen wollte, die sie bisher noch nie gekostet hatte, weil sie dafür immer schon zu satt gewesen war, kam Har auf die Runde zu gerannt.
„ES GEHT LOOOS!“, schrie er, wobei er Raffine auch schon packte, um sie mit einem Ruck von ihrem Platz auf der Bank wegzureißen.
„Ich habe eben einen eurer Angestellten in unserem Palast beobachtet, der ein Säckchen voll Gold von meinem Vater erhalten hat. In diesem Moment trommelt mein Vater sein gesamtes Heer zusammen, um die Aufstellung für den Kampf vorzunehmen. Beeilt euch! Uns bleibt kaum noch Zeit!“
„Doch nicht ausgerechnet jetzt! Zuerst möchte ich endlich einmal diese verlockende Frucht genießen.“
Weil Raffine den Ernst der Lage überhaupt noch nicht erfasst hatte, war sie mächtig sauer.
Während Sito und Uaret bereits herumwirbelten, versuchte Raffine immer noch, in ihre Frucht zu beißen.
„Raffine! Schluss jetzt! Das ist kein Spaß! Die verdammte Frucht ist wirklich das Allerletzte, dass dich jetzt interessieren sollte.“
Mit diesen Worten riss Har ihr die Frucht aus der Hand. Noch in derselben Sekunde warf er sie im hohen Bogen weit weg und begann, Raffine kräftig zu schütteln. Erst jetzt begriff Raffine, was um sie herum vorging.
„Scheiße! Was ist denn los? Warum greifen die uns an? Ich verstehe das nicht. Was wird denn nun aus unserem Plan und aus unserer Strategie? Und wie warnen wir die anderen, die heute hierherkommen? Wir haben uns doch noch gar nicht ausreichend vorbereitet.“
Vollkommen verwirrt zog Raffine an Hars Ärmel. Auf einen Schlag schien sie vollkommen kopflos zu sein.
„Hol deine Ausrüstung! Schnell! Wenn du dich jetzt nicht endlich zusammenreißt, werfe ich dich in das kalte Wasser, damit du wieder zu dir kommst.“
Aus gutem Grund war Har schrecklich aufgebracht und schon längst nicht mehr dazu in der Lage, seine innere Anspannung zu überspielen.
Alle rannten los, um in Windeseile nach ihren Schilden und nach ihren Waffen zu greifen. Im Nu war Raffine von unzähligen Kämpfern umringt.
In der gesamten Anlage wimmelte es nur so von Kämpfern und Kobras.
„Wir teilen uns auf und konzentrieren uns auf unsere Verteidigung. Har, du bleibst hier und sorgst dafür, dass alle Hyksos ins Zentrum von Memphis getrieben werden! Raffine, du kommst mit mir und wir holen uns gemeinsam die Steine! Neferafin und Arafine, ihr bleibt hier und organisiert die Verteidigung auf der anderen Seite des Palastes! Uaret, du kümmerst dich um die Maschinen und um die Wehrtürme, und du erklärst Har, wo sie aufgestellt werden müssen! Die Schusswaffen liegen in den Türmen. Leider haben wir jetzt weder genug Zeit für eine Einweisung noch für die Ausarbeitung einer geeigneten Strategie. Wenn noch Waffen fehlen, müssen wir die Magie dafür nutzen, mehr davon zu erschaffen. Uns bleibt keine andere Wahl.“
Sito schrie seine Befehle in die Runde, gestikulierte wild mit den Armen und zeigte mit seiner Hand auf diejenigen, die er gerade ansprach. In dieser bedrohlichen Lage wenigstens noch einen Hauch von Ordnung in das Chaos zu bringen, erwies sich als nahezu unmöglich. Als er seine hektische Rede beendet hatte, prallten auch schon die ersten brennenden Pfeile am Schutzwall der Anlage ab.
„Uaret, entferne den Schutzwall vor dem Palast, lass ihn aber hier hinten stehen! Wir müssen versuchen, sie bis vor die Tore der Stadt zu treiben. Verschwindet sofort alle von hier! Lauft hinüber zum Hauptpalast!“
Sito schrie aus Leibeskräften und so lange, bis ihn auch wirklich jeder gehört hatte.
Wenn ich jetzt eine Maschinenpistole oder eine Kalaschnikow zur Hand hätte, wäre das Problem in null Komma nichts gelöst.
Diese abwegige Vorstellung schoss Raffine wie von selbst durch den Kopf, aber viel Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht mehr.
