Kapitel 13
Memphis wird zurückerobert
Jeder nahm sich einen Schild, ein Schwert und alles, was sie sonst noch an Waffen finden konnten. Als sie den Palast verließen, war aber kein einziger Hyksos mehr zu sehen.
„Wohin sind sie denn alle so blitzschnell verschwunden?“ Sito schaute sich suchend um.
„Ich habe da so eine Ahnung. Wenn ich damit richtigliege, überkommt mich aber ein sehr ungutes Gefühl.“
Nachdenklich runzelte Har seine Stirn. Anschließend wandte er sich an Neferafin und Arafine: „Ich brauche dringend eure Hilfe, weil wir den kleinen Palast mit allen Mitteln schützen müssen, am besten so, dass er komplett abgeschirmt wird. Könnt ihr dafür sorgen?“
Die beiden Frauen nickten und holten ihre Steine heraus. Dann riefen sie die Asili zusammen, die augenblicklich zu Hunderten erschienen. Daraufhin hielten Neferafin und Arafine ihre Steinfiguren hoch in die Luft, wobei sie anfingen, im Chor zu sprechen: „Lakta olaba immura.“
Wieder und wieder sagten sie diese Worte auf. Dabei begannen die Asili zu wachsen, bis sie eine Größe von mehr als fünf Metern erreicht hatten und ihre Panzer einer unbezwingbaren Mauer glichen. Kurz darauf stellten sich die Tiere um den Palast und um die Anlage herum auf, um einen lebenden Schutzschild für diejenigen zu bilden, die sich noch im Palast befanden.
„Sucht alle Frauen und Kinder, die sich noch hier aufhalten, und bringt sie in unseren Palast!“, rief Har den Kämpfern zu.
„Aber das sind doch die Angehörigen der Hyksos“, warf Neferafin verunsichert ein.
Har drehte sich zu Neferafin um: „Ja, das ist richtig, aber es ist auch mein Volk und die Frauen und Kinder haben mit den finsteren Machenschaften meines Vaters nicht das Geringste zu tun. Auf eine gewisse Art und Weise fühle ich mich ihnen verpflichtet. Deshalb möchte ich sie schützen und in Sicherheit bringen. Obwohl es leider nicht machbar sein wird, wäre ich unsagbar froh, wenn es keine weiteren Toten geben würde. Die Hyksos sollen zumindest die Möglichkeit bekommen, sich ein Land auszusuchen, das noch nicht besetzt ist, um in Zukunft dort leben. Unabhängig von dem, was sie getan haben, verdient es keiner, gewaltsam zu sterben. Ja, ich weiß selbst, dass es sich dabei um eine Wunschvorstellung handelt, aber wir sollten uns nicht mit unseren Feinden auf eine Stufe stellen.“
Im Anschluss an diese Ansprache gab er den Kämpfern mit seiner Hand das Zeichen zum Aufbruch.
Sofort strömten sie aus, um alle, die sie finden konnten, zu ihrem Schutz in den Palast zu geleiten. Danach riegelte die lebende Festungsmauer der Asili die Anlage endgültig ab.
Har versuchte noch einmal, den anderen seine Beweggründe verständlich zu machen.
„Mein Vater ist zwar tot, aber es gibt immer noch den hohen Priester, der nahezu ununterbrochen an seiner Seite war. Da dieser bereits sein ganzes Leben lang nach Macht und Ruhm strebte, wird er die jetzige Lage als eine einmalige Gelegenheit betrachten. Dadurch wären die Hyksos nicht mehr führerlos und demzufolge umso gefährlicher. Dieser Mensch spielt gern mit dem Feuer. Dass er grundsätzlich aus dem Hinterhalt angreift, macht ihn zu einem außerordentlich ernst zu nehmenden Gegner. Lasst euch nicht davon täuschen, dass dieser Ort gerade wie ausgestorben wirkt, denn dies verrät mir, dass er genau in diesem Augenblick einen neuen Plan ausbrütet!“
Har hatte das letzte Wort kaum zu Ende gesprochen, als auch schon der erste Pfeil neben ihm zu Boden zischte.
„Bringt euch in Sicherheit! Momentan haben wir noch keine Möglichkeit, erfolgreich gegen sie zu kämpfen. Also los, zurück in den Palast!“, schrie Har so laut, dass alle furchtbar erschraken und wie auf Kommando auf den Palast zustürmten. Innerhalb von Sekunden öffneten die Asili ihre Mauer, um den Flüchtenden Durchlass zu gewähren. Mit letzter Kraft erreichten alle den Palast, ohne dass auch nur ein Einziger durch einen der Pfeile verletzt wurde. In der großen Halle holten sie erst einmal tief Luft, bis Sito das Wort ergriff.
„Das war absolut nicht so geplant. Jetzt müssen wir unbedingt einen Weg finden, um die Hyksos aus dem Hauptpalast herauszulocken. Erst wenn uns dies gelungen ist, können wir fair und Mann gegen Mann kämpfen. Hat irgendjemand von euch eine Idee, wie wir es schaffen könnten?“
„Ja, ich. Euch kann man wirklich keine Minute lang allein lassen“, meldete sich eine schwache Stimme aus dem Hintergrund. Als alle sich umdrehten, erkannten sie Raffine, die auf der Treppe saß.
„Du solltest doch eigentlich noch im Bett sein, um dich gesund zu schlafen.“
Wie ein geölter Blitz rannte Har zu Raffine und schloss sie in seine Arme. Er drückte sie so fest an sich, als ob er sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hätte.
„Ich konnte sie beim besten Willen nicht davon abhalten, viel zu früh wieder aufzustehen. Tut mir leid, aber sie wollte einfach nicht auf mich hören.“
Lyra, die neben Raffine saß, erweckte einen ungewöhnlich hilflosen und unglücklichen Eindruck.
„Nicht so fest! Du erdrückst mich ja gleich“, bemerkte Raffine in dem Versuch, ihre Worte betont scherzhaft klingen zu lassen, aber man konnte trotzdem deutlich spüren, dass sie noch völlig kraftlos war.
„Du meine Güte, was habt ihr mir denn da bloß für ein Zeug gegeben? Das muss eine verdammt starke Droge gewesen sein, denn ich fühle mich, als ob ich total betrunken wäre“, fügte sie lächelnd hinzu.
