Kapitel 14
Die große Schlacht
Als Har seine Augen aufschlug, musste er erst einmal überlegen, wo er sich eigentlich befand. Nach und nach kamen die Erinnerungen an den Vortag zurück. Frustriert runzelte er die Stirn. So war es ganz und gar nicht geplant gewesen.
Raffine! Wie mag es ihr wohl gehen?
Mit einem Satz sprang er auf, um sich etwas überzuziehen. Für eine sorgfältige Morgentoilette blieb keine Zeit. Bevor er den Raum verließ, warf er aber noch einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Draußen schien alles ruhig zu sein. Also konnte er wohl erst einmal unbesorgt nach Raffine sehen. Leise schlich er sich in ihr Gemach, wo er feststellte, dass sie noch immer schlief. In dem Moment, in dem er sich wieder umdrehen wollte, erklang plötzlich die Stimme, die er über alles liebte.
„Guten Morgen! Kommst du oder gehst du gerade?“
Raffine hatte sich aufgerappelt und saß völlig zerzaust in ihrem Bett.
„Guten Morgen! Wie geht es dir? Ich wollte eben wieder gehen.“
Har sah Raffine liebevoll an und musste auf einmal laut lachen, weil ihre Haare viel eher einem Vogelnest ähnelten als einer Frisur.
„Wie lange habe ich denn geschlafen? Habe ich inzwischen sehr viel verpasst? Könntest du mir vielleicht einen Kaffee besorgen? Ich habe nämlich einen ganz grässlichen Geschmack im Mund.“
Raffine reckte und streckte sich, um endgültig wach zu werden.
„Du hast wirklich sehr lange geschlafen und ja, du hast auch eine Menge verpasst. Wenn es dir tatsächlich wieder besser geht, würde ich aber vorschlagen, dass du dich erst einmal anziehst und anschließend zu uns nach unten kommst. In der Zwischenzeit werde ich mich auch schnell frisch machen und dann gleich nachkommen.“
Damit ging er noch einmal zu Raffine, um sie zärtlich zu küssen und zu streicheln.
Wenig später kamen beide gleichzeitig in der Halle an, in der sich schon alle zum Frühstück versammelt hatten. Auf den ersten Blick hätte man annehmen können, dass es sich um eine friedliche Idylle handelte, aber leider trog der Schein. Jeder von ihnen wusste genau, was geschehen war, nur Raffine noch nicht. Vollkommen ahnungslos setzte sie an den Tisch, um unbeschwert mit den anderen zu plaudern.
„Und? Was gibt es Neues? Was habe ich denn inzwischen alles verpasst? Ach, übrigens, hat irgendjemand von euch Lyra gesehen? Ich habe nämlich schon überall nach ihr gerufen, aber sie scheint sich wohl aus unerfindlichen Gründen vor mir zu verstecken.“
Bedrückt senkten alle die Köpfe, weil keiner von ihnen derjenige sein wollte, der ihr die schreckliche Nachricht überbringen musste.
„Was macht ihr denn alle für ein Gesicht? Wenn man euch so sieht, könnte man ja fast schon meinen, es wäre jemand gestorben.“
Raffine lachte über ihre eigene Bemerkung. Als die Gesichter der anderen aber auch weiterhin wie versteinert blieben und jeder sie mitfühlend anschaute, verstummte Raffine schlagartig.
„Was ist hier los? Wo ist Lyra?“
Sie sprang von ihrem Stuhl auf und rief lautstark nach Lyra. Kurz darauf lief sie in jede Ecke, um sie zu suchen. Dabei überkam Raffine eine grauenvolle Vorahnung. Fast schon panisch hastete sie zurück zu dem Tisch, an dem alle nach wie vor regungslos saßen. Bisher hatte keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort gesagt.
„Wo ist sie?“, schrie Raffine völlig außer sich. „WO?“
Niemand brachte es über sich, Raffine mit der grausamen Wahrheit zu konfrontieren, bis Sito aufstand, um den Tisch herumging und Raffine in den Arm nahm.
„Lass uns ein Stückchen gehen!“, schlug er ihr leise vor.
In ihrer von Sekunde zu Sekunde zunehmenden Angst versuchte Raffine, sich von ihm loszureißen, aber Sito hielt sie fest und zog sie mit sich fort. Die anderen sahen den beiden nach, wobei Neferafin bittere Tränen über die Wangen liefen. Nach wenigen Minuten erklang von draußen ein herzzerreißender Schrei.
„Neeeeein! Das ist nicht wahr! Das kann gar nicht stimmen! Wo steckt sie denn bloß?“
Jedes einzelne ihrer von ihrem mitleiderregenden Schluchzen unterbrochenen Worte ließ auch die in der Halle Zurückgebliebenen Raffines abgrundtiefe Verzweiflung und ihre unbändige Wut spüren. Dann wurde es mit einem Mal still.
Inzwischen schluchzten auch Uaret und Utho wieder. Deshalb hoben sie nicht einmal den Blick, als Sito zurückkehrte.
„Sie ist jetzt unten am See und möchte dort gern für eine Weile allein sein. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich noch tun könnte, denn sie scheint total am Ende zu sein und sie weint bitterlich. Was sich gestern noch alles zugetragen hat, wollte ich ihr natürlich auch erzählen, aber das hat sie kaum registriert. Meiner Meinung nach sollten wir ihr jetzt einfach ein wenig Zeit lassen. Schließlich ist es kein Wunder, dass die Ereignisse der vergangenen Tage ein bisschen zu viel für sie waren.“
Im Anschluss an diese Erklärung setzte sich Sito wieder zu den anderen, um schweigend seinen Tee zu trinken.
Nachdem sie vor Kummer zusammengebrochen war, lag Raffine währenddessen am Ufer des Sees auf den Knien. Obwohl sie lauthals schreien wollte, brachte sie keinen einzigen Ton mehr heraus. Nach einer Weile versiegten ihre Tränen und sie starrte nur noch ins Leere. Vollkommen geistesabwesend spielte sie mit der roten Feder, die sie in ihren Haaren entdeckt hatte. Verwundert betrachtete sie ihre einzigartige Farbe.
Ganz allmählich verarbeitete sie das, was Sito ihr eben erzählt hatte. Dabei spürte sie, wie die Wut unaufhaltsam in ihr hochstieg, bis sie am liebsten irgendetwas zerschlagen hätte. Als sie am Seeufer einen handgroßen Stein entdeckte, hob sie ihn auf, um ihn mit voller Wucht in den See zu werfen. Dadurch trieben die Blütenblätter in sämtliche Richtungen davon. Sobald sich die Stelle, an der der Stein aufgeschlagen war, wieder beruhigt hatte, bildeten die Blätter dort ein klar erkennbares V. Raffine richtete ihren ausdruckslosen Blick darauf, als ob sie sich an einem weit entfernten Ort befinden würde.
Erst als Har, der sich ihr von hinten genähert hatte, sie zärtlich umarmte, kam sie wieder zu sich. Er drehte sie sanft zu sich herum und sie legte ihren Kopf an seine Schulter. In diesem Moment fing Raffine wieder jämmerlich zu weinen an.
