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Stille erfüllte die Eingangshalle. Es war eine kalte und dunkle Stille, wie man sie nur aus leer stehenden Häusern kannte. Nirgends brannte Licht und der Geruch von Staub und abgestandener Luft verriet, dass im Haus seit Tagen niemand mehr Türen bewegt oder Fenster geöffnet hatte. Wir waren allein.

Und wir waren zu spät gekommen.

Neben mir atmete Mats einmal tief durch, weil ihm offensichtlich der gleiche Gedanke durch den Kopf schoss. Ich drehte mich zu Daan und Bonsky um und versuchte, die zusammengezogenen Augenbrauen und Stirnfalten der beiden Männer zu deuten. Noch bevor ich ansetzen konnte, ihnen etwas zuzuraunen, hielt sich Bonsky einen ausgestreckten Zeigefinger vor die Lippen.

Langsam ging er auf die Freitreppe der Eingangshalle zu, ohne dass seine Schuhsohlen dabei auch nur ein einziges Geräusch auf dem Boden hinterließen. Anders als erwartet stieg Bonsky nicht die Treppe hinauf, sondern bog rechts in die Salons ab, in denen Syrell de Richemont noch vor wenigen Monaten sein Duftmuseum ausgestellt hatte. In Reihen standen schnörkelige Parfümflakons hinter den Glasscheiben der Vitrinen. Die Erinnerung an meinen letzten Besuch in diesen Räumen stach mir in den Magen. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte mir Elodie hier den »Untertänige Wolke«-Duft verabreicht und mich zu einer ihrer Marionetten werden lassen.

Bonsky wies uns mit einem Handzeichen an, stehen zu bleiben. Wie immer sagte der Riese dabei kein einziges Wort, aber das musste er auch nicht. Wir kannten seine unbeweglichen Gesichtszüge gut genug. Gleichzeitig trieb mir seine Größe und der bodenlange dunkle Mantel immer noch genug Vorsicht ein. Auch wenn ich wusste, dass Bonsky voll und ganz auf unserer Seite stand.

Ich sah mich um. Der erdig-muffige Geruch, der früher die Räume der Ewigen Residenz erfüllt hatte, drang zum Glück nur noch schwach zu mir. Seit die Familie de Richemont hier nicht mehr wohnte, schien der Duft sich allmählich zu verziehen.

Allerdings war mir sowieso längst übel. Das lag jedoch vor allem am »Odeur von jedem Ort« – Daans Reiseduft, der uns direkt von unserem Zuhause hierhergebracht hatte. Anfangs hatte ich die Idee wahnsinnig toll gefunden, dass Daan nur einen Flakon öffnen musste und wir in wenigen Minuten überall sein konnten, wo wir wollten. Doch leider verschlimmerten sich mit jeder Anwendung die Nebenwirkungen. Sie bestanden zwar nur aus Übelkeit und Kopfschmerzen, aber nach ein paar Reisen hintereinander waren sie kaum noch auszuhalten.

Wie auf Katzenpfoten schlich Bonsky weiter zwischen den Vitrinen entlang. Es war ein seltsamer Anblick, wie sich dieser Berg von einem Mann so federleicht bewegte. Außerdem schien sich Bonsky hier besser auszukennen, als ich vermutet hatte. Was mich jedoch nicht sonderlich wunderte. Bonsky war ein Buch mit sieben Siegeln. Niemand von uns, außer vielleicht Daan und Willem, wussten viel über ihn. Wir hatten keine Ahnung, woher Bonsky kam, wo und wie er lebte oder was in ihm vorging. Er war ein Rätsel, nach wie vor. Trotzdem vertraute ich ihm blind.

»Was ist los?«, flüsterte Mats Bonsky hinterher und durchbrach als Erster die angespannte Stille.

Bonsky antwortete nicht, sondern verharrte einen weiteren Moment. Es schien, als wollte er sich vergewissern, dass außer uns wirklich niemand hier war. Schließlich nickte er in Richtung der zweiten Tür, die in den Salon führte, und warf uns einen Blick zu, als müssten wir sofort verstehen, was er sagen wollte.

»Das war ja zu befürchten«, hörte ich Daan hinter mir sagen. Ich beobachtete, wie er langsam auf Bonsky zuging und sich dabei seine Brille höherschob. »Edgar ist nicht mehr hier, aber er hat uns offenbar erwartet.« Daan zeigte auf den Boden, auf dem ich rein gar nichts entdeckte. Auch Mats warf mir einen irritierten Blick zu.

Ich bückte mich, um mehr zu erkennen und … da!

»Das gibt’s doch nicht.« Auf Kniehöhe erspähte ich eine halb durchsichtige Schnur, die im Türrahmen spannte.