Inzwischen hatte sich Uaret zu ihnen gesellt.
„Wie geht es dir, meine Kleine? Im Grunde müsstest du noch tief und fest schlafen. Bisher hat dieses Öl nämlich ausnahmslos jeden umgehauen. Und da du so schwer verletzt warst und so viel Gift in deinem Körper hattest, müsstest du normalerweise noch im Tiefschlaf liegen.“
Auch sie ging auf Raffine zu, um sie fest und innig zu umarmen. „Ich, nein, wir alle sind unbeschreiblich froh darüber, dass du wieder bei uns bist. Wir hatten nämlich schreckliche Angst um dich.“
Dabei küsste und streichelte sie Raffine, bis diese einen sanften Versuch unternahm, sich aus ihrer Umarmung zu befreien.
„Es ist ja gut. Wie ihr alle sehen könnt, bin ich wieder unter den Lebenden. Was mir da eigentlich passiert ist, könnt ihr mir später noch ausführlich erzählen. Vorhin habe ich den Lärm von draußen gehört und nachgeschaut, was los ist. Das ist ja wirklich eine blöde Situation. Sag mal, von welchem Öl hast du denn eben gesprochen?“
Mit unzähligen Fragezeichen in ihren Augen schaute Raffine zu Uaret auf.
„Von dem Jasmin-Öl, mein Schatz. Das ist ein äußerst wirksames Schlafmittel. Aber warum möchtest du das wissen?“
Offensichtlich hatte Uaret den Sinn ihrer Frage noch nicht ganz verstanden.
„Das erkläre ich dir gleich. Schafft ihr es, einen Wagen mit Speisen zu beladen, die unwiderstehlich lecker aussehen? Und übrigens, wie viel habt ihr denn noch von diesem Öl?“
Mittlerweile sahen sich alle fragend an und Neferafin murmelte: „Das arme Kind! Sie ist ja immer noch im Rausch.“
„Das habe ich genau verstanden. Schließlich bin ich nicht taub“, warf Raffine lachend ein.
„Ja, selbstverständlich könnten wir das schaffen. Und von dem Öl haben wir noch eine ganze Menge. Wofür brauchst du das denn alles?“, wollte Uaret von Raffine wissen.
„Das werdet ihr schon bald begreifen. Zuerst müssen wir möglichst schnell jemanden finden, der mit dem Wagen am Palast vorbeifährt und so tut, als ob er uns Lebensmittel bringt, die unter gar keinen Umständen verloren gehen dürfen. Diese Aufgabe muss aber unbedingt jemand übernehmen, die durch die Pfeile nicht verwundet werden kann.“
„Dann könnten wir doch eine der riesigen Asili dafür auswählen“, schlug Har vor, wobei er sich zu den anderen umdrehte, die ihm nickend zustimmten.
„Macht den Wagen fertig und bringt an allen Seiten des Wagens Duftlampen an! In diese füllt ihr das Öl und dann zündet ihr die Lampen an. Anschließend schickt ihr die Asili über den Hintereingang zu uns. Es soll nämlich so aussehen, als ob die Asili von der anderen Seite der Stadt käme und gerade auf dem Weg zu uns wäre. Ebenso wie alle anderen hatten die Hyksos bisher kaum Zeit, um sich zu stärken. Deshalb werden sie inzwischen einen Bärenhunger haben. Wenn also ein fahrendes Schwein am Spieß direkt vor ihre Nase geschoben wird, werden sie sofort zugreifen, um es uns wegzunehmen, um uns damit zu schaden, und um ihren Hunger zu stillen. Haargenau das ist unsere Chance. Sie werden den Wagen in den Hauptpalast bringen, um dort zu essen und um wieder zu Kräften zu kommen. Packt am besten auch noch genug Wein mit dazu! Während sie sich daran gütlich tun, werden sie überhaupt nicht mitbekommen, dass sich der Duft des Jasmin-Öls in der Luft ausbreitet. Du hast doch selbst gesagt, dass es genauso wirkt wie ein natürliches Schlafmittel. Dann wäre das doch die perfekte Methode, um die Hyksos außer Gefecht zu setzen oder um sie zumindest zu schwächen.“
Im Anschluss an die ausführliche Erklärung ihres Plans sackte Raffine in sich zusammen. Diese Ansprache hatte sie sehr viel Kraft gekostet, wesentlich mehr Kraft, als sie momentan besaß. Langsam und vorsichtig hob Har sie hoch, um sie zurück nach oben in ihre Gemächer zu tragen. Bereits auf dem Weg dorthin fiel Raffine wieder in einen tiefen Schlaf. Uaret und Neferafin, die sich große Sorgen um Raffine machten und die ernsthaft beunruhigt waren, folgten den beiden. Auch Har fühlte sich nicht wirklich wohl, und man sah ihm deutlich an, dass ihn Raffines Zustand bedrückte. Sobald sie Raffine mit vereinten Kräften in ihr Bett gelegt hatten, baten sie Lyra, vollkommen unabhängig davon, was auch immer geschehen möge, gut auf sie aufzupassen. Lyra nickte und kringelte sich auf der Decke am Fußende des Bettes zusammen.
Die restlichen drei verließen leise das Zimmer.
„Also, ich fand Raffines Vorschlag gar nicht so schlecht. Darauf hätten wir auch allein kommen müssen“, stellte Uaret beeindruckt fest.
„Ich werde sofort alles Nötige veranlassen. Dann schicken wir eine der Asili auf den Weg durch den unterirdischen Gang, der kurz vor dem Hauptpalast einen verborgenen Ausgang hat. Wir können nur hoffen, dass dieser Plan aufgeht. In der Zwischenzeit sollten wir uns aber alle ein wenig stärken. Wer weiß, wann wir das nächste Mal eine Gelegenheit dafür haben werden?“
Alle stimmten Har zu und Uaret und Utho gingen gemeinsam los, um sich um alles Erforderliche zu kümmern.
Nach einer Weile war alles vorbereitet und sie schickten zwei der Asili los, um den Plan umzusetzen. Dabei zog eine der beiden den Wagen und die andere begleitete sie.
Kurz darauf standen alle bis auf Äußerste gespannt an den Fenstern, um das folgende Geschehen zu beobachteten. Sie wünschten sich aus tiefster Seele, dass ihr Plan funktionieren würde, und er ging tatsächlich auf.