„Ich vermisse sie so sehr, dass ich es nicht in Worte fassen kann, und gleichzeitig lässt mich der Gedanke nicht mehr los, wie es weitergehen würde, wenn ich gestern nicht überlebt hätte. Was wäre dann aus meinem Kind und aus meinem Hund geworden? Wegen dieser Frage ist es mir gerade erst bewusst geworden, wie schrecklich ich die beiden hier vermisse. Natürlich habe ich schon die ganze Zeit über oft an sie gedacht, aber irgendwie konnte ich es bisher immer wieder verdrängen.“
Sie schluchzte erbarmungswürdig, während sie ihren Tränen auch weiterhin freien Lauf ließ. Da Har absolut nichts einfiel, was er sagen könnte, um sie zu trösten, hörte er ihr stumm zu. Bis sie sich ein wenig beruhigt hatte, hielt er sie einfach nur ganz fest in seinen Armen. Die kleine, weiße Taube, die über ihre Köpfe hinwegflog, als sich Har nach einer Weile mit ihr an das Ufer des Sees setzte, hatten sie beide nicht bemerkt.
„Habt ihr denn inzwischen schon eine Idee, wie ihr die Hyksos endgültig aus eurem Land vertreiben könnt?“ Obwohl Raffine diese Frage an Har richtete, hatte sie sich von ihm abgewandt, weil es ihr peinlich war, dass sie wahrscheinlich furchtbar verweint aussah.
„Noch nicht, aber wir müssen jetzt blitzschnell eine Lösung finden. Das Öl wird nämlich nicht mehr lange brennen. Sobald das Feuer erlischt, werden wir verwundbar sein, und das dürfen wir auf gar keinen Fall zulassen.“
„Wie wäre es denn, wenn wir sie direkt zum Meer hin treiben? Schon klar, das ist eine ziemlich weite Strecke, aber es müsste doch funktionieren. Selbstverständlich würde das mehrere Tage dauern, aber es wäre doch zumindest eine Chance, den Frieden endlich wiederherzustellen. Also sollten wir uns wohl am besten Gedanken darüber machen, wo sich die Siedlungen der Hyksos befinden, damit wir sie überall dort aus dem Hinterhalt überrumpeln zu können.“
Da sie diese Überlegungen ein wenig abgelenkt hatten, sah Raffine Har nun doch an.
„Das ist ohne jeden Zweifel ein sinnvoller Vorschlag, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie wir die Leute alle dazu bewegen könnten, nach Norden aufzubrechen.“
Offensichtlich verstand Har ihren Plan noch nicht ganz.
„Nichts wäre einfacher als das. Wo hat sich dein Volk denn überall angesiedelt? Oder, besser gesagt, wo sind die Kämpfer der Hyksos stationiert?“, fragte Raffine eifrig, wobei sie auf dem Boden nach einem für ihre Zwecke geeigneten Stock Ausschau hielt.
„Es gibt nur drei Orte, an denen sich die Hyksos angesiedelt haben und an denen gleichzeitig auch unser Heer postiert ist, und alle drei liegen an den Ufern des Nils.“
Nachdem Har noch einmal kurz darüber nachgedacht hatte, nickte er bestätigend.
„Gut. Dann müssten wir doch nur auf dem Nil nach Norden segeln, um die Leute unterwegs einzusammeln“, schlussfolgerte Raffine.
„Ja, das wäre wohl machbar. Wie bist du eigentlich auf diese Strategie gekommen?“
„Ganz einfach, weil wir uns dadurch den Fußmarsch an die Küste ersparen könnten. Mit den Booten wäre es wesentlich leichter und außerdem würden wir unser Ziel auch noch viel schneller erreichen. Befindet sich eure Flotte am Meer noch in Bereitschaft?“
Mit dem passenden Stock, den sie mittlerweile gefunden hatte, zeichnete Raffine etwas in den Sand, das der groben Skizze einer Landkarte ähnelte.
„Unsere was?“, fragte Har irritiert nach.
„Eure Flotte! Dabei handelt es sich um die Gesamtheit eurer Schiffe oder Boote oder, wie auch immer ihr sie hier nennt.“
„Ja, die liegen alle im Hafen von Rhaktotis, weil man das Meer von dort aus am besten überblicken kann und weil es die Lage dieses Ortes vereinfacht, alle erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.“
Offenbar war Har weiterhin darum bemüht, endlich herauszufinden, worauf Raffine eigentlich hinauswollte.
„Würden denn alle Hyksos, die wir unterwegs einsammeln, in euren Schiffen Platz finden?“, erkundigte sich Raffine.
„Ich denke schon. Im Grunde haben wir sogar mehr Schiffe als Kämpfer“, antwortete Har interessiert.
„Ausgezeichnet. Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern. Dann kann es ja sofort losgehen“, entschied Raffine, wobei sie rasch aufsprang.
„Moment mal! Wie meinst du das? Würdest du mir das bitte so erklären, dass ich es auch verstehe?“
Har rannte hinter Raffine her, die geradewegs auf die Halle zustrebte, in der sie die anderen zurückgelassen hatte. Als er den Raum betrat, war Raffine bereits damit beschäftigt, ihren Mitstreitern ihren Plan zu erläutern.
„Unsere Flotte, wie du sie nennst, Raffine, wartet, zwischen den Felsen an der Mündung des Nils verborgen, auf ihren Einsatz. Auf dem Territorium des Reiches von Arafine verfügen wir über rund dreihundert Boote und auf jedes dieser Boote passen nahezu zweihundert Mann.“
Neferafin überdachte das Ganze noch einmal, konnte aber nichts weiter hinzufügen.
„In dem Fall würde ich vorschlagen, dass wir jetzt umgehend alle notwendigen Vorbereitungen dafür treffen, die Hyksos einzusammeln und sie auf die Boote zu verfrachten. Wenn wir anschließend auf dem Nil nach Norden fahren, legen wir an den drei Orten an, an denen sich die restlichen Hyksos aufhalten. Sobald wir diese überwältigt haben, bringen wir sie zu den Booten. Ganz zum Schluss treiben wir sie dann auf das Meer hinaus, wo wir sie sich selbst überlassen können.“
Während Raffine ihr Vorhaben schilderte, spielte sie mit der roten Feder aus ihren Haaren, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.
„Ist dir eigentlich klar, was du da gerade in deiner Hand hältst?“
Neferafin stand auf, um sich die Feder genauer anzuschauen.
„Diese Feder stammt von Benu und man sagt, wenn man eine dieser Federn besitzt und sie in einer Notlage ins Feuer wirft, wird er dem Besitzer sofort zu Hilfe eilen.“
„An solche Legenden kann ich nicht ernsthaft glauben. Er wird sie wohl verloren haben, als er mich aus dem Wagen gerettet hat. Deshalb betrachte ich sie jetzt einfach als meinen Glücksbringer.“
Nachdem Raffine die Feder wieder in ihre Haare gesteckt hatte, setzte sie sich erst einmal hin, um noch einen Kaffee zu trinken, bevor sie dafür keine Zeit mehr haben würde.