Kurz darauf rannte Raffine hinter Sito her, der sich gerade in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandelte und der dabei größer und größer wurde. Durch den Palast wollten sie zum Vordereingang vordringen, um von dort aus in den Stadtkern zu gelangen. Mittlerweile hatte Sito seine natürliche Größe erreicht, in der er sich wie eine Mauer vor Raffine vorwärts schlängelte. Hin und wieder hörte sie Sito wütend zischen, was bedeutete, dass die Apokoinus schon in den Palast eingedrungen waren und sie angriffen. Sobald sie links oder rechts eine Bewegung wahrnahm, holte Raffine augenblicklich mit ihrem Schwert aus, um die Apokoinus in der Mitte zu zerteilen. Überall, wohin sie auch schaute, sah es längst so aus wie auf einem Schlachtfeld. Obwohl der Kampf noch gar nicht richtig begonnen hatte, war der Boden bereits mit Blutlachen, zerstückelten Apokoinus und Schleimspuren bedeckt.
Als sie endlich am Eingang ankamen, erkannten sie schon von Weitem, dass es auf dem Platz zwischen dem kleinen und dem großen Palast nur so von Kämpfern wimmelte. Ihre eigenen Kämpfer konnte Raffine nur anhand der Schilde identifizieren, von denen die Hyksos keine besaßen.
„Treibt sie aus der Stadt heraus bis vor die Tore!“, rief Sito, während er sich schlängelnd seinen Weg bahnte. Alles, was ihm dabei im Weg war, mähte er nieder wie eine Dampfwalze. Dadurch entstand hinter ihm ein schmaler Fluchtweg, den Raffine dafür nutzte, Sito ungehindert zu folgen. Inzwischen wurde es zunehmend dunkler und als Raffine kurz nach oben schaute, um die Ursache dafür herauszufinden, erblickte sie eine ganze Armee von Sphinxen und Maronostos, die auf den Platz zuströmten.
„Beeil dich, damit wir den Palast erreichen, bevor sie hier sind!“, schrie Sito, wobei er seinen Kopf für den Bruchteil einer Sekunde zu ihr umwandte. Die Entfernung von rund 800 Metern zwischen dem einen und dem anderen Palast mussten sie jetzt unbedingt auf dem schnellsten Weg überwinden, was sie vor eine gewaltige Herausforderung stellte.
Raffine war gerade leicht verärgert, weil sie eben nach einem falschen, mit einem Speer versehenen Schild gegriffen hatte. Als aber kurz darauf ein Maronostos auf sie zukam, erwies sich diese Waffe als außerordentlich praktisch. Sobald sie sich geduckt hatte, schoss sie auch schon den Speer ab. Daraufhin stürzte der Maronostos hinter ihr zu Boden, was ihr die Chance eröffnete, blitzschnell die Kegel abzuschießen. Nachdem er sich in Nebel aufgelöst hatte, konnte sie sicher sein, dass er tatsächlich tot war, woraufhin sie Sito augenblicklich wieder hinterher sprintete. Sich während des Rennens mit dem Schild zu schützen, war alles andere als einfach. Sito bewegte sich beeindruckend schnell, wobei er wie nebenbei links und rechts des Weges auch noch den einen oder anderen Apokoinus erledigte. Um nicht verletzt zu werden, blieb Raffine keine andere Wahl, als mit seinem Tempo Schritt zu halten. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit standen sie endlich vor der Treppe des Hauptpalastes. Hier trafen sie aber auf ein weiteres Problem, das Sito mit ihr allein nicht lösen konnte. Auf der gesamten Treppe befand sich ein Kämpfer der Hyksos neben dem anderen und aus ihrer Mitte ragte eine Grinaha hervor, die kräftig ausholte, um Sito und Raffine mit Feuer zu beschießen.
„So ein verfluchter Mist! Jetzt stehen wir hier wie auf dem Präsentierteller vor ihnen und können weder vor noch zurück. Was sollen wir denn bloß machen? Ganz allein schaffen wir das nie im Leben! Die anderen sind aber immer noch dabei, sich zu uns durchzukämpfen. Sito, hast du eine Idee? Scheiße! Wie konnten diese Scharen von Soldaten denn nur so schnell hierherkommen?“
Raffine brüllte so laut, dass man sie trotz der ohrenbetäubenden Kampfgeräusche deutlich verstehen konnte. Obwohl sie mit Adrenalin vollgepumpt war, fühlte sie sich völlig hilflos.
„Na, super, das ist ja genau wie im Film. Die kommen immer näher und wir sitzen gleich endgültig in der Falle. Sito, hast du irgendeinen Plan? Wenn nicht, dann werden wir nämlich allerspätestens in fünf Minuten auch keinen mehr brauchen.“
Inzwischen waren die beiden längst umzingelt und sie hatten nicht die geringste Chance, aus eigener Kraft aus dem Kreis ihrer Gegner auszubrechen.
