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Obwohl ich schon seit zwei Stunden wieder zu Hause war, dröhnte mir immer noch der Kopf. Wenigstens hatte die Übelkeit nachgelassen und ich war wieder in der Lage, auf Bennos Fragen zu antworten. Ich drückte ihn noch einmal fest an mich. Seit dem Turnier in England fühlte ich mich schrecklich, wenn ich nicht auf meinen kleinen Bruder aufpasste.
»Autsch!«, gab Benno allerdings nur von sich, weil ihm meine Umarmungen zu fest und auch zu lästig waren. Für ihn war ich gar nicht weg gewesen, so schnell hatte uns das »Odeur von jedem Ort« mal eben nach Paris und wieder zurückgebracht.
Also ließ ich von ihm ab und wuschelte ihm bloß durch die Haare.
»Möchtest du noch einen Nachschlag?«, fragte mich Pa.
»Immer!«, antwortete ich und hielt ihm gleichzeitig mit Benno meinen Teller hin, den er – auch wie immer – großzügig mit einer neuen Portion Milchreis füllte.
Pa und Ma standen noch unter dem Einfluss des »Sorglose Note«-Dufts, was mein schlechtes Gewissen fast ins Bodenlose trieb. Es war kaum zu ertragen, wie wenig sich die beiden um irgendetwas Gedanken machten. Der Duft hatte ihnen alle Sorgen buchstäblich aus dem Kopf geblasen. Es war zwar sehr praktisch, sich seinen Eltern gegenüber für nichts mehr rechtfertigen zu müssen und einfach selbst entscheiden zu können, was man tat. Trotzdem fühlte ich mich schuldig, weil sie selbst nicht wussten, was mit ihnen passierte.
Immer wieder erklärte ich mir deshalb im Stillen, dass ich das alles ja nur tat, damit wir Ella und Raffael aufspürten und weil ich nicht gleichzeitig hier sein und zur Schule gehen konnte.
Niemals hätten wir so etwas getan, wenn sich die Situation nicht mit einem Mal so verschlimmert hätte. Aber richtig fühlte es sich trotzdem nicht an. Manchmal hatten selbst die besten Absichten Nebenerscheinungen, die alles andere als gut waren.
Während ich mir den nächsten Löffel Milchreis in den Mund schob, nahm ich mir vor, meinen Eltern so etwas nie wieder anzutun. Ich würde eine andere Lösung finden, so bald wie möglich. Mit dem Versprechen im Kopf lauschte ich weiter Mas und Pas Geplauder, dann schluckte ich meinen Milchreis herunter und stand auf.
»Das war lecker, Pa!«, sagte ich und zog Benno trotz Protest mit in die Höhe. »Wir gehen noch mal weg, äh … frische Luft schnappen.«
»Aber klar.« Mit vollen Backen lächelte Pa zurück und kaute weiter. »Macht einfach, was ihr wollt. Alles andere ist pure Zeitverschwendung.«
Unter normalen Umständen hätte ich gelacht und mich dafür bedankt, niemals mehr im Haushalt helfen zu müssen. Nur leider nicht witzig gemeint.
Ma blätterte längst wieder in ihrer Zeitung. Wenigstens das hatte sich nicht verändert. Selbst wenn sie sich keine großen Sorgen mehr über die Nachrichten machte, immerhin las sie sie noch. »Habt Spaß!«, flötete sie nur, ohne aufzublicken, während wir schon aus der Küche waren.
»Ich möchte aber noch einen Teller Milchreis«, beschwerte sich Benno und versuchte, mich im Flur aufzuhalten. Doch ich schüttelte nur in meiner strengsten Große-Schwestern-Art den Kopf.
»Keine Zeit mehr dafür, Benno. Du kannst später noch was essen, ja? Wir müssen jetzt erst mal in die Duftapotheke.« Noch vor Kurzem hätte ich niemals in normaler Lautstärke über unser Geheimnis gesprochen. Aber Ma und Pa hörten sowieso nur noch das, was sie hören wollten.
»Na guuut«, stöhnte mein kleiner Bruder und trottete mir hinterher. Ich musste zugeben: So klein war er gar nicht mehr. Mittlerweile hörte er sehr schnell aus meinem Tonfall heraus, ob etwas wichtig war oder nicht.
Im Gewächshaus, das direkt hinter unserer alten Villa lag, war alles genauso wie immer. Das Einzige, was sich hier veränderte, war die unterschiedliche Blütezeit der zahllosen Pflanzenarten. Nach allem, was passiert war, liebte ich das Gewächshaus noch viel mehr. Alles änderte sich in einem regelmäßigen Wechsel. Farben und Düfte erfüllten das Glashaus je nach Jahreszeit mit neuen Gerüchen. Auf die Pflanzen war Verlass. Sie wuchsen immer wieder aufs Neue bunt empor, bis sie zerfielen, um in ihrer nächsten Saison ein weiteres Mal aufzuerstehen.