Siegessicher schauten die Hyksos aus den Fenstern auf den Platz herunter. Schon bald gestikulierten sie äußerst heftig, um sich darüber zu verständigen, wie sie sich die verlockenden Speisen am besten aneignen könnten. Wenig später stürmten sie mit lautem Gebrüll auf die Asili zu. Wie es vorher abgesprochen worden war, zogen sich diese umgehend zurück und der Wagen blieb unbewacht stehen. Augenblicklich stimmten die Hyksos ein ohrenbetäubendes Siegesgeschrei an, als ob sie gerade einen Krieg gewonnen hätten, und sie führten sich auf wie eine Horde wild gewordener Stiere. Triumphierend zogen sie den Wagen zu den Toren des Hauptpalastes, aus dem ebenfalls ein weithin vernehmbares Geschrei ertönte. Nach einer kurzen Weile wurde es dann aber allmählich ruhiger und das Stimmengewirr verebbte zusehends.
„Das ist unsere Chance! Neferafin und Arafine, ihr bleibt hier bei den anderen!“
Umgehend rief Har alle zusammen und sie verließen den Nebenpalast so leise, wie sie nur konnten. Um besser kämpfen zu können, nahmen die Kobras, Taris und die Haleritas ihre ursprüngliche Gestalt an. Weil er einen geheimen Eingang kannte, der sie vor einer zu baldigen Entdeckung schützen würde, führte Har die Gruppe an. Glücklicherweise hatte sie noch niemand bemerkt, als sie so geräuschlos wie auf Zehenspitzen durch den Gang in den Palast schlichen. Von dem unterirdischen Gang aus führte eine Wendeltreppe nach oben in die Eingangshalle. Har, der sie als Erster hinaufstieg, erkundete erst einmal die Lage.
„Alles ist ruhig. Ihr könnt hochkommen.“
Daraufhin folgten die etwa fünfzig Kämpfer, denen sich Hunderte von Kobras und ein ganzes Heer von Krokodilen und Haleritas anschlossen, Har in die Halle hinein.
„Teilt euch in Gruppen auf! Der Thronsaal hat vier Eingänge. Um sie gefangen nehmen zu können, müssen wir sie erst einmal einkesseln.“
Im Nu hatten sich alle an den Zugängen zum Saal aufgestellt. Als sie gerade losstürmen wollten, taumelte ein völlig benommener Hyksos durch die Halle.
„He, was seid ihr denn für Gestalten?“, lallte er.
Sofort legte Har seinen Arm von hinten um den Hals des Hyksos, um so lange zuzudrücken, bis er bewusstlos am Boden lag.
„Fesselt ihn und knebelt ihn, damit er nicht schreien kann, wenn er wieder zu sich kommt! Die anderen mir nach! Tut bitte euer Bestes, damit wir nicht zu viele von ihnen töten müssen! Nach Möglichkeit wollen wir sie lebend gefangen nehmen.“
Wie eine Naturgewalt stürmten sie den Thronsaal. Das Glück stand auf ihrer Seite, denn die Hyksos waren durch das Öl vollkommen benebelt und kaum dazu fähig, sich zu wehren. Im Anschluss an eine kurze Rangelei hatten sie alle überwältigt und gefesselt.
„Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Priester Resul fehlt und das sind auch noch lange nicht alle Soldaten.“
Suchend schaute Har sich um, aber sie waren nirgendwo zu finden.
„Ein paar von euch bleiben als Wachen hier und die anderen durchsuchen mit mir den Palast.“
Während Har auf der Treppe nach oben rannte, verteilte sich der Rest der Gruppe im gesamten Palast. Hier und da nahmen sie noch einige Hyksos gefangen. Nachdem der obere Teil des Palastes durchsucht war, versammelten sich alle wieder unten in der Halle.
„Das ist noch nicht einmal die Hälfte des Heeres. Lasst uns noch einmal unten nachsehen!“
Augenblicklich lief Har nach unten, und die anderen folgten ihm. Als sie dort ankamen, erwartete sie eine äußerst unangenehme Überraschung. Dort stand ihnen nämlich ein komplett aufgestelltes Heer gegenüber, das sich sorgfältig auf ihre Ankunft vorbereitet hatte. Mit Pfeil und Bogen bewaffnet, lauerten sie bereits darauf, endlich schießen zu können.
„Nutzt eure Schilde, um euch zu schützen, und looos!“, rief Har seinen Mitstreitern zu.
Auf seinen Befehl stürmten alle auf einmal nach vorn und schlugen auf die Hyksos ein. Um den Hyksos keine Gelegenheit zu geben, ihre Pfeile abzuschießen, hatten sie keine andere Wahl. Die Kobras schlängelten sich durch die Beine der Hyksos und bissen sie, um sie zu lähmen.
In diesem Moment tauchten die Apokoinus auf, um die Hyksos zu unterstützen. Schon bald tobte ein erbitterter Kampf – Mann gegen Mann und Tier gegen Tier. Auf beiden Seiten gab es zahlreiche Tote. Überall waren Speere, Dolche, Pfeile und andere Waffen aller Art im Einsatz. Auf dem Boden breiteten sich großflächige Blutlachen aus. Inzwischen kämpften Har und seine Verbündeten längst nicht mehr, um ihre Gegner gefangen zu nehmen, sondern um ihr nacktes Leben.
Sobald Har die Chance hatte, sich kurz umzuschauen, suchten seine Blicke nach Resul, aber auch hier konnte er ihn nirgendwo entdecken. Wild entschlossen hielt er einem der verwundeten Kämpfer der Hyksos seinen Dolch an den Hals.
„Wo ist Resul und wo habt ihr den Rest eures Heeres postiert?“
Obwohl der Kämpfer deutlich spürbar unter furchtbaren Schmerzen litt, hob er den Kopf, um Har anzugrinsen: „Du bildest dir doch nicht etwa ein, dass ich das einem Verräter wie dir preisgeben werde?“
Mit all seiner Kraft stieß Har seinen Dolch in das verletzte rechte Bein des Kämpfers, bis dieser vor Schmerzen aufschrie.