In diesem Moment hörte der Feuerregen urplötzlich auf und sie konnten erkennen, dass die Grinaha gegen zwei Haleritas kämpfte.
„Was zum Teufel ist das denn?“
Raffine zuckte entsetzt zusammen und wollte ihren Augen kaum glauben.
„Das sind unsere Verbündeten. Siehst du, die Grinaha ist schon verletzt. Also versuche, sie mit den Kegeln zu treffen!“
Bei einem kurzen Seitenblick aus ihren Augenwinkeln bemerkte Raffine, dass auch mehrere Haleritas auf sie zukamen.
„Beeil dich! Sie machen uns den Weg in den Palast frei!“, rief Sito ihr zu.
„Schrei mich nicht so an! Ich kann leider nicht hexen. Zwischen einer Übung und einem echten Kampf besteht ein riesengroßer Unterschied. Ich zittere viel zu sehr, um sie treffen zu können.“
„Schön, dass du dir deinen Humor bewahrt hast, Raffine! Aber jetzt musst du endlich schießen!“
Innerhalb von Sekunden schoss Raffine blind alle Kegel ab, die ihr noch geblieben waren. Offensichtlich gelang es ihr, einen Glückstreffer zu landen, denn die Grinaha versprühte noch ein letztes Mal ihren grünen Schleim und löste sich anschließend im Nebel auf. Diesen Augenblick nutzte Sito, um nach vorn zu preschen, und Raffine wollte ihm folgen. Dummerweise ging ihr Plan aber nicht auf, weil sie auf einmal mit gewaltigem Schwung hoch in die Luft gehoben wurde.
„SITO, HILFE!“
Blitzschnell drehte sich Sito zu ihr um, wobei er erfreulicherweise feststellte, dass bereits ein Halerita zur Stelle war, um Raffine aus den Klauen des Maronostos zu befreien. Der Halerita griff zwar gezielt, aber trotzdem sehr behutsam nach Raffine, damit sie nicht aus Versehen mit dem Gift seiner Zähne in Berührung kommen konnte. Irgendetwas zog an ihr und schon landete sie auf dem Rücken des Halerita. In einer solchen Windeseile wie in diesem Moment hatte sich Raffine vorher noch nie irgendwo festgekrallt.
„Das wird mir später kein einziger Mensch glauben. Die werden mich glatt in die Klapsmühle stecken. Das darf ich bloß nie jemandem erzählen, denn sonst halten mich alle für irre“, murmelte sie. Im Grunde war sie aber immer noch nicht ganz davon überzeugt, dass sie das alles tatsächlich erlebte.
Mit rasender Geschwindigkeit stürmte der Halerita hinter Sito die Treppen des Palastes hinauf und in die Halle hinein.
„Sito, hast du eine Ahnung, welche Richtung wir einschlagen müssen? Wie sollen wir denn eigentlich die Räume von diesem Typen finden?“, rief Raffine Sito zu.
„Har hat den Weg dorthin für uns mit einem blauen Band gekennzeichnet und dieser Markierung folge ich jetzt“, schrie Sito zurück.
Einfach mal eben so durchzumarschieren, war aber trotzdem keine Option. Überall wimmelte es von Wachen, von Soldaten beziehungsweise Kämpfern, wie man sie hier nannte, und von unzähligen Apokoinus, die ihren Weg kreuzten. Von oben sah Raffine, dass sich mehrere Kobras und Haleritas darum bemühten, Sito den Weg freizukämpfen. Auch hier ertönten markerschütternde Todesschreie und überall breiteten sich Blutlachen aus. Es war ein Bild des Grauens. Im Normalfall wäre Raffine bei diesem Anblick in Tränen ausgebrochen, aber in ihrer momentanen Lage fühlte sie sich innerlich wie versteinert. Weil sie genau wusste, dass sie sich hier gerade mitten in einem Kampf auf Leben und Tod befand, konnte sie sich schlicht und einfach kein Mitleid leisten.
Har! Ist ihm vielleicht schon etwas Schreckliches zugestoßen oder geht es ihm gut?
Trotz allem schoss ihr dieser Gedanke durch den Kopf. Mit geschlossenen Augen schüttelte sie den Kopf. Raffine, du musst jetzt klar denken, und du darfst dich durch absolut nichts ablenken lassen!