„Wir sollten uns allmählich auf den Weg machen, denn das Feuer wird schon sehr bald niedergebrannt sein. Taris, gebt ihr uns auf dem Nil Geleitschutz?“, wollte Sito von Taris wissen.
„Natürlich, sehr gern. Schafft ihr es denn allein, die Hyksos vor den Toren einzusammeln?“, wandte sich Taris mit einem fragenden Blick an Har.
„Ja, ganz sicher, weil wir dafür ja die riesengroßen Asili und Laros mit seinem Gefolge an unserer Seite haben. Wir werden uns den Hyksos von hinten nähern und sie umzingeln. Vorher informiere ich unsere Wachen noch darüber, was zu tun ist, falls doch etwas schiefgeht. In dem Fall sollen sie die Wurfmaschinen auf den Wehrtürmen einsetzen. Wir nehmen am besten die wesentlich handlicheren Zielrohre mit.“
Kurz darauf rief Har einige der Wachen zu sich, um ihnen die entsprechenden Befehle zu erteilen. Direkt im Anschluss daran holte er die Waffen.
„Lasst uns aufbrechen!“
Währenddessen kümmerten sich die Frauen darum, dass die Boote auf dem Nil im richtigen Augenblick startklar sein würden. Schon bald wartete eine nahezu unüberschaubare Flotte auf dem Fluss darauf, die Fahrt nach Norden anzutreten.
Der Plan schien tatsächlich aufzugehen. Gemeinsam mit den Haleritas schlich sich Har durch die unterirdischen Gänge von hinten an die Hyksos heran, um sie von dort aus zu umzingeln. Genau zur selben Zeit marschierten die Asili durch die Haupttore, wodurch sie den Hyksos den Weg nach vorn abschnitten. Auch die Kobras trugen ihren Teil dazu bei, indem sie sich ganz nah an die Menschenmenge heranpirschten und sie dadurch noch mehr in die Enge trieben. Da sich die Hyksos nicht freiwillig geschlagen geben wollten, kam es hier und da dennoch zu kleineren Kampfhandlungen, die aber schnell im Keim erstickt wurden.
Einen zusätzlichen Vorteil verschaffte ihnen die Tatsache, dass sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten, weil die Waffenruhe ja ursprünglich noch für einen weiteren Tag gelten sollte und die Hyksos demzufolge noch nicht mit einem Überfall rechneten. Unter den gegebenen Umständen konnten Har und die anderen diese Vereinbarung aber nicht mehr einhalten. Auch der Gefangenentransport zu den Booten verlief problemlos.
„Bringt die Frauen und Kinder zusammen auf ein Boot und die Kämpfer auf ein anderes Boot! Die Kobras werden sie alle nicht aus den Augen lassen“, wies Har seine Mitstreiter an. Als alle entsprechend untergebracht waren, schaute er sich noch einmal um.
„Auch diesmal fehlt Resul“, rief er Sito, der sich ebenfalls suchend umsah, verärgert zu.
„Das ist gar kein gutes Zeichen“, kommentierte Sito, während sich Har einen der Kämpfer der Hyksos griff, ihm seinen Dolch an den Hals hielt und fragte: „Wo ist der Priester? Rede, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Da der Hyksos bereits vollkommen eingeschüchtert war, antwortete er, ohne zu zögern: „Er ist in der Morgendämmerung verschwunden. Wohin, wissen wir leider auch nicht. Er hat uns nur kurz mitgeteilt, dass er jetzt sämtliche Informationen hätte und dass es noch lange nicht vorbei wäre. Begleitet wurde er nur von der Schlange, mit der er ständig alles abgesprochen hat.“
Har zog den Dolch zurück und schien für eine Weile seinen Gedanken nachzuhängen.
„Sito, wir müssen rund um die Uhr auf der Hut sein! Ich habe nämlich nicht die geringste Ahnung, was Resul damit gemeint haben könnte und was er jetzt gerade im Schilde führt.“
Har wirkte außerordentlich besorgt und Sito spürte, dass Har etwas Bestimmtes beschäftigte.
„Meinst du, er wurde über unsere Pläne in Kenntnis gesetzt?“, wandte er sich an Sito.
„Diese Möglichkeit müssen wir in jedem Fall mit einkalkulieren, aber wir können es nicht mit Bestimmtheit sagen, sondern nur mehr als vorsichtig sein. Ich würde aber vorschlagen, dass wir unsere Befürchtungen noch nicht mit den Frauen teilen.“
Um diesen einhelligen Beschluss zu besiegeln, nickten Sito und Har einander zu.
Bald darauf setzte sich die Flotte in Bewegung und am darauffolgenden Tag erreichte sie den Stadtrand von Auaris.
Während Raffine auch auf dieser Fahrt die an ihr vorbeiziehende Landschaft bewunderte und sich darauf freute, eine Stadt zu sehen, die in ihrer Zeit schon längst nicht mehr existierte, bereiteten sich Har, Sito und Laros auf den Überfall vor. Umgeben von seinem Gefolge vor, hinter und neben den Booten schwamm Taris zu ihrem Geleitschutz im Fluss.
„Taris, du bleibst hier und bewachst die Flotte!“, rief ihm Har von einem der Boote aus zu und Taris signalisierte ihm augenblicklich, dass er ihn verstanden hatte.
Nach ihrer Ankunft versteckten sie die Boote im Schilf am Ufer des Nils.
„Ihr Frauen bleibt bitte auch hier, damit wir euch in Sicherheit wissen!“
Bevor sich Har gemeinsam mit schier überwältigenden Scharen von Kämpfern auf den Weg machte, gab er Raffine noch einen zärtlichen Kuss. Wenig später umkreiste das Heer die Stadt und das Glück schien ihnen hold zu sein. Da die Hyksos nicht im Entferntesten mit einem Überfall rechneten, hatten Har und seine Mitstreiter zwar nicht gerade ein leichtes Spiel, aber zumindest das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie griffen das Heer der Hyksos genau während eines Festes an, weshalb die Hyksos kaum Waffen bei sich trugen. Hier und da kam es zu einzelnen Kämpfen, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Am Ende hatten sie ungefähr einhundertfünfzig Kämpfer der Hyksos gefangen genommen. Auch hier wurde die Zivilbevölkerung wieder vor die Wahl gestellt, sich ihnen anzuschließen oder bei den Gefangenen zu bleiben. Diejenigen, die sich dafür entschieden, mit ihnen zu kommen, brachten sie zu den Booten.
Nachdem Sito das Zeichen zum Weiterfahren gegeben hatte, setzte sich die Flotte erneut in Bewegung, um auf die Stadt Sais zuzusteuern.
Sito und Har standen schweigend an Deck und ließen ihre Blicke über den Nil und das Ufer schweifen, bis sich Har zu Sito umdrehte.