„Wo ist er?“, brüllte er den Verwundeten an. „WO? Sprich oder ich töte dich auf der Stelle!“
„Aus mir wirst du garantiert keine einzige Silbe herausbekommen. Verräter haben hier nämlich absolut nichts verloren.“
In diesem Moment brannten bei Har alle Sicherungen durch. Er ahnte bereits, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand. Nachdem er ganz kurz innegehalten hatte, schnitt er dem Hyksos einen Finger ab.
„Ich verspreche dir, dass ich ein Stück nach dem anderen aus dir herausschneiden werde, wenn du mir nicht sofort sagst, wo er ist!“
Mittlerweile schrie der Hyksos vor Schmerzen wie am Spieß, während sich sein Blut auf dem Boden verteilte.
„Er ist auf dem Weg zur Küste, um Verstärkung zu holen.“
Nach diesem Geständnis brach der Verwundete endgültig zusammen.
Wutentbrannt rammte Har seinen Speer mitten in den Bauch des Hyksos hinein.
Direkt hinter ihm stand Taris, der ihn schon seit einer Weile beobachtet hatte.
„Junge, nimm dich zusammen! Du bist doch nicht so grausam wie die hier.“
„Es musste leider sein. Sonst würden wir ihnen in die Falle gehen und die Hyksos niemals loswerden. Eine zweite Chance bekommen wir ganz sicher nicht.“
Um die restlichen Hyksos zu überwältigen, schlug er weiterhin wild um sich.
Aufgrund der Unterstützung durch die Haleritas, die Krokodile und die Kobras waren Har und sein Gefolge zum Glück klar im Vorteil. Gegen ihre vereinten Kräfte konnten die Hyksos auf lange Sicht nicht mehr allzu viel ausrichten. Als der Kampf endlich vorbei war, nahmen sie die noch lebenden Hyksos gefangen, um sie nach oben in die Halle zu schleifen.
Auch Hars Mitstreiter waren nach dem erbitterten Kampf spürbar geschwächt und erledigt. Jeder Einzelne von ihnen hatte Wunden, die versorgt werden mussten. Spurlos war dieser Kampf an keinem vorbeigegangen.
„Wir müssen uns überall im Palast verteilen und Wachen aufstellen. Ich weiß nämlich nicht, ob es hier Geheimgänge gibt. Sobald wir die Gefangenen vor die Tore der Stadt verfrachtet haben, machen wir die Mauern dicht und sichern alles ab.“
Jeder hatte Gefangene im Schlepptau und zog oder stieß sie auf den großen Platz vor dem Palast hinaus. Schon nach kurzer Zeit waren dort ungefähr 300 Gefangene von ihren Wächtern umzingelt. Damit niemand die Flucht ergreifen konnte, bauten sich um sie herum auch noch unzählige Kobras und Haleritas im Kreis auf.
„Lasst uns alles noch einmal gründlich durchsuchen! Stellt die gesamte Stadt auf den Kopf, um euch zu vergewissern, dass wir auch wirklich nicht noch irgendwo jemanden übersehen haben!“
Auf diesen Befehl hin schwärmten alle noch einmal aus, um die Stadt endgültig von ihren Feinden zu säubern. Dabei kam hier und da tatsächlich noch ein Hyksos zum Vorschein, der sich aber sofort ergab.
„Wartet hier! Ich bin gleich wieder zurück.“
Har lief mit eiligen Schritten in den Nebenpalast.
„Neferafin! Wir brauchen dringend eure Hilfe. Schafft uns so viele Fässer mit Öl heran, wie ihr nur könnt! Bringt uns alles, was ihr habt!“
Neferafin kam ihm hastig entgegen. „Welches Öl meinst du?“, fragte sie.
„Diesmal muss es kein bestimmtes Öl sein. Gebt uns einfach alles an Öl, was noch übrig ist! Um unsere Stadtmauern zu schützen, müssen wir das Öl darauf verteilen.“
Kurz danach stürmte Har in die große Halle, in der sich alle Frauen und Kinder aufhielten.
„Jetzt habt ihr die Wahl, ob ihr hierbleiben wollt, um gemeinsam mit unserem Volk in Frieden zu leben, oder ob ihr euren Männern folgen möchtet, die gerade aus der Stadt vertrieben werden. Ihr müsst euch aber auf der Stelle entscheiden. Jeder, der nicht bleiben will, soll mir bitte folgen. Von unserer Seite habt ihr nichts zu befürchten und ich verbürge mich für eure Sicherheit.“
Manche der Frauen dachten lange nach. Dann standen einige von ihnen auf, um ihre Kinder auf den Arm zu nehmen und sich Har anzuschließen. Die meisten blieben aber sitzen, weil sie sich dafür entschieden hatten, in Zukunft hier zu leben.
„Wir brechen sofort auf. Neferafin, schickst du die Asili mit den Wagen voller Fässer bitte zu den Stadtmauern?“
Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Frauen und Kindern verließ Har den Palast. Als sie auf dem großen Platz angekommen waren, stellte er sich vor die Kämpfer der Hyksos, die überlebt hatten. Von dort aus hallte seine Stimme laut durch die gesamte Anlage.
„Eure Herrschaft ist hiermit beendet! Wir werden euch aus der Stadt herausführen und euch endgültig aus unserem Land vertreiben. Vorher geben wir euch noch zwei Tage Zeit, damit ihr eure Toten begraben und eure Verwundeten versorgen könnt. Anschließend wird der Kampf fortgesetzt. Wir stellen euch Wagen mit Wasser und mit Lebensmitteln zur Verfügung. Zusätzlich stehen Wagen für euch bereit, mit denen ihr eure Verletzten und eure Toten transportieren könnt. Nehmt euch jetzt diese Wagen und geht auf die Tore zu!“
Nachdem sich alle umgeschaut hatten, setzte ein Teil der Hyksos die zahlreichen Wagen in Bewegung. Überall lag der Geruch von Blut in der Luft. Es war ein Bild des Schreckens.
Während die Hyksos bis zu den Toren begleitet wurden, zogen die ersten Asili bereits die Wagen mit den Ölfässern an die Mauern heran. Wenig später befanden sich alle Hyksos draußen vor den Toren der Stadt und Har rief die übergroßen Asili zu sich.
„Kommt bitte zu mir! Ich brauche dringend eure Hilfe.“
Sobald sie herbeigeeilt waren, bat er sie, ungefähr zehn Fuß vor der Mauer einen Graben um die gesamte Stadt herum auszuheben. Dies ließen sich die Asili nicht zweimal sagen. Umgehend machten sie sich ans Werk. Als der Graben fast fertig war, wurden die Hyksos auf die andere Seite des Grabens getrieben. Zwischen ihnen und der Stadtmauer erstreckten sich nun ein Graben und eine Sandfläche.