Als sie ihre Augen wieder öffnete, verlangsamte sich das Tempo, weil sie an einer überdimensionalen Tür angekommen waren. Um diese Tür herum schlängelten sich Hunderte von kleinen Apokoinus. Raffine wollte absteigen, aber Sito signalisierte ihr, dass sie noch oben bleiben sollte. Von links und von rechts eilten Kobras herbei, um sich diesem Problem in einem erbitterten Kampf zu stellen. Von allen Seiten ertönten entsetzliche Schreie.
Schon bald war Raffine nicht mehr dazu fähig, noch länger mit anzusehen, wie die Kobras angegriffen und getötet wurden. Wie in Trance schwang sie ihr Schwert, um wieder und wieder zuzuschlagen. Während sie einen der Apokoinus nach dem anderen niedermetzelte, nahm sie es nicht einmal mehr wahr, dass sie inzwischen über und über mit Blut bespritzt war. Sie wollte einfach nur in diesen Raum gelangen, ohne dass noch mehr von ihren Kobras ihr Leben dafür lassen mussten. Jedes Mal, wenn sie ausholte und zuschlug, stieß auch sie ohrenbetäubende Schreie aus. Eigentlich hätte sie schon längst vollkommen erschöpft sein müssen, aber tief in ihrem Inneren schäumte sie vor abgrundtiefer Wut, wodurch sich ihre Kraft wie von selbst vervielfachte. Sito und der Halerita sorgten dafür, dass niemand von hinten oder von der Seite an sie herankommen konnte. Trotzdem stand es leider nicht in ihrer Macht, alle Kobras auf einmal zu schützen, aber sie kämpfte wie eine Löwin, damit wenigstens nicht mehr zu viele von ihnen sterben würden. Am Ende dieses grauenvollen, blutigen Kampfes war der Weg endlich frei, aber in demselben Moment, in dem Sito die Tür aufgestoßen hatte, standen sie direkt vor einem der Köpfe einer weiteren Grinaha.
„Raffine, vergiss bitte nicht, dass wir die Herzen brauchen! Ziele also nicht auf die Augen! Versuche stattdessen, ihr den Hals aufzuschlitzen, damit wir die Herzen herausnehmen können!“
Mit diesen Worten erinnerte Sito sie noch einmal an das Wesentliche, an das sie im Eifer des Gefechts tatsächlich nicht mehr gedacht hatte. Wie von selbst griff Raffines Hand nach dem Dolch, den sie mit einem Band an ihrem Bein befestigt hatte. Gleichzeitig hob sie ihren Schild in die Höhe, um sich zu schützen. Der Feuersturm, der auf sie zuraste, war so gewaltig, dass sie schon befürchtete, darin zu verglühen. Ihre Hände fühlten sich von Sekunde zu Sekunde heißer an und sie spürte, wie ihre Haut verbrannte. Anstatt sie zum Aufgeben zu bewegen, machte sie dies aber nur noch wütender und aggressiver. Hinter ihr und neben ihr standen insgesamt drei Haleritas, die ihr den Rücken freihielten, während sie mit der Grinaha kämpften. Sie gaben sich alle Mühe, sie so schwer zu verletzen, dass Raffine anschließend nur noch ihren Hals aufschlitzen müsste, um das Herz herauszuholen.
Schon bald stellte Raffine fest, dass diese Grinaha noch wesentlich gefährlicher zu sein schien als alle, die sie bisher gesehen hatte. Sobald sie das Ungeheuer verletzte, schloss sich die Wunde augenblicklich wieder, als ob überhaupt nichts geschehen wäre. Deshalb glich Raffines aussichtslose Lage einem Kampf gegen Windmühlen. Allmählich spürte sie, dass sie ihre Kräfte verließen. Aus diesem Grund hielt sie ihren linken Arm mit dem Schild für einen Moment nicht mehr hoch genug. Sofort ertönte ein bedrohliches Zischen, dem ein dumpfer Knall folgte. Noch bevor sie begreifen konnte, was gerade geschehen war, durchfuhr ein stechender Schmerz ihren linken Arm. Als sie einen kurzen, prüfenden Blick darauf warf, entdeckte sie einen Pfeil aus einem herkömmlichen Bogen, der ihren Oberarm durchbohrte. Schockiert drehte sich um, wobei sie erkannte, dass sich ihr der Fürst der Hyksos feige von hinten genähert hatte, um mit Pfeil und Bogen auf sie zu schießen.
Offensichtlich war er unbemerkt an Sito und an den Haleritas vorbeigekommen. Irgendwo in der Ferne erklang ein herzzerreißender Schrei: „NEIN!“ Noch in derselben Sekunde lag sie auch schon auf dem Boden. Aus den Augenwinkeln bekam sie gerade noch mit, dass sich Sito auf Anartura stürzte und ihn zerfleischte.