„Sito?“
„Ja.“
„Meinst du nicht auch, dass das alles eben viel zu einfach über die Bühne ging?“, fragte Har stirnrunzelnd. Es war deutlich erkennbar, dass ihn etwas beschäftigte.
„Doch, eigentlich schon. Genau wie du hatte ich dabei überhaupt kein gutes Gefühl“, fasste Sito seine Gedanken in Worte.
„Weil es sich um die Hauptquartiere der Hyksos handelt, sind in diesen drei Städten normalerweise wesentlich mehr Kämpfer stationiert“, stellte Har kopfschüttelnd fest.
„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber das hilft uns jetzt alles nichts und wir müssen erst einmal abwarten, wie es in Sais weitergeht.“
Ermutigend klopfte Sito Har auf die Schulter.
Es dauerte nicht lange und sie waren an den Stadtmauern von Sais angelangt, wo das gleiche Spiel von vorn begann. Obwohl Har und seine Mitstreiter diesmal mit einem außerordentlich unguten Gefühl loszogen, wiederholte sich hier beinahe exakt dasselbe, das sie kurz zuvor in Auaris erlebt hatten. Wieder kamen insgesamt nur ungefähr zweihundert gefangen genommene Kämpfer der Hyksos zusammen, die sich nahezu kampflos ergeben hatten.
Eines war Har aber aufgefallen. In Sais erweckte alles den Anschein, als ob die Hyksos bereits mit dem Überfall gerechnet hatten, wenn auch nicht vom Wasser aus.
Auch hier wurden die Hyksos auf die Boote gebracht und es ging weiter. Kurz bevor sie Kanopus, die letzte der drei Städte, erreichten, ließ Har die Boote stoppen. Alle waren sichtlich erstaunt und Taris kletterte auf das Boot, in dem sich Har, Sito und Laros befanden.
„Warum lässt du die Boote hier anhalten?“, fragte Taris leicht irritiert.
„Ich habe einfach kein gutes Gefühl. In Sais und in Auaris kam es mir so vor, als ob sie schon vorher gewusst hätten, dass wir kommen würden. Außerdem ist es seltsam, dass wir nur so wenige Hyksos angetroffen haben. Eigentlich müssten sich in diesen drei Städten, den Hauptquartieren der Hyksos, mindestens zweitausend Kämpfer aufhalten, aber es waren eindeutig zu wenige. Zusätzliche Sorgen bereitet es mir, dass sie sich direkt an den Landwegen in die Stadt aufgestellt hatten, als ob sie dort auf uns gewartet hätten. Dass sie sich so schnell ergeben haben, beunruhigt mich ebenso, denn dieses Verhalten passt absolut nicht zu meinem Volk. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Man könnte ja fast schon meinen, sie hätten absichtlich einen Teil ihrer Kämpfer zurückgelassen, um uns in Sicherheit zu wiegen. Genau deshalb ahne ich Schlimmes.“ Ratlos sah Har die anderen an.
„Alles, was du eben aufgezählt hast, klingt tatsächlich sehr merkwürdig, weshalb ich deine bösen Vorahnungen gut nachvollziehen kann. Das alles ist wirklich mehr als eigenartig“, stimmte ihm Taris zu, wobei er Sito und Laros fragende Blicke zuwarf.
„Was haltet ihr denn von alledem?“
„Ich meine, Har könnte durchaus recht haben. Deshalb sollten wir die Boote wohl besser hierlassen und sie in einer angemessenen Entfernung von Kanopus verstecken, um sie zu schützen. Zusätzlich schlage ich vor, dass wir uns der Stadt diesmal auf dem Landweg nähern, uns dabei aber am Ufer des Nils entlang bewegen. Außerdem würde ich hier nicht direkt alle Kämpfer mitnehmen, sondern unsere Kämpfer und unser Gefolge aufteilen, damit wir im Fall eines Falles noch einen Trumpf in der Hand halten“, empfahl ihnen Laros mit einem Seitenblick auf Sito.
„Was sagst du dazu?“
„Ich stimme euch vollkommen zu. Aufgrund eurer logischen Überlegungen bin ich nämlich auch felsenfest davon überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt. Ich werde sofort dafür sorgen, dass die Boote versteckt werden.“
Gesagt, getan. Diesmal wurden auch die Frauen eingeweiht und die Boote in Sicherheit gebracht.
„Ihr geht aber unter gar keinen Umständen allein los. Wir kommen mit euch.“
Fest entschlossen bauten sich Raffine, Neferafin und Arafine hinter Har auf.
„Ehrlich gesagt, wäre es mir wesentlich lieber, wenn ihr hierbleibt“, gestand Har mit einem bittenden Blick auf die Frauen.
„Auf gar keinen Fall! Es ist nämlich nicht nur euer Kampf, sondern auch unserer. Mitgegangen, mitgefangen!“
Völlig verdutzt drehten sich alle Köpfe zu Raffine um.
„Du und deine Sprache! Daran werden wir uns wohl nie gewöhnen“, fasste Har lächelnd die Gedanken aller zusammen.
„Dann lasst uns jetzt einfach darauf hoffen, dass alles gut geht, dass wir Erfolg haben, und dass wir keine bösen Überraschungen erleben werden!“
Nachdem Sito allen die Hand gereicht hatte, marschierte er als Erster los, um die Gruppe anzuführen, der die Haleritas und die Kobras folgten. Auf ihrem Weg durch das Gebüsch begegnete ihnen nicht ein einziger Hyksos, weshalb es ihnen mühelos gelang, sich bis an die Stadtmauer von Kanopus heranzuschleichen. Auch hier trafen sie auf eine scheinbar friedliche Stille.
„Wollen wir wirklich so leichtfertig durch das Stadttor gehen? Es kommt mir äußerst verdächtig vor, dass hier keine Wachen postiert sind. Deshalb sieht es ganz nach einer Falle aus.“
Sito versuchte, die Lage genauer zu erkunden.
„Dann haben wir eben mit Rosinen gehandelt. Wenn wir schon so weit gekommen sind, können wir doch jetzt nicht einfach aufgeben“, bedrängte ihn Raffine flüsternd.
Inzwischen hatte die Gruppe das Tor erreicht. Als sie es gerade passieren wollte, stürmten urplötzlich von allen Seiten Kämpfer der Hyksos auf sie zu. Taris schrie zwar noch: „Rückzug!“, aber es war bereits zu spät. Direkt hinter ihnen hatte sich nämlich ein unüberschaubares Herr von Sphinxen aufgereiht.
Sie waren ihnen in die Falle gegangen, die genau in diesem Moment zuschnappte.
„So ein Mist!“
Raffine drehte sich einmal im Kreis. Dabei sah sie, dass mehrere Kobras versuchten, sich noch im letzten Augenblick zu retten, aber sie hatten nicht die geringste Chance. Sie waren von Tausenden von mit Pfeil und Bogen bewaffneten Hyksos umzingelt und hinter ihnen versperrten die Sphinxe den Weg.