Mit diesem Gefühl von Unsterblichkeit versuchte ich, mich auf die Duftapotheke vorzubereiten. Auch sie würde neu erblühen, sagte ich mir. Genauso wie die Pflanzen würde sie wiederauferstehen mit all ihrem Zauber und Strahlen.
Benno ging dicht hinter mir, als ich aus dem Geräteschuppen die Stufen hinunter in den Geheimgang lief, der uns zur Duftapotheke führte. Wir waren diese Schritte so viele Male gegangen, nur heute fielen sie schwer. Tief atmete ich aus, als ich die Tür öffnete, hinter der sich die Duftapotheke versteckte.
Ich wartete darauf, dass mich gleich der vertraute Duftmischmasch begrüßen würde. Und das tat er auch. Unsere Apotheke roch so wunderbar wie immer. Doch schon im nächsten Moment stockte ich. Am liebsten hätte ich bei dem Anblick die Augen geschlossen, nur um nicht zu sehen, was vor uns lag. Das bunte Sprudeln, Blubbern und Glitzern der vielen Flakons – das alles war immer noch wie weggeblasen.
Der Anblick der Zerstörung, die Edgars Leute hier angerichtet hatten, tat mir jedes Mal aufs Neue fast körperlich weh. Obwohl seit dem Tag unserer Rückkehr aus England bereits zwei Wochen vergangen waren, sah es immer noch schlimm aus. Kaum ein Fläschchen stand an seinem Platz. Und das, obwohl Hanne, die frühere Besitzerin und Erbin der Duftapotheke, jeden Tag zum Aufräumen herkam. Sie hatte sogar Hilfe von Willem und seiner Tochter Helene, doch alles musste so sorgfältig sortiert werden, dass jeder Handgriff ewig dauerte.
»Hallo!«, sagte ich in die graue Stimmung hinein, mit der uns die Duftapotheke unter der Villa Evie empfing.
Außer dem Geräusch von Hannes klackenden Absätzen auf dem Steinboden war es still. Mit müdem Gesicht versuchte sie, die Zerstörung zu beseitigen. Auf meine Begrüßung hin kam sie jedoch gleich in ihrem schwingenden Blümchenrock und mit klimpernden Halsketten auf Benno und mich zu und nahm uns in den Arm. »Wie schön, dass ihr hier seid«, sagte sie und drückte uns dabei ganz fest in die Wärme ihres Körpers, was tatsächlich half, diesen Anblick halbwegs zu ertragen.
»Mir ist kühl!«, hörte ich da eine Stimme in die Stille quäken, bei der sich mir augenblicklich alle Haare auf den Armen hochstellten.
Ich befreite mich aus Hannes Umarmung und drehte mich in Richtung der Stimme. »Was macht die denn hier?«
Auf dem zerschlissenen Samtsessel entdeckte ich Elodie de Richemont. Sie trug wie immer ein Etuikleidchen und ihre langen dunklen Haare sahen tipptopp gebürstet aus.
Ich fasste es nicht. Mit erhobenem Kopf saß sie inmitten unserer Duftapotheke und beschwerte sich ernsthaft darüber, dass ihr kalt war!
Hanne stöhnte nur und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Ich musste sie mitnehmen«, flüsterte sie. »Ich kann sie doch nicht allein bei mir zu Hause rumsitzen lassen.«
Anstelle einer Antwort biss ich mir auf die Lippe, während Hanne sich wieder zu Elodie drehte.
»Dann zieh dir in Zukunft etwas Wärmeres an oder hilf uns einfach aufzuräumen! Durch Bewegung wird einem schön warm. Auch du hast zwei Hände an deinen Armen. Die können sehr nützlich sein, wenn man sie mal benutzt.«
»Entschuldigung?« Elodie hob ihr Kinn und schnalzte mit der Zunge. »Ich bin sicherlich nicht eure Dienstmagd.«
»Nein, sicherlich nicht – auch keine Putzfrau und keine Köchin, ich weiß schon«, presste Hanne hervor. »Trotzdem bist du momentan bei mir zu Gast und musst deshalb leider so leben, wie ich es tue. Und das bedeutet, dass man ab und zu mal aufstehen muss, so lästig das auch sein mag.« Hanne verdrehte die Augen. »Zumindest wenn man nicht verhungern oder im eigenen Chaos versinken möchte. Die Köchin, Putzfrau und Dienstmagd namens Helene Boer hat nämlich mittlerweile gekündigt und steht leider nicht mehr für diese Tätigkeiten zur Verfügung.«
Bevor Elodie irgendeine Antwort von sich geben konnte, öffnete sich hinter mir die Tür.
»Braucht hier jemand vielleicht Hilfe vom bestaussehenden Mann im ganzen Lavendelweg?«
Leon! Oje.