Nachdem die Asili ihre Arbeit beendet hatten, erklang aus der Ferne lautes Gebrüll und Geschrei. Mit einem Heer aus zahllosen Kämpfern marschierte Resul auf die Stadt zu.
„Das haben wir ja gerade noch rechtzeitig geschafft.“ Spürbar erleichtert atmete Har auf.
„Verschließt die Tore und stellt alle Wehrtürme vor der Innenseite der Mauer auf!“
Innerhalb der Stadtmauer wurden alle Türme und alle Wurfmaschinen blitzschnell an die Mauer herangeschoben. Als dadurch alles bestmöglich geschützt und gesichert war, ähnelte der Anblick ihrer Verteidigungsanlagen dem Hadrianswall.
In Windeseile beauftragte Har seine Männer damit, das Öl aus sämtlichen Fässern von oben in den Graben herunterzuschütten, bis dieser komplett mit Öl gefüllt sein würde.
„Das war unser gesamter Vorrat an Öl.“
Wehmütig warf Sito einen Blick in den Graben.
„Bedauerlicherweise hatten wir keine andere Wahl. Wir brauchen Zeit und die haben wir nur, solange das Öl brennt.“
Noch während er diese Worte aussprach, ließ Har eine brennende Fackel in den Graben fallen. Mit einem lauten Knall entfachte die Fackel im Graben ein gewaltiges Feuer, das innerhalb von Sekunden lichterloh brannte und den Hyksos den Weg in die Stadt versperrte.
Har drehte sich um und rief seinen Kämpfern weitere Befehle zu: „Holt schnell alle Kugeln aus Teer und bestückt die Wurfmaschinen mit ihnen! Bereitet sie auf den Abschuss vor und haltet sie in dieser Position! Falls ein Überraschungsangriff erfolgen sollte, sind wir dadurch gut gerüstet. Zusätzlich müssen in jedem Turm Wachen aufgestellt werden, die rund um die Uhr alles im Blick haben. Beeilt euch, denn ich traue dem Frieden ganz und gar nicht!“
Er nahm das Heer der Hyksos noch ein letztes Mal in Augenschein und kletterte dann wieder von dem Turm herunter.
„Tragt Bambus und alles andere Brennbare, das ihr finden könnt, zusammen, damit wir auf dem Platz ein Feuer anzünden können. Auch wir müssen unsere Toten begraben.“
Inzwischen hatten sich die Frauen bereits um die zahlreichen Verletzen gekümmert und sie versorgt. Jetzt wurden die Toten aufgebahrt, wobei sie jedem Einzelnen von ihnen einen Edelstein auf die Augen legten, damit sie den Fährmann für die Überfahrt ins Reich der Toten bezahlen konnten. Har entfachte das Feuer eigenhändig und senkte den Kopf, um den Gefallenen seinen Respekt zu erweisen.
Als die Nacht anbrach, saßen alle schweigend um das Feuer herum. Viele weinten und die Frauen zogen ihre Kinder auf ihren Schoß, um ihre Tränen vor ihnen zu verbergen. Bis tief in die Nacht hinein blieben alle wach, um trotz der auch weiterhin gespannten Lage gebührend um ihre Toten zu trauern.
Taris, Sito, Laros und Har hatten sich ein Stückchen abseits der anderen versammelt.
„Da wir hier gerade beisammen sitzen und bisher überlebt haben, möchte ich noch einmal auf meine Frage zurückkommen, mein Freund. Immerhin hattest du ja vor langer Zeit geschworen, dass du dich nie wieder in eine Kobra verlieben würdest.“
Lächelnd klopfte Sito Taris auf die Schulter.
„Wie ist es denn nun so plötzlich dazu gekommen? Und, was mich noch viel mehr interessiert, wo war Utho auf einmal abgeblieben?“
Taris schmunzelte in sich hinein: „Ach ja, das wisst ihr ja noch gar nicht. Aber weil sich die Ereignisse derartig überschlagen haben, hatten wir bisher tatsächlich noch keine Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten.
Mein Volk hat fieberhaft nach Utho gesucht. Als ihr den Heimweg angetreten hattet, bin auch ich zusammen mit einigen anderen auf die Suche nach ihr gegangen. Dabei sind wir auf Gänge gestoßen, die selbst wir bisher noch nicht kannten. Diese verliefen tief unter unseren Gängen und waren ziemlich unheimlich.
Trotzdem blieb uns keine Wahl und deshalb sind wir in diese Gänge herunter geschwommen. Irgendwann befanden wir uns in einem wahren Labyrinth. Mein Freund, so etwas hatte ich vorher noch nie erlebt. Überall um uns herum war es stockdunkel und in dieser Dunkelheit blitzten von allen Seiten rote Augen auf. Auch, wenn wir uns noch so sehr angestrengt haben, konnten wir dennoch nichts erkennen und nur die Stimmen hören.“
„Welche Stimmen?“ Vor lauter Neugier fühlten sich Sito und Har schlagartig wieder frisch und munter.
„Das kann ich euch leider nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Jedenfalls sind wir durch diese Stimmen hindurch geschwommen. Jetzt denkt bitte bloß nicht, dass wir dabei keine Angst gehabt hätten! Glaube mir, mein Freund, ich zitterte ganz gewaltig. Das Schlimmste von allem war aber, dass wir überhaupt nichts verstehen konnten. Es schien, als ob diese Stimmen nur flüstern würden. Je tiefer wir in diese Gänge hinein geschwommen sind, umso geheimnisvoller wurde es dort unten. Irgendwann kamen wir dann zu einer Lichtung, auf der sich so etwas wie eine künstlich errichtete Insel befand. Diese war strahlend hell erleuchtet. Obwohl ich meinen Augen kaum trauen wollte, lag Utho genau in ihrer Mitte. Sie war verletzt, aber irgendjemand hatte sich offensichtlich bereits um ihre Wunden gekümmert. Neben ihr waren Kissen und Decken ausgebreitet, und zu essen hatte sie auch mehr als genug. Als wir näher kamen, schlug sie die Augen auf und zischelte vor Schreck. Ich vermute einfach einmal, dass sie genauso viel Angst hatte wie wir. Also nahm ich meine menschliche Gestalt an, um ihr ein wenig von ihrer Angst zu nehmen. Während ich beruhigend auf sie einredete, ging ich langsam auf sie zu. Als ich sie fast erreicht hatte, nahm auch sie ihre menschliche Gestalt an.“
Bisher hatte noch gar keiner bemerkt, dass sich Laros langsam zurückzog, und dass er sich schon seit einer Weile nicht mehr an dem Gespräch beteiligte.
