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Elodie hatte genau dasselbe gesehen wie ich. Nachdem wir Daan und Leon von dem Ort erzählt hatten, an dem es salzig roch, ein schwacher Wind wehte, eine fremde Sprache gesprochen wurde und es einen Palast mit komischen Löwenstatuen gab, wurde Daan plötzlich hektisch. Er packte seinen Duftkoffer, griff sich Edgars Buch und ein paar Unterlagen, dann trieb er uns an aufzubrechen.
Wir hechteten ihm hinterher, ohne wirklich den Sinn davon zu verstehen, bis wir vor Hannes Wohnungstür standen. Gleich dreimal hintereinander drückte Daan auf die Klingel. Genervt öffnete Hanne, änderte aber sofort ihren Gesichtsausdruck, als sie Daan erblickte. Hinter ihr betraten wir den engen dunklen Flur.
Aus dem Wohnzimmer drangen Helenes Worte. Sie klangen schrill und ungewohnt laut. Als wir näher kamen, sahen wir, wie Willem neben Helene auf dem Sofa saß und leise auf sie einredete. Helene sah furchtbar aus, als hätte sie zwei Tage am Stück nicht geschlafen. Den beiden gegenüber stand Bonsky am Kamin vornübergebeugt und ließ die Schultern hängen.
»Was ist denn los?«, fragte Leon als Erster von uns, setzte sich in Hannes Samtsessel und blickte zu Willem.
Die drei schwiegen, während auch Daan, Elodie und ich uns setzten.
»Möchtet ihr einen Keks?«, fragte Hanne ins angespannte Schweigen hinein und reichte eine ihrer Blechbüchsen herum.
Stumm gaben wir sie weiter, auch wenn keiner von uns daran dachte, sich etwas herauszunehmen.
»Ich habe es Willem schon deutlich gesagt«, platzte es plötzlich aus Helene heraus. »Ich helfe euch nur, wenn ihr mir alle versprecht, dass ihr meinen Jungen rettet!« Sie warf Daan einen Blick zu, der herzzerreißend war. Als hinge ihr Leben an der Antwort, die er ihr geben würde.
Ich sah Daan an, dass er sich mehr als unwohl fühlte. »Wir werden alles versuchen, was in unserer Macht steht, damit Edgar nichts passiert«, erklärte er. »Nur … « Daan stockte. »Er tut schreckliche Dinge. Das weißt du, Helene. Er hat diesen Duft eingenommen und er hat zwei Kinder entführt. Wenn er dazu fähig ist … dann weiß ich nicht, ob wir überhaupt noch zu ihm durchdringen können.« Daans Augenbrauen waren so eng zusammengezogen, dass sie hinter seinen Brillengläsern zu verschwinden schienen.
»Edgar ist ein guter Junge!« Helenes Stimme überschlug sich fast. »Wäre damals nicht geschehen, was geschehen ist, wäre nichts von alldem jemals passiert!«
Willem legte seine Hand auf Helenes. »Ich werde Edgar zur Vernunft bringen«, sagte er. »Sicher geht es Ella und Raffael gut bei ihm. Mein Enkel ist kein Monster. Er hat Schlimmes bei der Baronin und den Ewigen erlebt. Seine Kindheit eingesperrt verbringen zu müssen, hinterlässt Spuren. Er hat …« Willems Stimme brach ab und er schien keine Worte mehr zu finden. Sein Blick senkte sich und er schluckte den unausgesprochenen Satz herunter.
»Das mag alles sein«, schaltete sich Daan ein. »Trotzdem müssen wir Edgar stoppen, ganz egal, wie schlecht sich die Ewigen ihm gegenüber auch benommen haben.« Er drehte sich zu mir und mir schoss vor Nervosität alles Blut in den Kopf. Bitte, betete ich in Gedanken, lass mich nicht etwas dazu sagen müssen.
»Luzie.« Daans Stimme klang sanft. »Du bist jetzt zwei Mal in Edgars Gefühle eingetaucht. Sag es uns: Hast du noch Gutes in ihm gespürt?«
Ich schluckte hart und wünschte mir gerade nichts mehr, als dass Mats hier wäre. Ihm wäre sicher irgendetwas eingefallen, wie ich dieser Situation hätte entgehen können. Nur leider war er nicht da … wie so oft in letzter Zeit.
Meine Gedanken zuckten umher. Ich konnte Helene und Willem doch nicht erzählen, was ich in Edgars Gefühlswelt gesehen hatte! Das würde die beiden zerstören. Es hatte sich viel zu furchtbar angefühlt und ich war mir alles andere als sicher, dass Edgar ein guter Junge war. Aber lügen? Das konnte ich erst recht nicht.
»Also … « Nichts als ein Krächzen kam aus meinem Mund heraus. »Nein«, antwortete ich so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.
