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Die Zeit schien uns buchstäblich davonzulaufen. Daan führte uns quer durch die Stadt und zu mindestens fünf Gebäuden, an denen er mit Elodie und mir die Löwenstatuen abglich, die wir in Edgars Gefühlen gesehen hatten. Doch es war zum Verzweifeln, weil keine der Statuen richtig passen wollte.

Auf dem Kanal neben uns begrüßten sich zwei Gondolieri und lachten, während sie mit ihren Booten aneinander vorbeifuhren. Alles in Venedig sah so unwirklich aus, als steckten wir in einer altmodischen Filmkulisse. Ich musste automatisch an Ma denken. Sie hatte mir früher oft von Venedig vorgeschwärmt und mir versprochen, dass sie eines Tages mit mir herfahren würde. Damals hatte ich nur mit Schrecken an die vielen Museumsbesuche gedacht, die mir hier bevorgestanden hätten. Doch in diesem Moment hätte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als zusammen mit Benno und unseren Eltern durch die Gassen zu streifen und Mas sicher nicht enden wollenden Erzählungen über irgendwelche Statuen und Stuckelemente zuzuhören.

Plötzlich zog mich Benno am Arm. »Daaa!«, rief er und rannte prompt los, die Straße hinunter. »Da ist so eine!«

»Warte, bleib stehen!« Ich versuchte, Benno aufzuhalten. »Was meinst du denn?«

»Eine mit Verkleidung!«, brüllte Benno über seine Schulter hinweg. »Mit so einem Ballkleid. Das war eine Prinzessin!«

Benno rannte weiter, irgendjemandem hinterher, den außer ihm niemand gesehen zu haben schien. Nur Mats reagierte geistesgegenwärtig, griff sich Bennos Hand und lief mit ihm zusammen in die Richtung, in die mein Bruder gezeigt hatte. Wir folgten den beiden Jungs und suchten im Gedränge der Gassen nach einer Prinzessin, aber weit und breit war nirgends eine zu entdecken.

»Benno.« Ich hielt meinen Bruder am Arm fest, damit er stehen blieb. »Bist du dir wirklich sicher?«

Benno sah empört zu mir hinauf. »Nur weil ihr sie nicht gesehen habt, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt!« Er schnaufte vom vielen Rennen. »Ich weiß, dass ich gerade eine Prinzessin gesehen habe. Und dass sie hier irgendwo hin ist. Und ich weiß auch, dass das bestimmt eine Ewige war und dass …«

»Okay, okay!«, unterbrach ich ihn. »Wenn du dir sicher bist, bin ich es natürlich auch. Also los! Wo lang jetzt?«

»Dahinten um die Ecke … glaub ich«, sagte Benno vorsichtig.

Zusammen mit den anderen liefen wir der mysteriösen Prinzessin hinterher, bis wir auf einem Platz ankamen und vor den Stufen eines weiß getünchten Palazzos stehen blieben.

»Das da ist die venezianische Oper«, erklärte Daan und sah zu Benno hinab. »Das Teatro La Fenice, mein Kleiner. Dort ist es durchaus nicht ungewöhnlich, vor den Aufführungen eine Prinzessin oder auch einen König anzutreffen. Allerdings sind das keine echten …«

»Aber Sie haben doch nach Leuten gesucht, die sich verkleiden wollen!« Bennos Augen wurden immer größer und seine Stimme vibrierte. Langsam verlor er die Geduld mit uns. »Und ich hab eine Prinzessin gefunden. Nur ist die mir wieder verloren gegangen. Aber ich wette, das war keine echte Prinzessin …«

»… sondern eine Opernsängerin, die eine Prinzessin darstellt«, sagte Willen und hob die Augenbrauen.

»Nein! Ich meine, das war doch bestimmt eine Ewige, die sich als Prinzessin verkleidet hat …« Benno schossen die Tränen in die Augen und er drehte sich weg. »Ihr versteht überhaupt nichts!«

»Ach, Benno«, sagte ich und warf Willem meinen bösesten Große-Schwester-Blick zu. Dann nahm ich Benno in den Arm. »Und was, wenn Sie sich täuschen und das unser bester Hinweis ist, den wir bisher haben?«

»Möglicherweise …«, sagte Daan und strich Benno über die Haare, »… war das keine Opernsängerin. Also, gehen wir ins Gran Teatro. Dort werden wir sicherlich schnell erfahren, ob die Prinzessin am Theater arbeitet oder eine Ewige ist.«

Benno wischte sich über die Augen. »Wenn sie dadrin ist, kann ich sie euch zeigen.«

Ich lächelte innerlich darüber, dass mein Bruder war, wie nur mein Bruder sein konnte, und folgte ihm.