„Ich heiße euch willkommen! Haralet, wir hätten dich eigentlich für klüger gehalten, aber offensichtlich scheinst du von unserem Volk nicht viel gelernt zu haben.“
Aus den Reihen der Hyksos erklang eine Stimme, die Har unglücklicherweise nur allzu vertraut war.
„Resul!“
„Ja, ich bin es höchstpersönlich.“
Resul grinste Har selbstzufrieden an: „Damit ist euer Siegeszug definitiv beendet. Zur Abwechslung drehen wir den Spieß jetzt einfach einmal um. Dabei holen wir uns alles zurück, was ihr uns genommen habt, und wir werden endgültig dafür sorgen, dass keiner von euch jemals wieder die Gelegenheit bekommt, auch nur einen Fuß in dieses Land zu setzen.“
In der Pose des überlegenen Siegers wandte er sich an die Hyksos: „Nehmt ihnen ihre Waffen ab, aber tötet dabei noch keinen von ihnen! Bindet sie alle an die Pfähle auf dem Hauptplatz! Ich möchte, dass sich jeder mit seinen eigenen Augen davon überzeugen kann, wer uns hier freiwillig ins Netz gegangen ist!“
Anschließend drehte sich Resul wieder zu Har um.
„Du hättest mich töten sollen, als du die Chance dazu hattest. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich von dir wesentlich mehr erwartet habe. Da du mich schon dein ganzes Leben lang kennst, hättest du wissen müssen, dass ich niemals aufgebe. Ich lasse mir dieses wunderbare Land doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts wegnehmen. Auch dass du den Fürsten getötet hast, wirst du schon bald bitter bereuen.“
Damit wandte er sich ab, um zu den Pfählen zu gehen. Mit verschränkten Armen und mit einem selbstgefälligen Lächeln auf seinem Gesicht beobachtete er, wie Har, Sito, Laros, Neferafin und Arafine festgebunden wurden.
„Zieht die Knoten so fest zusammen, wie ihr nur könnt! Wir wollen doch nicht, dass sie sich hin und her winden, wenn die Schläge auf sie einprasseln. Ihre Kämpfer sind für mich aber vollkommen wertlos. Also, steckt sie in die Verliese!“
„Wollen die uns etwa auspeitschen? Na, darauf stehe ich ja ganz besonders“, murmelte Raffine wütend vor sich hin.
„Das passt ja hervorragend. Dann fangen wir doch am besten gleich einmal mit der jungen Dame an!“
Sobald Resul nach einer Peitsche gegriffen hatte, versetzte er Raffine auch schon den ersten Schlag auf den Rücken.
Sie schrie vor Schmerzen kurz auf, biss dann aber sofort die Zähne zusammen.
„Tja, leider ist jetzt keiner mehr da, der euch aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Wie habt ihr es bis hierher geschafft und wo sind eure Gefangenen?“, fragte Resul mit einem siegessicheren Blick auf die gesamte Gruppe der Gefangenen.
Niemand antwortete ihm.
Augenblicklich zerschnitt ein Zischen die Luft und der nächste Schlag traf Har, der daraufhin keinen einzigen Laut von sich gab. Selbst, als Resul sein Spielchen zum vierten Mal wiederholte, blieb Har auch weiterhin reglos und stumm. Deshalb konzentrierte Resul seine Aufmerksamkeit wieder auf Raffine, bei der die Schläge aber auch keinen Erfolg mehr zeigten. Wie aus heiterem Himmel begann Resul, lauthals zu lachen.
„Dann machen wir es eben anders. Ich frage euch jetzt zum allerletzten Mal. Wie seid ihr hierhergekommen?“
Nachdem er einige Sekunden lang gewartet hatte, traf sein nächster Schlag Neferafin, die laut aufschrie und bemitleidenswert schluchzte.
„Na, da haben wir doch endlich jemanden gefunden, der uns mit Sicherheit gern alles verraten wird.“
Damit holte Resul aus, um Neferafin erneut zu schlagen. Inzwischen schrie Neferafin wie am Spieß, während ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen liefen.
„In Booten. Sie liegen unterhalb der Stadt am Ufer des Nils.“
Neferafin hatte schon längst keine Kraft mehr und fing an zu reden.
„Na, super!“
Trotz ihrer wahnsinnigen Schmerzen richtete Raffine ihren Blick kopfschüttelnd zu Boden, wobei sie frustriert in sich hinein murmelte: „Da sind wir nun schon so weit gekommen und jetzt das!“
Neferafin seufzte verzweifelt: „Es tut mir leid“, aber niemand reagierte darauf.
„Schickt die Wachen zum Nil und holt euch das Gesindel!“
Im Anschluss an diesen Befehl zeigte Resul auf die Gefangenen: „Macht sie los und bindet sie mit dem Rücken an die Pfähle! Ich möchte, dass sie genüsslich in der Sonne schmoren, bevor wir sie zerreißen lassen.“ Dabei lachte er laut und triumphierend.
Kurz darauf saßen die Gefangenen festgebunden in der prallen Sonne. Tief in ihre trüben Gedanken versunken, schwiegen alle. Nur hin und wieder warfen sie sich gegenseitig undefinierbare Blicke zu.
Schon nach kurzer Zeit kehrten die Hyksos zurück, allerdings ohne ihre gefangen genommenen Kameraden aus den anderen Städten.
„Wir haben drei Boote gefunden, aber sie waren alle verlassen“, berichtete einer der Hyksos seinem Befehlshaber Resul.
„Ihr seid ja tatsächlich noch viel dümmer, als ich dachte. Habt ihr etwa tatsächlich geglaubt, dass es euch mit nur drei Booten gelingen könnte, uns zu vertreiben?“
Mit einer Hand hob er Hars Kopf an, um ihm ins Gesicht zu grinsen.
„Wenigstens von dir hätte ich etwas mehr erwartet“, verkündete er, lauthals lachend, und die übrigen Hyksos stimmten mit ein.
Insgesamt mussten die Gefangenen einen halben Tag in der brütenden Hitze aushalten. Obwohl keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort sagte, war es allen klar, dass ihre Kräfte zunehmend schwanden. Ihr quälender Durst verschlimmerte ihre Lage noch zusätzlich.
„Laros, Sito, warum habt ihr eigentlich eure Gestalt beibehalten?“, fragte Raffine leise, wobei sie sich langsam umdrehte, um Laros anschauen zu können.
„Wir hatten leider keine Gelegenheit mehr dazu, uns in unsere ursprüngliche Gestalt zurückzuverwandeln. Dafür ging alles viel zu schnell. Da wir uns in unserer momentanen Lage nicht bewegen können, sind wir an unsere menschliche Gestalt gebunden.“
Inzwischen klang Sitos Stimme beängstigend schwach: „Wir bräuchten dringend Wasser. Alles, was uns jetzt noch bleibt, ist die illusorische Hoffnung, dass Taris und die anderen uns doch noch befreien werden.“
„Dann sollten sie sich aber besser beeilen, denn wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Auch Raffines Stimme versagte jetzt allmählich, weil sie eine völlig ausgetrocknete Kehle hatte und weil sie es ohne Wasser nicht mehr lange aushalten würde.