Eine Stille, schwer wie Blei, legte sich über Hannes Wohnzimmer. Mein Mund war so trocken, dass ich keinen Ton mehr hervorbrachte.
Da schnellte Helenes Blick zu Bonsky, den ich, wie schon so viele Male, fast vergessen hatte, weil nichts als Schweigen von ihm ausging. »Edgar wird den Kindern nicht wehtun!«, sagte sie. »Das weiß ich sicher. Und du weißt das auch! Außerdem schuldest du uns etwas. Nicht nur mir. Sondern auch Edgar!«
Schulden? Was war hier los?
Langsam hob Bonsky den Kopf und erwiderte Helenes Blick. Sein eines Auge, das fast weiß war und von einer Narbe umfasst wurde, bewegte sich nicht. Doch seinem rechten Auge fiel es schwer, Helenes Blick standzuhalten.
»Du hast recht.« Fremd, dunkel und schwerfällig erklang Bonskys Stimme. Erst ein einziges Mal, seit ich ihn kannte, hatte ich sie gehört. Anfangs war ich wie selbstverständlich davon ausgegangen, Bonsky wäre stumm. Erst später war mir klar geworden, dass er nicht sprechen wollte. Auch jetzt sah er so aus, als würde ihm jedes Wort nur unter Anstrengung über die Lippen kommen. »Ich schulde euch alles. Leider weiß ich nicht, wie ich diese Schuld jemals abbezahlen könnte.«
»Dein ständiges Schweigen reicht jedenfalls nicht aus, um irgendetwas wiedergutzumachen.« Helenes Antwort klang kühl. »Du hast uns in diese Situation gebracht. Jetzt hol uns auch wieder da raus!«
»Moment!«, unterbrach Willem seine Tochter und hob beschwichtigend die Hände. »Bonsky hat nicht zu verantworten, dass ihr bei der Baronin in Gefangenschaft gelebt habt. Dein Syrell ist dafür verantwortlich.«
»Mein Syrell?« Helene schnaubte die Worte angewidert hervor. »Er ist und er war nie mein Syrell.«
»Eine kurze Zeit war er das aber schon«, brummte Willem. »Immerhin …«
»Er hat dich über alles geliebt«, hörte ich Bonskys ungewohnte Stimme sagen. »Auch wenn es heutzutage schwer vorstellbar ist, aber Syrell de Richemont hat dich geliebt wie nichts auf der Welt. Er war am Boden zerstört, als du ihn verlassen hast. Sein Kummer hat ihn zu alldem gebracht.«
»Sein kranker Geist hat das!« Helene atmete schwer vor lauter Wut. So kannte ich sie gar nicht. »Und Liebe hat Syrell auch nie empfunden. Nicht für mich und auch nicht für irgendjemanden sonst auf dieser Welt. Möglicherweise war es Besessenheit. Aber Liebe war das ganz sicher niemals. Wer tut jemandem, den er liebt, so etwas an? Niemand! Niemand, der auch nur einen Funken davon fühlt, was Liebe wirklich bedeutet. Liebe schlägt nicht einfach in Grausamkeit um, nur weil man zurückgewiesen wird. Liebe ist bedingungslos. Liebe verlangt keine Gegenleistung, um zu existieren! Davon versteht Syrell aber nichts. Es ging nie um mich. Es ging nur um ihn! Er war verletzt, weil ihn eine ›Einfachgeborene‹ zurückgewiesen hat, nachdem er ihr öffentlich einen Heiratsantrag gemacht hat. Ihn, den ach so bessergeborenen Herrn Syrell de Richemont, hat eine unbedeutende Hausangestellte zurückgewiesen. Seine kranke Eitelkeit war sein Problem. Sein zu mächtiges Ego!« Helene schnappte nach Luft – genau wie ich. Mir wurde ganz kalt, weil ich gar nicht glauben wollte, was ich da hörte. Konnte das wirklich sein?