Die Oper sah genau so aus, wie ich mir ein venezianisches Theater vorgestellt hatte. Eine Steintreppe führte zu einem weiß getünchten stuckverzierten Stadtpalast hinauf. Ein grünes Eisengitter mit vergoldeten Spitzen verriegelte die vornehmen Türen des Haupteingangs. Sicher öffnete die Oper erst abends für die Aufführungen. Also liefen wir am Gebäude entlang durch die Gassen und suchten den Seiteneingang, den die Schauspieler, Masken- und Kostümbilder benutzten. Als wir eine Tür entdeckten, die ebenfalls ins Teatro La Fenice führen musste, rüttelte Daan an ihr. Sie war nicht abgeschlossen, also folgten wir ihm hinein.

Es war still im Inneren und es roch nach Puder und gebratenem Fisch, worüber ich mich nicht lange wundern sollte. Hinter einer weiteren Tür am Ende des Eingangsbereiches klapperte es. Auch durch diese Tür ging Daan als Erster und wir liefen ihm hinterher, hinein in den Brat-Puder-Fisch-Geruch, bis wir inmitten der engen Theaterkantine standen. Mehrere Männer in Latzhosen aßen und schwatzten an einem der Tische. Während wir ein paar Schritte hineingingen, brach das Schwatzen für einen Moment ab. Doch nachdem Daan irgendetwas auf Italienisch gesagt hatte, winkten die Männer uns einfach weiter.

»Was haben Sie gesagt?«, flüsterte ich ihm zu.

Daan lächelte. »Ich habe gesagt, dass wir als Familienangehörige der ersten Sängerin ihr für die gelungene Darstellung gratulieren und Glück wünschen wollen.«

Clever, dachte ich nur und grinste.

Wir waren schon eine seltsame zusammengewürfelte Gruppe, aber mit Benno in unserer Mitte zweifelte auch in den nächsten Räumen niemand an unserer Harmlosigkeit. Also bahnten wir uns weiter unseren Weg Richtung Garderoben.

Elodie gab beeindruckte »Ohhhs« von sich, als wir an einigen Fotografien vorbeigingen, auf denen die Sänger in den prachtvollsten Kostümen dargestellt waren. Doch als wir schlussendlich bei den Garderoben ankamen, waren alle von ihnen verlassen.

Ich ließ meine Schultern hängen und trat mit meiner Schuhspitze gegen den roten Teppich, der im gesamten Gang ausgerollt worden war. Er erinnerte mich an die roten Teppiche eines schicken Filmfestivals, über den die Stars entlangschlenderten, während sie sich beklatschen ließen.

Eigentlich komisch. Immerhin waren wir hier in dem Teil der Oper, der nur für die Kantinenarbeiter, die Sänger und die Bühnen- und Maskenbilder zugänglich war. Und für die lag der rote Teppich ganz sicher nicht aus.

Wir liefen weiter und kamen irgendwann hinter der Bühne an. Ich lugte durch die Vorhänge in den Opernsaal und musste einen Moment lang die Luft anhalten. So einen Saal hatte ich noch nie gesehen. Ich war fast geblendet von all dem Gold, das mir hinter den Stuhlreihen aus rotem Samt entgegenstrahlte. Der Saal wirkte riesig und die Wände bestanden aus ganzen fünf Stockwerken, in denen sich unzählige Logen aneinanderreihten. Nur aus Filmen kannte ich solche Theaterbalkons, in denen man ganz privat und in kleinen Gruppen der Oper lauschen konnte.

Da fasste Elodie an meinen rechten Arm. »Lass uns mal dahinten nachschauen«, flüsterte sie mir zu. »Ganz sicher bin ich mir nicht, aber … möglicherweise war Edgar schon mal hier. Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl.«

Ein unbestimmtes Gefühl?

Erst jetzt bemerkte ich, dass die anderen längst weitergelaufen waren. Daan, Mats, Leon, Benno und Willem bogen bereits in den Gang, der wohl zu weiteren Garderoben führte.