»Was ist denn?«, fragte Mats und kam näher.

Ich hielt ihn am Arm zurück, damit er nicht direkt hineinstolperte. »Edgar hat eine Duftfalle ausgelegt.« Dann drehte ich mich zu Daan. »Was denken Sie, was für ein Duft das ist?«

Der alte Duftapotheker strich sich durch sein weißes kurzes Haar. »Besser, wir finden es gar nicht erst heraus.«

Bonsky kniete sich dicht ans Ende der Schnur und klappte eine ebenso gut getarnte Kiste auf. Ein undurchsichtiger Flakon ohne Etikett befand sich darin, der höchstwahrscheinlich mit irgendeinem unserer Duftapothekendüfte befüllt worden war.

Es sah nach einem komplizierten Mechanismus aus, der sich hinter den halb durchsichtigen Schnüren verbarg. Stolperte man hinein, zog sich mittels einer Vorrichtung, gut versteckt in der Kiste, der Korken aus einem Flakon. Und daraufhin strömte dann der Duft heraus, bevor man es überhaupt bemerkte.

»Dieser kleine Teufel«, nuschelte Daan. Ein Karussell aus Sorgen schien sich in seinem Kopf zu drehen und die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer. Er hatte die Hände in seiner braunen Tweetjacke versenkt und ließ den Blick umherschweifen. »Edgar muss sich wirklich lange und ausgiebig vorbereitet haben, um das in so kurzer Zeit alles umzusetzen.«

Da hatte Daan recht. Vor gerade einmal zwei Wochen hatte Edgar uns noch mit seiner Mutter Helene zu Hause besucht. Ich hatte ihn bereitwillig mit in die Duftapotheke genommen, ihm die magischen Flakons gezeigt und geglaubt, ihm damit eine Freude zu machen. Schließlich war Edgar Willems Enkel – und Willem, der ehemalige Gärtner der Villa Evie, gehörte fast schon zur Familie. Warum nicht also auch Edgar?

Doch ich hatte mich in ihm getäuscht. Er hatte nicht nur unsere Duftapotheke zerstört, er hatte uns auch alle in Gefahr gebracht. Und nach allem, was er zuletzt gesagt hatte, war das wohl erst der Anfang.

Während Daan noch immer seinen Kopf schüttelte, drehte Bonsky sich so lautlos um, wie es auch sonst seine Art war, und ging hinaus aus dem Duftmuseum, zurück in die Eingangshalle.

Daan sah aus, als versuchte er, seine Gedanken abzuschütteln, bevor er uns zunickte, damit wir ihm folgten. »Bleibt immer dicht hinter uns. Ich fürchte, Edgar hat noch mehr Überraschungen versteckt, mit denen wir nicht rechnen. Seid bitte ganz besonders vorsichtig!«

Während ich Bonsky und den anderen hinausfolgte, ärgerte ich mich, dass wir es nicht geschafft hatten, Edgar abzupassen. Zum zweiten Mal war er uns nicht nur entwischt, sondern ganz offensichtlich ein paar Schritte voraus. Dabei hatten wir nach dem Duftturnier in England fast vier Tage nach Edgar gesucht, bevor wir wieder nach Hause in die Villa Evie zurückgekehrt waren. Und in der Zeit hatte Edgar gemütlich Duftfallen für uns aufgestellt und sich auf unsere Ankunft hier vorbereitet.

Innerlich stampfte ich mit den Füßen auf und hätte laut fluchen können. Hätte ich doch nur nicht so lange für meinen »Orakel-Dampf« gebraucht! Dann hätte uns der Duft früher verraten, dass wir in der Ewigen Residenz nach Edgar suchen mussten.

Doch ich hatte viel zu lange knobeln müssen, einfach weil ich mich kaum konzentrieren konnte. Das viele Hin und Her der letzten Tage und die Ungewissheit, wo Edgar nur steckte, hatte mich völlig erschöpft. Außerdem machte nicht nur ich mir Sorgen um Ella und Raffael, die mit uns am Duftturnier teilgenommen hatten und nun in Edgars Gewalt steckten. Ging es ihnen wenigstens einigermaßen gut? Hatte Edgar sie noch immer mit der »Untertänigen Wolke« unter Kontrolle?

Auch die regelmäßigen Anrufe der Schule und drängelnden Fragen nach Mats und mir laugten mich langsam aus. Und somit war ich mir fast sicher gewesen, nicht mal mehr einen letzten Funken Energie in mir übrig zu haben, um einen neuen Duft zu entwickeln.