„Als ich spürte, wie schwer es ihr noch fiel, aus eigener Kraft aufzustehen, hob ich sie hoch, um sie zum Wasser zu tragen. Wir waren gerade dabei, uns zu überlegen, wie wir sie am besten transportieren könnten, als plötzlich wie von Zauberhand ein kleines, mit weichen Kissen ausgestattetes Boot aus purem Gold vor uns stand. Ich schaute mich um, konnte aber niemanden entdecken. Weil Utho noch sehr schwach war, legte ich sie in das Boot und nahm meine ursprüngliche Gestalt an. Anschließend zogen wir das Boot durch die dunklen Gänge, wo auch weiterhin überall diese seltsamen Augen über uns wachten und die Stimmen fortlaufend flüsterten. In jedem Moment rechnete ich mit einem gewaltigen Knall, zu dem es aber nicht kam. Es fühlte sich beinahe so an, als ob uns irgendjemand etwas mitteilen wollte, wir aber nicht dazu in der Lage waren, es zu verstehen. Mein Freund, dort unten war es wirklich mehr als unheimlich, aber eines Tages werden wir diese Gänge noch einmal genauer unter die Lupe nehmen.“
An dieser Stelle schaltete sich Laros wieder in das Gespräch ein: „Hast du inzwischen schon einen Plan, wann ihr dorthin zurückkehren möchtet, um die Gänge näher zu erkunden?“
„Leider nein, denn vorher müssen wir erst noch hier oben unsere Aufgaben erledigen. Aber sobald sich eine Gelegenheit ergibt, werden wir uns noch einmal dort hinunter wagen. Es war ja nicht wirklich so, dass uns jemand etwas Böses antun wollte. Ganz im Gegenteil! Obwohl in dieser merkwürdigen Situation alles so unheimlich wirkte, befanden wir uns keine Sekunde lang in echter Gefahr.“
Laros nickte zustimmend: „Das glaube ich dir gern. Vielleicht besteht aber auch die Möglichkeit, dass diese Stimmen euch um eure Hilfe bitten wollten. Warum sie das tun sollten, kann ich natürlich nicht sagen. Aber du hast ja selbst gesehen, dass sie für Utho gesorgt und euch auf eurem Weg zu ihr und wieder zurück freien Zugang gewährt haben. Aus diesem Grund könnte ich es mir gut vorstellen, dass diese Stimmen in Wahrheit um Hilfe gerufen haben.“
Völlig verblüfft schaute Taris zu ihm auf: „Damit könntest du tatsächlich recht haben. Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen, aber ob das vielleicht zutrifft, sollten wir unbedingt bei der nächstbesten Gelegenheit herausfinden. Als ich Utho dort unten liegen sah, konnte ich erst einmal keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich wollte sie einfach nur schnellstmöglich von dort weg holen, damit wir sie wieder bei uns haben. Nun ja, allzu viel gibt es nicht mehr hinzuzufügen. Als Utho nach einigen Tagen wieder vollständig gesund war, haben wir uns schnell angefreundet und das ist das Ende der Geschichte. Ich bin einfach nur unendlich froh darüber, dass wir sie gefunden haben.“
Taris grinste über das ganze Gesicht und man konnte ihm überdeutlich ansehen, wie stolz er war.
Har musterte ihn eindringlich und Sito lachte. Ob er ihm das alles hundertprozentig glauben sollte, wusste er noch nicht mit endgültiger Sicherheit, aber er musste sich erst einmal geschlagen geben.
„Damit hast du mich gerade an etwas erinnert. Ich sollte wohl besser einmal nachsehen, wie es Raffine und Lyra geht. Natürlich hoffe ich sehr, dass sie nicht schon wieder zu früh aufgestanden ist und dass sie sich jetzt endgültig auf dem Weg der Besserung befindet.“
Nachdem Har den anderen kurz zugenickt hatte, begab er sich auf den Weg zu Raffines Gemächern. Schon von der ersten Stufe aus erkannte er, dass weiter oben etwas auf dem Treppenansatz lag. Als er näher kam, konnte er kaum fassen, um was es sich dabei handelte. Wie der Teufel stürmte er die Treppe herauf, wo er eine beängstigend geschwächte Lyra vorfand, die gerade versuchte, sich mit ihrer allerletzten Kraft die Treppe hinunterzuschleppen. Alles war voller Blut, das von oben heruntertropfte. Behutsam nahm er Lyra auf den Arm, wobei er sich zu ihr herunterbeugte.
„Lyra, was ist hier passiert?“
Ihr trauriger Anblick verschlug ihm die Sprache und er bemerkte es nicht einmal, dass ihm bittere Tränen über die Wangen liefen. Er wusste genau, dass Lyra Raffines Lieblingsschlange war, die sie mit zurück in ihre Welt nehmen wollte, und jetzt lag Lyra sterbend in seinen Armen.
„Apophis, die Schlange der Finsternis, hat Raffine entführt. Obwohl ich es mit aller Macht verhindern wollte, habe ich es leider nicht mehr geschafft. Apophis hat uns im Schlaf überrascht und alle Wachen getötet. Und dabei habe ich Raffine doch so sehr geliebt.“
Nach diesen Worten versagte Lyras Stimme.
Har, der inzwischen hemmungslos schluchzte, flehte sie an: „Bitte, Lyra, bitte stirb jetzt nicht! Wir werden dich wieder gesund pflegen. Bitte bleib bei uns!“
Mit Lyra auf seinen Armen rannte er zurück zum Feuer.
„Uaret, hilf mir! Helft mir! Lyra stirbt. Bitte tut doch etwas! Sie stirbt.“
Als die anderen Har erblickten, sprangen sie augenblicklich auf.
Sofort brach Uaret ebenfalls in Tränen aus.