Plötzlich meinte sie, Utho zu sehen, die in ihrer menschlichen Gestalt auf die Grinaha zustürmte. Nahezu zeitgleich nahm sie wahr, dass irgendjemand versuchte, ihr den Dolch aus der Hand zu nehmen. Sie fühlte sich, als würde sie schweben. Wahrscheinlich hätte es sie in einen ähnlichen Zustand versetzt, wenn sie ein ganzes Fass Bier getrunken und anschließend zehn Runden mit der Achterbahn gefahren wäre. Seltsamerweise ging ihr dabei einer ihrer Lieblingssongs durch den Kopf: „Have you ever seen the rain?“ Es musste doch vollkommen verrückt sein, dass sie sich in dieser Lage alle Mühe gab, die Melodie leise vor sich hin zu summen!
Von weit, weit her schrie jemand: „Ich hätte dich einfach ersaufen lassen sollen!“ Mit einem verträumten Lächeln murmelte Raffine in sich herein: „Wie schön! Wir gehen baden.“
Dann hatte sie plötzlich Hars Gesicht vor Augen. Diesmal lächelte er nicht einmal ansatzweise. Mit ernster Stimme sagte er: „Bleib ganz ruhig! Wir gehen nicht baden, aber ich bringe dich von hier weg.“
„Ich glaube, ich habe zu viel Wein getrunken. Mir ist furchtbar schlecht.“
Raffine gab sich alle Mühe, ihm ihren Zustand zu erklären, aber bevor sie fortfahren konnte, wurde es um sie herum schwarz.
Har, der Raffine auf seinen Armen trug, rannte auf den Ausgang zu.
„Ich bringe sie nach unten in die Katakomben“, rief er Sito und Utho noch zu, die gerade damit beschäftigt waren, die beiden Herzen zu entnehmen.
„Die Haleritas machen dir den Weg frei“, schrie Sito ihm noch nach.
Da er wusste, dass das Gift auf den Pfeilen seines Vaters blitzschnell wirkte und dass es unweigerlich zum Tod führte, wenn man es nicht unverzüglich wieder aus dem Körper entfernte, rannte Har wie um sein Leben. Die Stufen, die nach unten führten, schienen überhaupt kein Ende mehr nehmen zu wollen. Während er mit Tränen in den Augen immer weiter lief, steigerte sich seine Angst um Raffine mit jeder Sekunde. Auf seinen Armen fühlte sie sich federleicht an. Als er endlich unten ankam, stieß er auf Taris und auf sein Gefolge, die ihn bereits erwarteten. Vorsichtig legten sie Raffine in ein kleines Boot, das dort für den Fall der Fälle bereitlag. Taris wies seine Gefährten an, das Boot schnellstmöglich zu dem Nebenpalast zu steuern, wo Uaret auf sie wartete. Er selbst wollte gemeinsam mit Har wieder nach oben zurückkehren. Als er aber bemerkte, wie schrecklich verzweifelt Har war, legte er seine Hand sanft auf Hars Schulter, wobei er seine Entscheidung augenblicklich korrigierte: „Du fährst mit ihnen zu Uaret. Wir schaffen das hier schon. An deiner Stelle wird mich der Halerita nach oben zu Sito und zu Utho führen. Bringt sie auf der Stelle zu Uaret und holt das Gift aus ihrem Körper heraus!“
Noch im selben Moment drehte er sich um und lief mit dem Halerita nach oben. Auf halber Strecke kamen ihnen Sito und Utho entgegen.
„Taris, wir müssen sofort umkehren. Wir haben bereits alles.“
Leider hatten sie ihre Rechnung aber ohne die zahllosen Apokoinus gemacht, die von allen Seiten auf sie zustürmten und die fast schon den Eindruck erweckten, dass sie sich sekündlich vermehren würden. Mit beiden Händen hielt Utho die Schatulle und den Beutel mit den Herzen und der Schlüsselform fest umklammert. Um keinen Preis der Welt würde sie diese jemals loslassen. Plötzlich hob Taris sie auf den Rücken eines Halerita. Dabei schrie er: „Lauf los und bringe sie herunter in die Katakomben!“
Der Halerita stürmte augenblicklich davon und stieß rücksichtslos alles aus dem Weg, das sich ihm entgegenstellte. Unten angekommen, ließ er Utho herunter, die sich sofort auf den Rücken eines Krokodils setzte. Dieses brachte sie in die Katakomben des kleinen Palastes, wo sie schon von Weitem erkennen konnte, dass Har Raffine gerade aus dem Boot hob, um sie nach oben zu tragen. Neben ihm standen Uaret und Neferafin, die versuchten, ihm dabei zu helfen. Als sie Utho erblickten, strahlten sie beide über das ganze Gesicht. Obwohl sie leise sein mussten, war ihnen ihre grenzenlose Freude und Erleichterung nur allzu deutlich anzumerken.