»Bestaussehend und Mann?« Mats lachte und tauchte hinter Leon auf. »Und wovon träumst du nachts, Bruderherz?«
»Aber sicher brauchen wir Hilfe!« Hanne strahlte Leon an. »Die allergrößte Hilfe wärst du mir, wenn du Madame de Richemont einmal ausführen könntest. Ihr ist etwas kühl und von uns hat momentan niemand die Zeit oder Nerven, dieses Problem zu beheben.«
Selbst auf Bennos Gesicht schob sich ein Grinsen, während Leons breites Lächeln im Gegensatz schrumpfte. Etwas unsicher drehte er sich zu Elodie um. »Äh, okay. Draußen scheint die Sonne. Vielleicht ein kleiner Spaziergang im Garten?«
»Eine hervorragende Idee.« Elodie stand aus dem Sessel auf. Dabei warf sie ihre Haare zur Seite und hielt Leon ihren Arm hin. Der schluckte nur und zeigte zur Tür, damit Elodie vorging. Mit einem leicht panischen Blick drehte er sich zu mir.
Ich hob meinen Mundwinkel und hielt ihm einen nach oben gestreckten Daumen hin. Armer Leon. Das würde anstrengend werden. Lieber beschriftete ich die nächsten vier Stunden stapelweise neue Etiketten, als auch nur eine Minute mit Elodie durch den Garten schlendern zu müssen! Aber Leon war zum Glück Leon. Er streckte seine Schultern durch und versuchte, ein Gespräch über das Wetter in Gang zu bringen, während er Elodie aus der Duftapotheke hinausführte. Vom Flur hörten wir noch ein paar letzte holprige Sätze von ihm, dann knirschte der Geräteschuppen und es war wieder leise.
Mit einem belustigten Blick drehte ich mich zu Hanne, die meinen Blick nur mit einem Augenrollen beantwortete, bevor sie wieder ihre Handgriffe aufnahm. Ich ging ein paar Schritte durch die Verwüstung und konnte mich nicht entscheiden, womit ich zuerst anfangen sollte. Am besten, ich kümmerte mich um eins der Regale, in dem noch unsortierte Flakons standen. Ich musste erst mal einen Überblick gewinnen.
Die Tür zum Büro hinter den Regalen stand offen. Dahinter hörte ich die Stimme unseres früheren Gärtners Willem. Ich verstand nicht viel, begriff aber schnell, dass noch jemand hier unten war. Also ging ich auf das Regal zu, dass direkt neben dem Durchgang zum Büro stand. Es war ein kleiner angrenzender Raum, in dem lediglich ein Schreibtisch mit einem Wählscheibentelefon stand und ein Rollschrank mit Daans alten Notizbüchern. Das Büro nutzten wir eigentlich nur als Durchgang zum Labor, in dem wir die Zutaten und unsere Destille zur Duftherstellung aufbewahrten.
Da hörte ich erneut die zweite Stimme undeutlich flüstern. Es war Helene, Willems Tochter und …
… Edgars Mutter.
Seit wir zurück aus England waren, hatte ich noch keinen Satz mit Helene gesprochen. Ich wusste einfach nicht, was ich zu ihr sagen sollte. Und wahrscheinlich ging es Helene ähnlich, nach allem, was Edgar getan hatte. Bestimmt fühlte sie sich als Mutter mitschuldig für seine Taten? Ich wusste es nicht so recht.
»Er hat nicht nur Benno entführt«, hörte ich Willems Worte aus dem Büro. »Versteh das doch! Er hat auch noch zwei andere Kinder unter Einwirkung eines sehr gefährlichen Duftes entführt!«
Nichts als Stille war Helenes Antwort.
Willem seufzte. »Ich kann Edgar nicht helfen, wenn du uns nicht hilfst. Erzähl mir wenigstens, was du weißt. Daan sucht ihn sowieso. Und Bonsky auch. Früher oder später werden sie ihn finden. Das weißt du doch! Und je früher das passiert, desto weniger Schaden kann angerichtet werden.«
»Und woher weiß ich, dass ihr Edgar nichts antut?« Helenes Stimme vibrierte. »Ihr habt ihn doch längst aufgegeben. Ich glaube, ihr werdet keine Rücksicht nehmen, im Falle …«
»Edgar ist mein Enkel!« Willems Stimme klang plötzlich hart. »Vertrau wenigstens mir! Niemand wird Edgar etwas tun. Dafür sorge ich, Helene. Aber …« Willem entwich ein zittriger Atemzug. »Trotzdem müssen ihn aufhalten. Das musst du einsehen.«
Helene holte hörbar Luft. »Also gut. Ich verlasse mich darauf, dass Edgar nichts geschieht.«
»Danke«, sagte Willem nur und ich drehte mich schnell zum nächsten Regal und räumte dort weiter, bevor Willem mich noch beim Lauschen erwischte.