»Also … dass Syrell ein Monster war, bezweifelt niemand«, sagte Leon in Helenes Pause hinein. »Aber was hat Bonsky damit zu tun? Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Du willst wissen, was Bonsky damit zu tun hat?« Helene funkelte Leon an, als ob sie ihm gleich eine Ohrfeige verpassen wollte. Ihre ganze Wut schien mit einem Schlag aus der sonst so sanften Helene herauszubrechen. »Ich sag es dir. Syrell de Richemont hat mir, als ich in der Ewigen Residenz gearbeitet habe, schöne Augen gemacht. Und ich … ich bin darauf reingefallen. Zumindest eine Zeit lang. Eines kam zum anderen. Leider habe ich erst zu spät bemerkt, dass Syrell ein zutiefst gestörter Mann war. Er musste alles und jeden kontrollieren, nichts durfte ich ohne sein Wissen oder seine Erlaubnis tun. Er litt unter übermäßiger Eifersucht, Kontrollwahn, und wenn ihm irgendetwas, das ich tat, missfiel, verwandelte er sich in ein Monster. Und danach tat er vor aller Welt so, als wäre nichts davon je passiert. Syrell hätte mir noch so viele Liebesschwüre oder Reichtümer bieten können, ich wäre niemals freiwillig bei ihm geblieben. Aber weil er mich genauso auch niemals hätte gehen lassen, konnte ich nur noch davonlaufen.« Helene fixierte Bonsky. »Und nun kommt unser stummer Riese ins Spiel. Darf ich vorstellen: Liam Bonsky, seinerzeit persönlicher Butler von Syrell de Richemont, sollte mich suchen und zurückbringen. Und das hätte er auch getan, hätte ich ihm nicht erzählt, dass ich schwanger war. Schwanger mit Edgar. Immerhin hat Bonsky mich laufen lassen. Er hat sich geweigert, mich zu Syrell zu bringen, doch was er ihm gesagt hat, hat ausgereicht, damit er mich trotzdem gefunden hat. Ein paar andere Männer haben mich stattdessen am nächsten Tag aufgesucht und auf das Anwesen der Baronin geschleppt. Der Rest ist die Geschichte, die ihr bereits kennt. Edgar wurde geboren und wir hätten dort unter dem Einfluss des Ewigkeitsduftes die Jahrhunderte überdauert, wärt ihr nicht gekommen.« Helene sah zu Leon. »Bonsky hat mich verraten. Genau wie er Edgar verraten hat. Das hat er damit zu tun.«
Ich ließ mich zurück ins Sofa sinken. Meine Beine kamen mir auf einmal zu schwach vor, um noch auf ihnen stehen zu können.
Das alles … hatte ich nicht gewusst.
Leons Augen waren tellergroß und er sah zwischen Helene und Bonsky hin und her. »Haben Sie deshalb beschlossen, nicht mehr zu sprechen?«
Bonsky bewegte sich nicht mehr. Er schämte sich, das war nicht zu übersehen. Er schämte sich so sehr, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte.
Doch plötzlich flammte ein Gedanke in mir auf, etwas, das ich bei Helenes wütenden Worten erst nicht verstanden hatte.
»Dann ist Edgar also …«
»Ja, das ist er«, beantwortete Elodie meine nicht gestellte Frage. »Edgar ist mein Bruder.«
»Edgar ist dein was?«, platzte es aus Leon heraus.
»Mein Halbbruder, um genau zu sein.«
»Und seit wann weißt du das?«, fragte ich.
»Schon sehr lange«. Elodie drehte sich zu mir. »Bonsky hat es mir erzählt, nachdem er die Anstellung bei Vater gekündigt hatte.«
»Und was … was hast du getan, nach dem du es … wusstest?«, haspelte ich. »War Edgar zu dieser Zeit denn noch in Gefangenschaft bei der Baronin?«
Elodie wich meinem Blick aus. »Ja. Das war er. Aber niemand durfte darüber etwas sagen. Vater hat es allen verboten.«
Leon hörte gar nicht mehr auf, seinen Kopf zu schütteln. »Er hat seinen eigenen Sohn und dessen Mutter einsperren lassen? Und sie als Diener arbeiten lassen?«
»Aber wieso hat dein Vater Edgar nicht einfach als Sohn anerkannt?«, setzte ich nach.
»Weil er kein Kind aus der Ehe meiner Eltern ist. Sondern ein uneheliches.« Elodie sah zu Boden. »Zumindest hat es Vater so gesehen. Nur das bringt uns auch nicht weiter, außer dass man dadurch Edgars Hass auf uns Bessergeborene verstehen kann.«
Mir entging nicht, dass sie »uns« gesagt hatte. Uns Bessergeborene. Trotz ihrer Hilfe bei der Suche nach Edgars Aufenthaltsort hatte Elodie sich offensichtlich nicht geändert. Sie fühlte sich mir und allen anderen im Raum tatsächlich immer noch überlegen. Ich schärfte mir ein, noch besser aufzupassen und das nie wieder zu vergessen, egal wie oft sie einen auf nett machte. Wir durften ihr nicht vertrauen. Wir durften uns nur von ihr helfen lassen.
Ich sah zu Helene hinüber, die mittlerweile blass und zusammengesunken ins Leere blickte. Sicher lag das nicht nur an ihrer Erinnerung an Syrell, sondern vor allem an ihrer Sorge um Edgar. Bei meiner Antwort auf Daans Frage vorhin war ich mir so sicher gewesen, dass nichts Gutes mehr in Edgar steckte. Doch was, wenn ich mich täuschte?