Als Neferafin erneut anfing, jämmerlich zu weinen, steckte sie Arafine an und keine der beiden konnte sich wieder beruhigen. Ihr unerträglicher Durst brachte sie beinahe um den Verstand. Trotzdem nahmen sie es noch wahr, dass nach und nach Hunderte von Schaulustigen auf den großen Platz im Zentrum der Stadt zuströmten. Außerdem erkannte Raffine mehrere Ochsen, die von den Kämpfern der Hyksos zur Mitte des Platzes getrieben wurden.
„Hat vielleicht irgendjemand von euch auch nur den Hauch einer Idee, wie wir von hier verschwinden könnten?“
Weil Raffine selbst in dieser aussichtslosen Lage noch krampfhaft versuchte, einen scherzhaften Tonfall anzuschlagen, musste Har trotz seiner Schmerzen auf einmal lachen.
„Du gibst wirklich nie auf.“
Genau in diesem Augenblick kam einer der Wachposten vorbei, der die beiden höhnisch musterte.
„Euch wird das Lachen schon noch vergehen. Gleich ist es so weit!“, verkündete er grinsend.
„He, man darf doch immer noch einen allerletzten Wunsch äußern. Oder?“, rief Raffine dem Wachposten nach.
„Ja, das stimmt tatsächlich. Höchstwahrscheinlich wird euch das maßlos überraschen, aber auch wir sind keine Unmenschen. Also, was willst du?“, erwiderte er mit gönnerhafter Miene, wobei er sich vor Lachen fast nicht mehr halten konnte.
Alle musterten Raffine vollkommen verständnislos.
„Siehst du die rote Feder in meinen Haaren?“
„Ja, natürlich.“
Schritt für Schritt kam der Wachpisten näher.
„Nimm sie mir bitte ab und wirf sie ins Feuer! Bitte!“, flehte ihn Raffine mit einem bühnenreifen Augenaufschlag an.
„Und warum sollte ich das tun?“, fragte der Hyksos verwirrt.
„Diese Feder ist mein persönlicher Glücksbringer. Da sie mir diesmal offensichtlich nicht geholfen hat und weil ich sie ja jetzt nicht mehr brauche, möchte ich, dass sie verbrannt wird“, erklärte Raffine so charmant, wie sie nur konnte.
„Von mir aus. Wenn es weiter nichts ist. Das muss ja wirklich ein erbärmlicher Glücksbringer gewesen sein. Viel gebracht hat er dir jedenfalls nicht.“
Mit diesen Worten nahm der Hyksos, auch weiterhin hemmungslos lachend, die Feder aus Raffines Haaren. Als sich ein zweiter Wachposten zu ihm gesellte, machten sie sich beide gemeinsam über Raffine lustig.
Nachdem der Hyksos die Feder ins Feuer geworfen hatte, starrte Raffine erwartungsvoll in die Flammen. Es zischte nur ganz kurz und ein schwacher, roter Funkenregen erhob sich in die Lüfte. Gleich danach war auch schon wieder alles vorbei.
Die Hyksos konnten beim besten Willen nicht mehr damit aufhören, Raffine auszulachen: „Jetzt ist dein toller Glücksbringer für immer verschwunden, aber du brauchst ihn ja sowieso nicht mehr!“
Mittlerweile liefen den beiden vor Lachen schon Tränen über die Wangen und Raffine, die wesentlich mehr erwartet hatte, war am Boden zerstört, weil überhaupt nichts passierte.
Sito sprach sie leise von der Seite an: „Es ist nur eine Legende, meine Kleine. Bei diesen Geschichten gibt es nie eine Garantie dafür, dass sie tatsächlich wahr sind.“
„Ja, ich weiß, aber ich hatte es so sehr gehofft. Bei uns sagt man nämlich, dass die Hoffnung zuletzt stirbt.“
Spürbar enttäuscht ließ Raffine ihre Blicke über den Himmel schweifen. Als die Funken zerstoben waren, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Den Triumph, jetzt auch noch vor den Hyksos zu heulen, wollte sie ihnen aber nicht gönnen.
„Tja, dann ist es eben so. Die Sonne scheint, wir haben wunderschönes Wetter und ich würde sagen, wenn nicht jetzt, wann dann? Heute ist ein guter Tag zum Sterben“, versuchte Raffine, sich selbst aufzumuntern, was ihr aber kläglich misslang.
„Mist, jetzt kommen die uns holen! Ich habe wirklich bis zuletzt geglaubt, dass Taris und die anderen uns noch zu Hilfe eilen würden.“
Mit schnellen Schritten kamen mehrere Wachen auf die Pfähle zu.
„Aufstehen! Es geht los!“, brüllte einer von ihnen.
Wenig später wurden alle von den Pfählen losgebunden und abrupt auf die Füße gezogen. Die Hyksos schubsten die Gruppe vor sich her, bis sie den Platz erreichten, auf dem die Ochsen bereits auf sie warteten. Einer nach dem anderen wurde auf den Boden geworfen und auf den Rücken gelegt.
Anschließend fesselten sie ihre Arme und Beine mit starken Seilen, deren anderes Ende jeweils am Sattel eines Ochsen befestigt war. Obwohl die Ochsen noch an kleinen Pfählen angeleint waren, ahnten alle, dass sich dies bald ändern würde.
„Dann nehme ich mal an, das war es jetzt.“
Har gab sich alle Mühe, den Blickkontakt mit den anderen aufrechtzuerhalten, aber es gelang ihm nicht, weil er auf dem Rücken lag und weil er sich wegen der straffen Seile nicht aufrichten konnte. Trotzdem erkannte er, dass Raffine ihre Augen geschlossen hatte.
„Har?“
„Ja.“
„Wir müssen wohl davon ausgehen, dass wir jetzt nicht mehr lebend hier herauskommen. Deshalb möchte ich dir schnell noch etwas sagen.“
„Was denn?“
„Wenn ich dich in meiner Zeit getroffen hätte, wärst du der perfekte Mann für mich gewesen. Ich habe dich mehr als nur lieb. Außerdem würde ich meiner Tochter gern noch unendlich viel sagen. Es gibt noch unzählige Dinge, die ich gemeinsam mit ihr erleben wollte. Wie konnte ich sie nur so ganz allein zurücklassen?“
In diesem Moment liefen ihr nun doch Tränen über die Wangen. Sie war davon überzeugt, dass es jetzt zu Ende gehen würde.
„Sind alle richtig festgebunden? Dann lasst die Ochsen los!“, hallte eine laute Stimme über den Platz.
Die Seile strafften sich bereits. In der Hoffnung, dass es wenigstens schnell vorbeigehen würde und dass sie nicht zu furchtbare Schmerzen ertragen müsste, kniff Raffine ihre Augen zu.
Als das tosende Geschrei einsetzte, meinten alle, dass die Ochsen losgelassen würden. Auf einen Schlag verdunkelte sich der Himmel und Raffine dachte nur noch: Na, toll! Nicht einmal auf die Sonne kann man sich noch verlassen.