„Wir reden später“, entschied Utho, weil es zunächst ausschließlich darauf ankam, Raffine unbeschadet in Sicherheit zu bringen.
Zur gleichen Zeit wurden alle Gehilfen der Hyksos endgültig aus dem Palast vertrieben. Deshalb waren sie schon auf dem Weg zu den Stadttoren und Raffine konnte ungestört geheilt werden.
„Diesmal brauchen wir unsere stärkste Magie, um sie zurückzuholen“, verkündete Uaret, die den Ernst der Lage auf den ersten Blick erfasst hatte, den anderen.
„Har, weißt du, mit welchem Gift dein Vater die Pfeile versehen hat? Wenn ja, würde uns dies das Ganze enorm erleichtern. Handelt es sich um magisches oder um pflanzliches Gift?“, wandte sich Uaret mit einem fragenden Blick an Har.
„Leider kann ich dir das nicht genau sagen. Normalerweise hat er immer pflanzliches Gift verwendet, aber für diesen Kampf wollte er alle Pfeile mit Magie ausstatten. Ob er das noch rechtzeitig geschafft hat, weiß ich nicht. Als ihm berichtet wurde, dass unsere Boote unterwegs sind, hat er die Steine in aller Eile in die Schatulle gelegt. Deshalb gehe ich davon aus, dass er nicht mehr genug Zeit dafür hatte. Schließlich war er schon voll und ganz damit beschäftigt, auf die Schnelle Tausende dieser Wesen zu erschaffen.“
„Das wäre ungeheuer hilfreich, denn dann könnte ich Raffine mithilfe der Magie heilen.“
„Saugst du jetzt bitte so stark, wie du nur kannst?“, bat sie Lyra, die sich neben Raffine auf das Bett schlängelte und zu der Wunde an ihrem Arm kroch, in der noch immer der Pfeil steckte.
Uaret zählte bis drei und zog den Pfeil blitzschnell heraus. Noch in der gleichen Sekunde biss Lyra in Raffines Arm und begann, das Blut kraftvoll aus ihrem Arm herauszusaugen. „Das reicht“, entschied Uaret wenig später. Sobald sie daraufhin anfing, die Magie einzusetzen, fügte sie noch hinzu: „Jetzt bitte ich alle, bis auf Lyra, erst einmal nach draußen zu gehen.“
Mit deutlich spürbarem Widerwillen befolgten Har und Utho ihre Aufforderung. Beiden war klar, dass die Wartezeit für sie eine immense Geduldsprobe darstellen würde.
Es war nicht zu überhören, dass die Kämpfe außerhalb des Palastes nach wie vor kein Ende genommen hatten. Trotzdem versuchte Utho mit aller Macht, sich einzig und allein darauf zu konzentrieren, die beiden Herzen aus dem kleinen Beutel zu nehmen und sie in die Form zu pressen. Da sich dies als wesentlich schwieriger erwies, als sie angenommen hatte, bat sie Har, ihr dabei zu helfen. Weil ihn das wenigstens vorübergehend ablenkte, war Har ihr unendlich dankbar dafür.
Nachdem sie die beiden Herzen in der Form untergebracht hatten, verschloss sie sich wie von Geisterhand, während sich das Material veränderte und zunehmend härter wurde. Erst als der gesamte Stern aus Gold bestand und die erforderliche Stabilität besaß, war die Verwandlung beendet. Daraufhin griff Utho nach dem Stern, um die Schatulle damit zu öffnen.
„Halt! Das solltest du besser lassen! So, wie ich meinen Vater kenne, hat er auch hier noch eine Falle eingebaut.“
Als er diese Warnung aussprach, legte Har seine Hand vorsichtig auf die Schatulle.
Völlig entgeistert sah Utho zu ihm auf: „Damit hast du natürlich vollkommen recht, aber daran hatte ich noch gar nicht gedacht.“
Auf dem Flur lief Har kurz darauf mit immer schnelleren Schritten rastlos auf und ab, bis Uaret ihn nach einer viel zu langen Zeit der Ungewissheit erlöste, indem sie die Tür betont leise hinter sich schloss.
„Schon morgen wird sie wieder vollständig gesund sein. Seitdem wir das gesamte Gift aus ihrem Körper herausgezogen haben, hat sie auch kein Fieber mehr. Was sie jetzt mehr als alles andere braucht, ist Schlaf. Har, ich weiß genau, was du mich fragen möchtest. Nein, du musst dich leider noch bis morgen gedulden.“
Verständnisvoll streichelte sie Hars Schulter, bevor sie auf Utho zuging, um sie fest und innig zu umarmen. Dabei brach sie in Tränen aus.