Doch als ich schon fast aufgeben wollte, war ich in Daans alter Blumensammlung über ein verstaubtes Glas mit getrockneten Löwenzahnblüten gestolpert. Obwohl die Blüten bereits so alt waren, dass man kaum noch ihre frühere gelbe Farbe erkannte, hatte es in meinem Hirn plötzlich klick gemacht. Trotz des Staubes und den Jahren, die die Blüten auf dem Buckel hatten, verströmten sie noch einen kaum wahrnehmbaren Geruch. Er war genauso unaufdringlich, wie es eben ein guter Spion auch war.

Und so hatte ich endlich herausfinden können, dass ich aus den Extrakten von frischem Efeu mit Löwenzahn, einem Tropfen Windröschen-Öl und ein paar weiteren Zutaten eine Art Spionageduft entwickeln konnte.

Nur leider hatte ich dafür offensichtlich zu lange gebraucht.

Immer noch wütend auf mich selbst, schlich ich den anderen durch die Flure der Ewigen Residenz hinterher. Ich versuchte, mich wieder zu konzentrieren, während mein Blick an den meterhohen Gemälden, Skulpturen und goldenen Stuckverzierungen vorbeiglitt. Und obwohl sicherlich schon lange niemand mehr den Boden poliert hatte, glänzte er doch wie neu.

Mittlerweile ging Daan voran. Immer wieder entdeckten wir Edgars nahezu unsichtbare Duftfallen, in die ich zweimal fast hineingestolpert wäre, hätte Bonsky mich nicht in letzter Sekunde festgehalten. Edgar hatte die Fallen wirklich gut getarnt.

»Sollten wir mal eine auslösen?«, schlug ich vor. »Vielleicht verraten uns die Fallen ja irgendwas … über eine ungewollte Duftspur oder so.«

Daan blieb so abrupt stehen, dass ich fast in ihn hineingestolpert wäre. »Eine winzige Chance besteht, dass uns das weiterhelfen könnte. Aber es ist nur eine klitzekleine Chance im Vergleich zu den sicherlich nicht geringen Gefahren, die wir dafür in Kauf nehmen würden.« Mit schmalen Augen sah er mich an. »Wir müssen jetzt äußerst behutsam vorgehen, Luzie! Edgar ist schwer einzuschätzen, nach wie vor.«

»War ja nur so eine Idee«, nuschelte ich. »Wir machen schließlich die ganze Zeit nichts anderes, als Edgar hinterherzulaufen und das zu tun, was er sowieso von uns erwartet.«

Ich seufzte nur, als Daan mir einen tadelnden Blick zuwarf und uns weiterwinkte, ohne noch mal auf meinen Vorschlag einzugehen. Natürlich verstand ich, was er meinte. Es war irrsinnig, absichtlich eine der Duftfallen auszulösen, ohne zu wissen, was passieren würde. Nur irgendetwas mussten wir doch tun! Wir konnten uns nicht wochenlang von Edgar wie in einer Schnitzeljagd durch die Gegend führen lassen. Trotzdem biss ich mir auf die Lippen und sagte erst mal nichts mehr.

Wir liefen inzwischen einen der Flure im ersten Stock entlang. Mir war kalt und das fehlende Licht der Lampen ließ mich noch ungeduldiger werden.

Daan öffnete die letzte Tür am Ende des Flures. Das knarzende Geräusch ließ uns nach der Stille für einen Moment zu Statuen erstarren. Nur Bonsky kümmerte sich nicht weiter um den Krach, den die Scharniere verursachten, und trat zuerst in den Raum ein.

Vor einer Fensterfront thronte ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Das hier war sicher Syrell de Richemonts altes Arbeitszimmer.

»Hervorragend!« Daan winkte uns näher an den Schreibtisch heran. Mit einem Lächeln drehte er sich zu mir. »Du hast natürlich recht, Luzie. Wir können Edgar nicht nur hinterherlaufen. Deshalb habe ich mir auch etwas überlegt.« Er platzierte seinen Duftkoffer auf dem Schreibtisch und ließ die zwei altmodischen Schnallen aufklacken. Ich stellte mich neben ihn und betrachtete die Duftfläschchen, die im Koffer bunt sprudelten.

»Schauen wir mal, was sich hier wohl vor – sagen wir vier – Tagen noch zugetragen hat.« Daan zwinkerte, griff sich einen schmalen zartrosa Flakon, in dem es blubberte, und hielt ihn in die Höhe.

Den Flakon erkannte ich sofort. Es war einer seiner Zeitverschiebungsdüfte, den Hanne einmal heimlich in der Duftapotheke geöffnet hatte, um etwas aus der Vergangenheit besser verstehen zu können. Gespannt sah ich zu Daan, der langsam den Korken des »Dufts durch alle Zeiten« öffnete. Hellrosa Duftwolken wehten heraus und nebelten uns ein. Ein Fliedergeruch stieg mir in die Nase. Mehrere Sekunden lang musste ich meine Augen schließen, um die einzelnen Duftnoten einzuatmen und auf mich wirken zu lassen.