Sobald sie ihre Augen wieder geöffnet hatte, versuchte sie, wenigstens noch herauszufinden, was gerade um sie herum vorging. Aber auch sie konnte ihren Kopf nicht mehr heben, sondern nur noch starr in den Himmel schauen. Dort erblickte sie eine dichte, dunkle Wolke, die sich rasend schnell zu bewegen schien.
Nachdem Raffine noch einmal geblinzelt hatte, begriff sie, dass es sich bei dem riesigen Gebilde gar nicht um eine Wolke handelte, sondern um Tausende der verschiedensten Vögel. Urplötzlich gingen diese wie auf Kommando im Sturzflug auf die Menge los, um die Schaulustigen und die Hyksos anzugreifen. Im Nu schien die ganze Welt von schrillem Gekreische und von panischem Geschrei erfüllt zu sein. Raffine traute ihren Augen und ihren Ohren nicht mehr. War sie etwa schon tot oder passierte das jetzt wirklich?
„Har! Was ist das?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe keinen blassen Schimmer, aber sie scheinen nicht uns anzugreifen, sondern die Hyksos.“
„Ahhhhhhhhh!“ Raffine brüllte wie am Spieß, als ein riesengroßer Greifvogel direkt auf sie zusteuerte.
„Wie war das eben? Die greifen uns nicht an? Von wegen! Dieses Ungeheuer will mich fressen!“, schrie Raffine wieder und wieder.
Überall um sie herum erklangen gellende Entsetzensschreie und es herrschte ein totales Chaos. Auf einmal ließ sich der überdimensionale Greifvogel neben Raffine nieder, um damit zu beginnen, die Seile an ihren Händen und Füßen zu zerbeißen. Als Raffine einen kurzen, panischen Seitenblick auf Har warf, registrierte sie, dass dort gerade dasselbe vor sich ging. Und wo waren denn eigentlich die Hyksos abgeblieben?
Mit ihren allerletzten Kraftreserven zog sie an den Seilen und sie hatte Glück. Inzwischen waren sie schon so weit angeknabbert, dass sie sich losreißen konnte. Blitzschnell sprang sie auf, um sich umzuschauen. In sämtlichen Richtungen waren Vögel über Vögel zu sehen, die die Hyksos von ihnen fort trieben und die es den Gefangenen dadurch ermöglichten, sich zu befreien.
Nur wenige Sekunden später sah sie Har links von ihr auf Neferafin und die anderen zu rennen. Dabei hob er einen Dolch auf, den wahrscheinlich einer der Hyksos verloren hatte. Mit diesem begann er, den Vögeln dabei zu helfen, die Seile zu durchzutrennen.
In diesem Augenblick wurde der Himmel zum zweiten Mal schwarz und der nächste Vogelschwarm flog auf sie zu. Aber was war das? Diesmal hielten alle Vögel etwas in ihren Krallen. Sie steuerten direkt auf die Gruppe der Gefangenen zu und ließen kleine Säckchen auf die Erde fallen, in denen es lautstark klimperte. So schnell wie der Wind spurtete Raffine zu einem dieser Säckchen, um es aufzuheben. Mit vor Aufregung zitternden Händen versuchte sie gerade, es zu öffnen, als hinter ihr ein ohrenbetäubender Knall ertönte, der sie erschrocken herumfahren ließ. Direkt neben ihr war einer ihrer Schilde abgeworfen worden. Nachdem sie ihn aufgehoben hatte, schaute sie in den kleinen Beutel hinein. Maßlos verblüfft entdeckte sie darin zahllose kleine Kugeln und eines ihrer Zielrohre. Sie richtete ihren Blick zum Himmel hinauf und rief: „Danke! Danke! Danke! Tausend Dank!“
Mittlerweile hatten auch die anderen ihre Waffen aufgesammelt, mit denen sie auf den Nil zu rannten. Als sie etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, bemerkten sie plötzlich unzählige Gestalten, die ihnen entgegenkamen. Erst beim genaueren Hinsehen erkannten sie Tausende von Krokodilen, Haleritas, Kobras und ägyptischen Kämpfern, die von Taris angeführt wurden.
Wie eine einzige gigantische Wand strömte diese Armee auf den großen Platz zu.
„Ihr seid ja tatsächlich alle da! Um ein Haar wärt ihr aber ein bisschen zu spät dran gewesen, weil wir eben schon so gut wie tot waren.“
Vor grenzenloser Freude und gleichzeitig vor rasender Wut fühlte sich Raffine wie aufgezogen.
„Bedauerlicherweise ging es nicht schneller, da wir die Boote erst noch in ein anderes Versteck bringen mussten. Die Kobras haben uns nämlich gewarnt. Mir nach!“, rief Taris in die Menge, während er auf das Heer der Hyksos zustürmte.
Durch den Angriff der Vögel waren die Hyksos bereits eingekesselt. Mit markerschütternden Kampfschreien stürzten sich alle auf die Hyksos. Zur gleichen Zeit trieben die Vögel auch weiterhin alle Hyksos, die sie entdecken konnten, auf einer immer kleineren Fläche zusammen. Diesmal nahm niemand mehr Rücksicht darauf, ob die Feinde lebend gefangen genommen wurden oder ob sie auf dem Schlachtfeld starben. Für jeden Einzelnen ging es jetzt einfach nur noch um Leben und Tod und darum, diesem bösen Spuk ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Bei diesem erbitterten Kampf blieb keiner unverletzt und trotzdem schienen alle plötzlich über Bärenkräfte zu verfügen, weil sie nichts anderes mehr im Sinn hatten, als die Hyksos endgültig zu besiegen. Nachdem der blutige Kampf auf beiden Seiten bereits unzählige Opfer gefordert hatte, wendete sich das Blatt schlagartig und Har führte den letzten Hyksos als seinen Gefangenen ab. Bei diesem handelte es sich um den Priester Resul.
Resul lag auf dem Boden und Har kniete mit einem Dolch in der Hand vor ihm.
„Steh auf! Du bist es nicht wert, dass man es dir leicht macht, indem man dich tötet“, schrie Har ihn an, während er ihn gewaltsam auf die Füße stellte. Anschließend hielt er ihn fest und suchte nach einem Seil, mit dem er ihm die Hände fesseln konnte. Als er gerade etwas seitlich von Resul stand, zog dieser einen weiteren Dolch aus seinem Gewand hervor. Noch im selben Moment holte er auch schon aus, um Har den Dolch in den Rücken zu stechen.
Zack! Kurz bevor Resul seinen hinterlistigen Plan zu Ende führen konnte, durchbohrte ein Pfeil seine Brust und Resul schrie auf. Har drehte sich erschrocken zu ihm um und bekam eben noch mit, wie Resul zu Boden fiel, wobei er fluchend vor sich hin zischte: „Sie hat das Prinzip tatsächlich begriffen!“
„Warst du nicht derjenige, der mich gelehrt hat, dass man immer noch einmal genau überprüfen sollte, ob der Gegner auch wirklich außer Gefecht gesetzt ist?“
Mit Pfeil und Bogen in ihren Händen stand Raffine ein Stückchen von Har entfernt auf dem Schlachtfeld. Offensichtlich wollte sie ihn bei dieser Bemerkung anlächeln, was ihr aber außerordentlich schwerfiel, weil sie vollkommen erschöpft war.