Völlig verzweifelt versuchte sie, mit Lyra zu sprechen, aber es war bereits zu spät. In diesem Moment schloss Lyra für immer ihre Augen.
„Neeeeeeein!“, schrien Uaret und Har gleichzeitig in die Nacht hinaus und beide sanken weinend zu Boden.
„Lyra, nicht Lyra! Sie war doch meine allerliebste und treueste Gefährtin.“
Uaret weinte bitterlich. „Wie sollen wir das denn bloß Raffine beibringen?“
„Raffine!“
Behutsam legte Har Lyra in Uarets Arme. Nur einen Sekundenbruchteil später rannte er auch schon zurück in den Palast.
Ohne erst noch darüber nachzudenken, folgten ihm Taris und Sito. Sie hatten beide erkannt, dass Har vor Wut völlig außer sich war und dass er nicht mehr klar denken konnte. Auf ihrem Weg hinauf zu den Gemächern lagen an mehreren Stellen getötete Wachen. Dass hier noch vor Kurzem ein verzweifelter Kampf stattgefunden hatte, war nicht zu übersehen.
Wie sie es erwartet hatten, fanden sie Raffines Bett leer und verlassen vor. Auch in diesem Raum sah es so aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Überall wiesen die unmissverständlichen Spuren eines heftigen Kampfes darauf hin, was sich hier abgespielt hatte.
„Wo kann sie denn nur sein? Wer hat sie mitgenommen?“, schrie Har vollkommen verzweifelt.
Taris hob gerade etwas vom Boden auf.
„Dieses Mineral kenne ich. Es stammt aus den unteren Gängen, die direkt über unseren liegen. Jetzt müssen wir uns erst einmal die Fragen stellen, wie es überhaupt jemand geschafft haben kann, hier einzudringen, und wer dieser Jemand war.“
Suchend schaute sich Taris um. Bisher hatten sie es noch gar nicht wahrgenommen, dass inzwischen auch Arafine zu ihnen gestoßen war. Ihr Gesichtsausdruck und ihre verweinten Augen spiegelten ihre grenzenlose Traurigkeit, ihre maßlose Wut und ihre furchtbare Angst wider.
„Dass sie uns in unseren eigenen Hallen angegriffen haben, dürfen wir auf gar keinen Fall ungestraft lassen. Zuerst müssen wir aber Raffine zurückholen. Tut doch endlich etwas!“
Nach ihr betrat Sito, der seine Blicke sofort äußerst aufmerksam umherschweifen ließ, den Raum.
„Sie können nur durch die Anlage gekommen sein. Am Vordereingang hatten wir Wachen aufgestellt, aber nicht am Hintereingang. Das war offensichtlich ein schwerwiegender Fehler.“
„Damit konnte ja auch niemand rechnen.“ Taris wirkte vollkommen fassungslos. „Ich werde sofort mein Gefolge zusammenrufen und es ausschwärmen lassen. Irgendwo muss sie ja sein.“
„Wartet! Ich glaube nicht, dass sie schon sehr weit gekommen sind. Viel eher vermute ich, dass sie sich noch hier in der Nähe aufhalten und versuchen werden, Raffine als Druckmittel gegen uns einzusetzen. Resul ist gerissen und alles andere als zimperlich, wenn es darum geht, das zu bekommen, was er will. Lasst uns also bitte nichts überstürzen, sondern erst einmal in Ruhe darüber nachdenken, was wir jetzt am Besten tun könnten!“
Mittlerweile war es Har gelungen, sich wenigstens so weit zu beherrschen, dass er wieder einen kühlen Kopf bewahren und sich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Trotzdem spürten alle, dass er tief in seinem Innersten auch weiterhin vor Wut schäumte.
In diesem Augenblick kamen Wachen angerannt, die nach Har riefen.
„Kommt mit zu den Toren! Schnell!“
Kurz darauf liefen alle in Windeseile zu den Stadttoren. Dort kletterte Har auf einen der Wehrtürme, um die Hyksos in Augenschein zu nehmen.
„Haralet! Siehst du, was ich hier habe? Schau besser ganz genau hin! Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei nämlich um etwas, das dir sehr am Herzen liegt. Falls du sie zurückhaben möchtest, würde ich vorschlagen, dass du sie dir holst und uns wieder in die Stadt einmarschieren lässt.“
Während er diese Worte in einem betont höhnischen Tonfall aussprach, zeigte Resul auf einen Wagen, auf dem Raffine friedlich schlummerte. Glücklicherweise schien sie von alledem überhaupt nichts mitzubekommen.
In Har stieg unbändiger Hass auf. Resul zugewandt, rief er: „Oh ja, ich werde kommen und du kannst dich darauf verlassen, dass du deine widerwärtige Tat schon bald maßlos bereuen wirst!“
Anschließend stieg er wieder herunter, um auf die Tore zuzustreben.
„Warte und beruhige dich erst einmal wieder!“
Taris, der plötzlich hinter ihm stand, legte seine Hand auf Hars Schulter.
„Wir werden sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Inzwischen haben wir begriffen, dass sie unsere Gänge genutzt haben und haargenau das tun wir jetzt auch. Sie rechnen fest damit, dass du dich ihnen von vorn näherst. Zur gleichen Zeit greifen wir sie aber von hinten an. Während du, wie erwartet, durch das Tor gehst, werden die Krokodile gemeinsam mit dem gesamten Heer einen Überraschungsangriff von hinten starten. Direkt vor dir müssen dich die Asili auf deinem Weg durch das Tor begleiten, weil die Hyksos mit Sicherheit die Absicht haben, dich mit ihren Pfeilen zu erlegen. Durch die Asili wärst du zumindest vorübergehend geschützt. Anschließend muss alles blitzschnell gehen. Wir befreien Raffine und du entkommst, indem du so rasch wie nur möglich in die Stadt zurückkehrst.“
„So ganz einverstanden bin ich mit deinem Vorschlag aber nicht. Sicher verstehst du, dass ich es unter gar keinen Umständen zulassen kann, dass andere die Arbeit für mich erledigen“, entgegnete Har starrköpfig.
„Leider geht es in diesem Fall aber nun einmal nicht anders. Und schließlich ist es ja auch nicht allein dein Kampf. Wir tragen alle unseren Teil dazu bei. Also, du wartest jetzt hier. Sobald du uns hinter den Hyksos auftauchen siehst, gehst du los.“
Daraufhin rief Taris sein Gefolge zu sich, mit dem er in den Gängen verschwand.