Doch da hörte ich schon die Stimmen der Personen, die sich hier vor Kurzem aufgehalten haben mussten. Ich öffnete meine Augen und sah direkt in Edgars Gesicht, das wie eine unscharfe Projektion vor mir flimmerte. Es war wirklich genau wie damals, als Hanne den Flakon geöffnet hatte. Auch Edgar sah so aus wie vor drei Wochen, als ich noch gedacht hatte, er wäre mein Freund. Als er uns noch nicht verraten hatte. Sein kantiges Gesicht, das von dunklen Locken eingerahmt wurde, wirkte so erwachsen und strahlte noch mehr von dieser bedrohlichen Selbstsicherheit aus, die mir während des Turniers bereits eine Gänsehaut verursacht hatte.

»Die Vorkehrungen sind getroffen«, drang Edgars Stimme zu mir, während sich diese halb durchsichtige Version von ihm im Schreibtischsessel zurücklehnte. Er klappte ein Buch zu, schob es beiseite und blickte schließlich an mir vorbei. Hinter meinem Rücken hörte ich ein Geräusch, etwas bewegte sich dort. Sofort drehte ich mich um und entdeckte einen weiteren halb durchsichtigen Mann, der auf den Schreibtisch zukam. Daan trat einen Schritt zurück, damit die flimmernde Erinnerung nicht wie ein Geist durch ihn hindurchlief.

Der Mann war noch jung. Er trug Jeans sowie ein Poloshirt anstelle einer Dienerkluft, obwohl ich hätte schwören können, dass er einer der früheren Angestellten in der Ewigen Residenz war. Trotzdem hielt er – genau wie früher – ein Tablett vor sich, auf dem ein Flakon stand. Er stellte es vor Edgar auf dem glänzenden Holz des Schreibtisches ab, direkt neben Daans Duftkoffer.

Edgar gab einen zufriedenen Laut von sich und griff sich den Flakon. Ich überlegte, welcher Duft das wohl war, musste aber zugeben, dass ich keine Ahnung hatte. Der Flakon wirkte seltsam beliebig. Durch das Geflirre erkannte ich nicht mal, ob er eine dunkelblaue, graue oder braune Farbe hatte. Ich sah Daan von der Seite an, aber der verzog keine Miene, sondern blickte konzentriert auf das, was sich vor uns abspielte.

Der flimmernde Edgar schwenkte den Flakon über sich im Licht. »Wir haben es geschafft. Jetzt müssen wir nur noch …«

Ich zuckte vor Schreck zusammen, als auf einmal eine Duftwolke die Worte von Edgars halb durchsichtiger Erscheinung mitten im Satz verschluckte und alles im Nebel verschwand. Ein paar Sekunden lang hörten und sahen wir nichts mehr, bis die Duftwolke wieder verflog und sich das flirrende Bild vor uns leicht versetzt weiterbewegte.

Was war das denn?, wunderte ich mich. Doch bevor ich mir erklären konnte, was gerade passiert war, hallte Edgars Stimme aufs Neue durch den Raum.

»Unsere neue Zeitrechnung kann beginnen. Alles wird sich endlich verändern. Absolut alles!« Mit Schwung erhob er sich und umrundete den Schreibtisch. »Also gut. Brechen wir auf. Gib den anderen Bescheid, dass sie die Residenz leer zu räumen haben. Ich werde in der Zwischenzeit sämtliche Vorbereitungen treffen. Und übrigens: Gute Arbeit!« Im Vorbeigehen klopfte Edgar dem Mann mit dem Tablett auf die Schulter. Sofort legte sich ein seltsamer Ausdruck über das Gesicht des jungen Mannes. Ein Ausdruck, den man von kleinen Kindern kannte, wenn man sie für etwas lobte. Der junge Mann schien wegen Edgars Worten tatsächlich vor Stolz zu platzen.

Kurz vor der Tür drehte sich Edgar noch einmal um und sein Blick wanderte genau in die Richtung, in der ich stand. Fast glaubte ich, dass er mich ansehen würde, aber das war natürlich Schwachsinn. Edgar war ja nicht wirklich in diesem Raum, wir beobachteten nur Teile einer Erinnerung.

»Sorgt dafür, dass alles lupenrein ist. Ich bin mir sicher, dass unsere Freunde schon bald hier ankommen werden, und dann wollen wir ja nicht, dass sie etwas finden, was sie nichts angeht, nicht wahr?«

Edgar lächelte. Er zwinkerte sogar – während er weiter in meine Richtung blickte. Und dann, ganz langsam, löste sich seine Erscheinung im Nebel auf, als wäre er nie da gewesen.