In diesem Augenblick fiel der gesamte Druck von ihr ab. Raffine ging es besser und Utho war wieder da. Also durfte sie ihren Tränen endlich freien Lauf lassen.
Utho erwiderte ihre Umarmung ebenso herzlich.
„Die Hälfte haben wir jetzt hinter uns. Unser Heer treibt sie gerade hinaus vor die Tore der Stadt. Sobald wir uns alle ein wenig erholt haben, müssen wir aber noch einmal gemeinsam in die Schlacht ziehen. Erst außerhalb der Stadt wird der entscheidende Kampf ausgetragen werden.“
Während sie noch darüber nachdachten, näherten sich auf dem Flur rasche Schritte. In ihrer menschlichen Gestalt kamen Sito, Taris und Laros auf sie zu gerannt.
„Wie geht es Raffine?“, fragte Sito besorgt.
„Es geht ihr schon wesentlich besser und morgen wird sie wieder ganz die Alte sein. Also würde ich vorschlagen, dass wir umgehend Wachen aufstellen, damit wir uns gleich wieder in die Schlacht stürzen können. Oder was meint ihr?“
Als Uaret ihre Blicke über die Runde schweifen ließ, nickten alle zustimmend.
Schließlich hatten sie sich inzwischen wieder ein wenig erholt. Mit neuer Energie ergriff jeder von ihnen ein Zielrohr, um wieder nach draußen zu eilen und sein Heer dabei zu unterstützen, die Hyksos endgültig aus der Stadt zu vertreiben.
„Wartet!“, befahl Sito überraschend. Vorher sollten wir erst noch die Steine aus der Schatulle holen, um mit ihrer Hilfe die Wesen zu vernichten, die Anartura damit erschaffen hat. Dadurch wird es sich erübrigen, noch länger gegen sie kämpfen zu müssen.“
Als er Sitos Worte hörte, hatte Har fast schon die Tür erreicht. Sofort drehte er sich kurz um und rief Sito von dort aus seinen Einwand zu: „Sito, nicht hier! Lass uns die Schatulle besser im Freien öffnen! Irgendwie habe ich dabei nämlich gar kein gutes Gefühl, weil mein Vater nicht nur die Magie eurer Steine benutzt hat, sondern zusätzlich auch noch Magie aus anderen Quellen. Er wäre nicht mein Vater, wenn er nicht etwas abgrundtief Böses erschaffen hätte. Um dies nicht zu befürchten, kenne ich ihn einfach zu gut.“
Sito erkannte die Angst in Hars Augen und bereitete sich innerlich ebenfalls auf das Schlimmste vor.
„Gut, dann werden wir die Schatulle erst draußen öffnen. Har, kommst du bitte mit?“
Har nickte und folgte Sito bis auf den Platz vor dem Palast. Dort suchten sich die beiden eine verborgene Nische, in der sie sich vor der Schatulle hinknieten. Anschließend holte Sito den goldenen Schlüssel hervor, um ihn in sein Gegenstück auf dem Deckel der Schatulle zu drücken. Mit einem deutlich vernehmbaren Klicken sprang der Decke auf.
Noch in derselben Sekunde erklang ein gewaltiges Dröhnen und aus der Schatulle flogen Hunderte von Sphinxen heraus, die sich mit ohrenbetäubendem Gebrüll hoch in die Lüfte erhoben und direkt wieder aus ihrem Blickfeld verschwanden. Mit einem Satz sprangen Har und Sito auf, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie hatten wirklich mit allem gerechnet, aber nicht mit diesen Kreaturen, die sich ausschließlich durch eine außergewöhnlich machtvolle schwarze Magie erschaffen ließen. Als keine weitere Sphinx mehr aus der Schatulle hervorkam, wagten sie sich vorsichtig näher heran, damit sie das Geheimfach im Boden des Kästchens öffnen und das kleine Säckchen herausnehmen konnten. Zunächst voller Argwohn und dann spürbar erleichtert schaute Sito hinein.
„Zum Glück haben wir jetzt alle unsere Steine. Dass es uns aber gelingen wird, allein mit der Macht der Steine eine Sphinx zu besiegen, ist leider mehr als fraglich.“
Har und Sito rannten zurück in den Palast und kamen vollkommen fassungslos bei den anderen an, die ungeduldig auf ihre Rückkehr gewartet hatten.
In kurzen Worten berichteten Har und Sito abwechselnd, was gerade geschehen war.