Ich pfiff leise, um den anderen mit Handzeichen zu verstehen zu geben, dass Elodie mit mir in die andere Richtung steuerte.

Elodie warf mir nur einen verschwörerischen Blick zu und lotste mich weiter. Mir fiel auf, das auch der rote Teppich in die Richtung führte, in die wir liefen. Die anderen Gänge waren im Gegensatz dazu nur mit normalem Parkett belegt.

»Was suchst du?«, flüsterte ich Elodie zu.

»Komm einfach«, raunte sie zurück, ohne anzuhalten.

Am Ende des Flures, genau dort, wo auch der rote Teppich einen Bogen machte, öffnete sie eine Tür. Dahinter war es dunkel und ein altbekannter muffiger Geruch hing in der Luft. Ich stockte, als mir mit einem Schlag klar wurde, was das für ein Geruch war: der »Duft der Ewigkeit«!

Auch Elodie hielt wie eingefroren inne. Wir standen in einer Art Lager, in dem wahrscheinlich die Kostüme und Requisiten für die Aufführungen aufbewahrt wurden. Zumindest standen überall Hutschachteln herum und es gab Aufbewahrungsfächer, zwischen denen sich mehrere Garderobenständer aneinanderreihten. Doch irgendwas stimmte nicht. Es hing nicht nur der »Duft der Ewigkeit« im Raum, sondern auch alle Garderobenständer, Hutschachteln und Regale waren leer. Nicht ein einziger Seidenschal war zu finden. Trotzdem führte der rote Teppich weiter in den Raum hinein und endete einfach in seiner Mitte. Rechts und links davon standen kleine Tische, auf denen Kerzenständer leuchteten, als führte der Teppich auf etwas zu, das nicht da war.

Hinter uns kamen Benno, Leon und Mats angelaufen. Die drei Jungs brauchten offenbar etwas länger, um den dunklen erdigen Geruch, der die Ewigen immer umwehte, zu bemerken. Da schaltete Mats das Licht an.

»Ich hab es euch doch gesagt!«, murrte Benno. »Die Ewigen sind hier! Und die Prinzessin ist eine von denen.«

Daan und Willem betraten als Letzte den Raum, der vor uns lag. Augenblicklich schoben sie sich vor uns, als müssten sie uns vor irgendetwas beschützen. Doch auch hier war weder eine Prinzessin noch sonst einer der Ewigen zu entdecken.

»Das ist sehr eigenartig«, raunte Willem und schritt an den Kleiderständern der Wände entlang, an denen nichts als leere Bügel hingen. »Wo ist denn alles hin?« Er zeigte auf die Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift Kostümfundus stand. »Hier wird weder gerade renoviert noch gibt es in der Oper einen anderen Platz, an dem man Requisiten und Kostüme aufbewahren könnte. Wo ist der ganze Plunder abgeblieben? Die Oper hat doch jeden Abend Aufführungen.«

Ich drehte mich zu Elodie. »Was weißt du darüber?«

Sofort drehten sich auch alle anderen zu ihr und warteten auf eine Antwort. Immerhin war Elodie zielstrebig hierhergelaufen.

»Da ist nichts, was ich euch verheimliche«, wehrte sie ab. »Ich hatte nur so eine Vermutung, der ich nachgehen wollte. Es war mehr ein Gefühl, dass Edgar schon einmal hier war. Hier in diesem Kostümfundus.«

Daan legte seine Stirn in Falten und ging genau wie Willem, Leon und Mats ein paar Schritte herum.

»Meinst du, er ist noch da?«, fragte ich Elodie.

Elodie hob die Schultern. »Nein, ich denke nicht.«

Auf einmal schrie Benno auf. Ruckartig drehten wir uns zu ihm, während er mit aufgerissenen Augen mitten in den Raum ins Nichts zeigte.

»Was ist denn?«, fragte ich.

Benno sah mich an, die Augen immer noch riesig. Er versuchte, etwas zu sagen, das ihm vor lauter Schreck nicht schnell genug über die Lippen kam. Mats und Daan schlichen um die Stelle im Raum herum, auf die Benno zeigte, obwohl dort absolut nichts zu sehen war.

»Leon … stand da«, stotterte Benno. »Und dann, auf einmal … jetzt ist er weg!«

Ich drehte mich in alle Richtungen, aber Leon war wirklich nirgends mehr zu entdecken. Als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.