Danach dauerte es nicht mehr lange, bis die Krokodile, denen sich auch zahlreiche Kobras angeschlossen hatten, im Hintergrund erschienen. Dummerweise konnte Har im schwachen Schein des Feuers in der Dunkelheit keine Einzelheiten erkennen, aber er ging davon aus, dass sie es waren. Alles, was er zweifelsfrei sah, waren schemenhafte Gestalten, die sich heimlich, aber beeindruckend schnell, von hinten an die Hyksos heranschlichen. In aller Ruhe griffen sie aus dem Hinterhalt an. Da die Hyksos nicht einmal ansatzweise damit gerechnet hatten, waren sie total überrumpelt und kaum dazu fähig, sich gegen die unerwarteten Angreifer zu wehren. Dadurch gewannen die Krokodile rasch die Oberhand.
Als sich Har gerade auf den Weg zu den Toren begab, schrie Resul: „Du hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten und deshalb wird sie sterben!“
Noch im selben Moment griff er nach Pfeil und Bogen, um auf Raffine zu zielen. Bevor es ihm aber gelang, den Pfeil abzuschießen, zischte urplötzlich ein roter Feuerball durch die Luft. Bei diesem handelte es sich um Benu, der Raffine ergriff und sich mit ihr hoch in den Himmel erhob. Überraschenderweise flog er mit ihr aber nicht auf die Stadt zu, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Wie klug diese Entscheidung gewesen war, begriff Har ziemlich schnell. Auf dem Weg in die Stadt hätten ihn nämlich die Pfeile der Hyksos getroffen. Demzufolge erwies sich diese Taktik als die einzig Richtige. Trotzdem wollte Har immer noch loslaufen, um sich auf Resul zu stürzen, aber Laros hielt ihn zurück.
„Bleib hier! Es bringt keinem von uns etwas, wenn du auf dem Schlachtfeld stirbst. Taris hat alles fest im Griff. Sieh doch! Allzu lange werden sie gar nicht mehr kämpfen müssen, weil sich dein Volk schon längst nicht mehr wehren kann.“
Beinahe widerwillig warf Har einen Blick über die Mauer.
„Wie konnte es denn dazu kommen?“, fragte er ungläubig.
„Vor dem Beginn des Angriffs haben die Kobras in mehreren Schalen Weihrauch angezündet, der mit Jasmin-Öl getränkt war. Diese Schalen haben sie um die Hyksos herum verteilt. Dadurch konnte sich der Nebel entfalten, ohne dass ein Feuer oder eine offene Flamme zu sehen war. Deshalb sind sie jetzt zwar noch lange nicht ungefährlich, aber wir konnten sie zumindest vorübergehend außer Gefecht setzen. An den Waffen haben wir übrigens noch leichte Veränderungen vorgenommen.“
Har beobachtete Taris, sein Gefolge und die Kobras, die sich gerade zurückzogen. Wenig später tauchten die Krokodile in seiner Nähe auf. Nur Taris fehlte noch.
Rastlos lief Har hin und her. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich Raffine und Taris in diesem Moment aufhalten könnten. Zum Glück war aber wenigstens keines der Krokodile verwundet worden.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Taris endlich zurückkam. So schnell wie noch nie zuvor rannte Har in die Anlage und zu der Stelle, an der sich der Eingang zu den unterirdischen Gängen befand. Als er gerade dort ankam, sah er Taris, der Raffine auf seinen Armen trug, auf sich zukommen. Wie vom Teufel besessen sprintete er ihm entgegen, um ihm Raffine abzunehmen. Da die Heilkräuter nach wie vor wirkten, bekam Raffine, die noch im Land der Träume schwebte, von alledem überhaupt nichts mit. Deshalb entging es ihr leider auch, wie liebevoll Har sie an sich drückte und wie zärtlich er sie auf die Stirn küsste.
„Wahrscheinlich ist es wirklich besser, dass du gar nicht weißt, was heute alles mit dir passiert ist. Außerdem habe ich nicht die geringste Vorstellung davon, wie wir dir Lyras Tod möglichst schonend beibringen könnten. Aber jetzt musst du dich erst einmal gesund schlafen.“
Nachdem er sie noch einmal geküsst hatte, trug er sie nach oben in ihre Gemächer. Unterwegs blieb er aber noch einmal abrupt stehen, um sich Taris zuzuwenden.
„Danke, mein Freund! Ich stehe tief in deiner Schuld.“
Taris nickte ihm fast schon feierlich zu, bevor er erwiderte: „Es ist alles in Ordnung. Mach dir bitte keine Gedanken darüber! Schließlich geht es hier um uns alle. Inzwischen haben wir übrigens überall Wachen aufgestellt. Jeder einzelne Gang und jeder Ausgang ist jetzt absolut zuverlässig gesichert. Du kannst also unbesorgt nach oben gehen und Raffine ins Bett bringen.“
Mit einem ermutigenden Lächeln auf seinen Lippen nickte er Har, der anschließend in der Halle verschwand, noch einmal zu.
Oben angekommen, legte er Raffine sanft auf die weichen Kissen und deckte sie zu. Für eine ganze Weile wachte er über ihren Schlaf, wobei er darüber nachgrübelte, wie er denn bloß die richtigen Worte finden könnte, um sie darüber in Kenntnis zu setzen, was mit Lyra geschehen war. Dafür würde es wohl leider keine schonende Lösung geben.
Während sie schlief, ließ er sie keine Sekunde lang aus den Augen. Wie sehr er sie doch liebte! Trotzdem war sich Har darüber im Klaren, dass die richtige Zeit dafür noch nicht gekommen war.
Erst spät in der Nacht erhob er sich vorsichtig von seinem Stuhl. Raffine atmete gleichmäßig und schlief noch tief und fest. Mit langsamen Schritten lief Har die Treppe herunter.
Draußen am Feuer fand er die anderen vor, die auch noch nicht schlafen konnten. Er setzte sich für ein paar Minuten zu ihnen, bis alle beschlossen, sich zur Ruhe zu begeben. Rund um die Uhr waren überall Wachen postiert, weshalb sie sich zumindest vorübergehend sicher fühlten.