„Wir müssen unbedingt versuchen, die Sphinxe ganz schnell wieder loszuwerden. Mit der vereinten Magie der Steine könnten wir dies zwar unter Umständen schaffen, aber ich befürchte, dass diese Wesen wesentlich mächtiger sind.“
Derartig verzweifelt hatte noch keiner von ihnen Sito jemals erlebt. Zum allerersten Mal schien er vollkommen ratlos zu sein.
„Dabei kann ich euch leider auch nicht weiterhelfen, aber ich kenne wenigstens jemanden, der unser Problem vielleicht lösen könnte“, erklang auf einmal die tiefe Stimme von Taris aus dem Hintergrund. Als er sich zu ihnen gesellte, sahen ihn alle erwartungsvoll an.
„Der Einzige, der uns jetzt noch helfen kann, ist meiner Meinung nach Benu. Bedauerlicherweise habe ich aber nicht die geringste Ahnung, wie man ihn kontaktieren könnte. Vielleicht haben wir ja Glück, denn normalerweise zeigt er sich immer dann, wenn das Reich in Gefahr ist. Außerdem wäre es gut möglich, dass der König der Skarabäen mehr darüber weiß. Wie man in dessen Reich gelangt, entzieht sich allerdings auch meiner Kenntnis.“
„Dass wir jetzt wissen, wen wir um Hilfe bitten können, ist doch zumindest schon einmal ein vielversprechender Ansatzpunkt.“
Sito klopfte Taris kameradschaftlich auf die Schulter.
„Danke, mein Freund! Gemeinsam werden wir mit Sicherheit eine Lösung finden. Lasst uns zunächst die Hyksos aus der Stadt vertreiben und die von Anartura erschaffenen Wesen vernichten! Aber eines hast du uns bisher noch verschwiegen. Wo hast du Utho denn eigentlich gefunden?“, fügte Sito schmunzelnd hinzu.
„Das, mein Freund, werde ich dir alles erzählen, sobald wir unsere Aufgabe erfüllt haben und wieder Ruhe finden. Deshalb solltest du besser dafür sorgen, dass ich am Leben bleibe, weil du es sonst nie erfahren wirst.“
Augenblicklich machte sich Sito ans Werk, um den Smaragd und den Rubin wieder in die entsprechenden Fassungen der goldenen Kobra einzusetzen.
Endlich waren die goldene Kobra und der goldene Skarabäus wieder vollständig. Sobald sie ihre ursprüngliche Form angenommen hatten, sandten die beiden Figuren bunte Lichtstrahlen in allen erdenklichen Farben aus. Es schien beinahe so, als ob sie dadurch ihre Freude zum Ausdruck bringen wollten.
Kurz darauf liefen alle wieder nach unten, um die Schlacht fortzuführen.
Vor dem Palast stellten sich Neferafin und Arafine nebeneinander. Links und rechts von ihnen postierten sich Utho und Uaret.
Neferafin hielt ihren Skarabäus in den Händen, Arafine ihre Kobra und Utho und Uaret jeweils einen der Skarabäen mit den vier Saphiren. Nachdem sie einen Kreis gebildet hatten, begannen sie, deutlich vernehmbar im Chor, eine uralte Sprache zu sprechen.
„Hiratelet marusam veratet sinaleth meranum! Hiratelet marusam veratet sinaleth meranum! …“
Diese Worte wiederholten sie wieder und wieder, bis sich etwas hoch in die Lüfte erhob, das einem Regenbogen ähnelte. Gleichzeitig erinnerte der Anblick an einen Tornado aus sämtlichen Farben, der in den Himmel hinauf geschleudert wurde und der dort begann, sich wie ein Kreisel um sich selbst zu drehen. Mitten in seiner kreisenden Bewegung platzte er urplötzlich auseinander, woraufhin sich die Farben über den gesamten Himmel verteilten. Dieses Schauspiel erweckte den Eindruck, ein bunter Regen aus unzähligen Sternen würde über ganz Memphis niedergehen. Dieser prasselte nur so herunter und an mehreren Stellen stieg ein ebenso farbenfroher Nebel auf.
Als sie sich umschauten, erkannten sie staunend, dass sich alle durch die Magie erschaffenen Exemplare der Grinaha und des Maronostos in diesem bunten Nebel auflösten. Übrig blieben die Hyksos, die Apophis und die Apokoinus, gegen die der Kampf natürlich auch nicht leicht werden würde. Von den Sphinxen war bisher nichts zu sehen. Dennoch war sich jeder Einzelne von ihnen darüber im Klaren, dass sie zurückkommen würden, um in einer Schlacht auf Leben und Tod gegen sie anzutreten.