„Darüber reden wir später.“
Har lief auf Raffine zu, um sie zu umarmen. Über ihre Schulter hinweg warf er noch einen letzten eingehenden Blick auf Resul, der leblos am Boden lag. Obwohl ihn dies spürbar beruhigte, schien etwas seine Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb ließ er Raffine los und ging noch einmal zurück zu Resul, um nach der Papyrusrolle zu greifen, die bei seinem Sturz zur Hälfte aus ihrem Versteck in seinem Gewandt herausgerutscht war. Ohne sie näher zu betrachten, steckte er sie ein. Mit dem, was auf ihr geschrieben stand, würde er sich zu einem passenderen Zeitpunkt beschäftigen.
Kurz darauf setzten sich Har und Raffine ein wenig abseits auf zwei große Steine. Völlig entkräftet beobachteten sie, wie die am Leben gebliebenen Hyksos abgeführt wurden. Da Taris und seine Mitstreiter erst in der entscheidenden Phase des Kampfes zu ihnen gestoßen und demzufolge noch wesentlich besser in Form waren, ging der Abtransport der nahezu fünftausend Gefangenen auf die Boote überraschend schnell vonstatten.
„So sieht also eine sprichwörtliche Rettung in der allerletzten Sekunde aus“, bemerkte Raffine trocken, als sie alle auf die Boote zurückgekehrt waren.
Inzwischen hatten Uaret und Utho schon damit begonnen, sich um die Verletzungen ihrer Leute zu kümmern. Einer nach dem anderen ließ sich von den beiden mit Salben einreiben und mit Heilkräutern behandeln, während die Flotte die Segel setzte, um auf Rhaktotis zuzusteuern. Bis dorthin würden sie nicht allzu lange unterwegs sein.
Trotz allem, was sie an diesem schicksalhaften Tag erlebt hatte, wollte Raffine auch auf dieser Strecke von Anfang an die Gelegenheit nutzen, die Landschaft an den Ufern in sich aufzunehmen. Noch vor ihrer Abfahrt erkannte sie in der Ferne ein Dorf und einen Hafen. Für sie war es nahezu unglaublich, dass hier noch alles so natürlich und nicht restlos zugebaut war. Da die Hyksos auf die für sie vorgesehenen Boote gebracht werden mussten, blieb ihr aber leider nicht viel Zeit für ihre Betrachtungen. In einer scheinbar endlosen Kolonne wurden sie gerade an Bord eines Bootes geführt.
„Vergesst nicht, genug Wasser und Lebensmittel auf ihre Boote zu bringen, damit sie nicht verhungern und verdursten!“, rief Har, der nun doch ein wenig Mitleid mit seinem Volk verspürte. Bis zum Schluss überwachte er das Beladen der Boote.
„Stoßt sie vom Ufer ab!“
Vom Bug seines Bootes aus erteilte Har den anderen auch weiterhin seine Befehle. Sobald sie die Küste erreicht hatten, ließ Har die Boote mit den Hyksos einkreisen, um sie in einer V-förmigen Formation so weit wie möglich auf das Meer hinaus zu treiben. Direkt im Anschluss daran traten sie die Rückfahrt nach Rhaktotis an.
„Habe ich euch eigentlich schon erzählt, dass genau hier an dieser Stelle eines Tages der größte Hafen von Ägypten erbaut wird? Dort wird ein Leuchtturm stehen, von dem aus man meilenweit auf das Meer blicken kann. Für euch liegt das zwar noch in der Zukunft, für mich aber längst in der Vergangenheit. Beispielsweise gibt es diesen Leuchtturm in meiner Zeit schon seit Langem nicht mehr. Ich würde euch aber ernsthaft dazu raten, bereits jetzt einen ähnlichen Turm zu errichten, damit ihr rechtzeitig gewarnt seid, wenn unerwünschte Schiffe Kurs auf Rhaktotis nehmen. An eurer Stelle würde ich den gesamten Ort zusätzlich mit hohen Mauern schützen und den Hafen für die Sicherheit eurer Boote noch wesentlich weiter ausbauen“, schlug Raffine mit dem für sie typischen, verschwörerischen Zwinkern vor.
Daraufhin schauten sie alle bewundernd und zustimmend an.
Einige ihrer Boote ließen sie im Hafen von Rhaktotis zurück, während sich der Rest auf die Heimreise begab. Nach einer für Raffines Geschmack viel zu kurzen Fahrt kamen sie in Memphis an. Von den hinter ihnen liegenden Strapazen völlig erschöpft und restlos erledigt, gingen sie von den Booten aus auf die Stadt zu. Auf dem gesamten Weg hielt Har Raffine so fest, als ob er sie sein Leben lang nie wieder loslassen würde.
Vor der Stadtmauer blieb Laros abrupt stehen.
„Für mich und für mein Gefolge wird es jetzt Zeit, euch zu verlassen. Wenn ihr unsere Hilfe aber später noch einmal für den Kampf gegen die Sphinxe benötigen solltet, werden wir natürlich sofort zur Stelle sein.“
Alle sahen Laros traurig an.
Während Raffine ihn besonders innig umarmte, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Vielen lieben Dank für alles!“
Laros strich ihr sanft über den Kopf und küsste sie auf die Stirn.
„Es war mir ein Vergnügen!“
Nach und nach verabschiedeten sich auch die anderen von Laros und jeder sprach ihm seinen aufrichtigen Dank aus.
Als sie kurz darauf in die Stadt kamen, schauten sie sich mit gemischten Gefühlen um. Da das Zentrum noch immer einem soeben verlassenen Schlachtfeld glich, holten sie ihre Erinnerungen mit aller Macht ein. Ohne ein einziges Wort zu sagen oder auch nur einen Schritt weiterzugehen, bildeten sie im stummen Einvernehmen einen kleinen Kreis.
Erst die Einwohner der Stadt, die mit Unmengen von Speisen und Getränken auf sie zu rannten, vertrieben die feierliche Stille. Im Handumdrehen wurde der große Platz in einen Festsaal verwandelt und die Kämpfer ließen sich kraftlos nieder.
„Heute werde ich garantiert so fest schlafen wie ein Murmeltier“, verkündete Raffine, während sie sich den Mund vollstopfte und dazu ein Glas Wein nach dem anderen trank.
„Was für ein Abenteuer! Mir wird jedenfalls niemand mehr weismachen können, dass es in eurer Zeit langweilig gewesen wäre.“
An diesem denkwürdigen Abend lachten alle viel und laut. Noch bis tief in die Nacht hinein feierten sie ihren Sieg. Danach fielen sie todmüde in ihre Betten.