24
Zusammen mit Elodie suchte ich die Gegenwart, in die wir Leon, Benno, Willem und Ella zurückschicken mussten. Nach Hause zu finden, ging mit Elodies Hilfe leichter als erwartet und ich war froh, dass Willem aufgehört hatte, unter den Schmerzen so sehr zu leiden. Entweder bewirkte die »Traumhafte Brise« Wunder oder Willem war wirklich tapfer. Gestützt durch Leon konnte er sogar aufrecht laufen.
Als Benno Ella, die eigentlich ja älter war als er, an die Hand nahm und ihr klarmachte, dass sie einfach immer an seiner Hand bleiben solle, dann würde auch alles gut werden … da musste ich beinahe lachen. Aber die Situation war zu ernst und meine Angst um Benno zu groß. Die zwei Jungs würden die anderen nach Hause bringen, sagte ich mir. Ganz sicher.
Endlich! Vor uns waberte die Gasse mit ihren modernisierten, wenn auch alten Gebäuden. Ich sah Touristen mit Smartphones herumlaufen, Kameras, die in die Höhe gestreckt wurden. Von der Vergangenheit erzählten nur noch Überbleibsel.
»Macht schon!«, trieb Elodie Leon an. »Bring Willem ins nächste Krankenhaus! Such ein Taxi und …«
»Ja, ja, das schaffen wir schon. Macht ihr euch lieber Gedanken darum, wie ihr Daan aus der Vergangenheit zurückholt!« Und schon griff Leon Willem unter die Schulter, winkte Benno zusammen mit Ella hinterher und dann brachte er sie alle in die Gegenwart zurück. Von außen betrachtet waren es nur ein paar Schritte, bis sie der Sog der Zeit packte. Es dauerte nicht lange und die vier standen uns entfernt in einer anderen Zeit gegenüber. Ich winkte Benno ein letztes Mal, dann war er verschwunden.
Mit schwerem Herzen half ich Elodie dabei, das Zeitfenster zu steuern. 1882, hatte Willem gesagt. Aber wie sollten wir genau dieses Jahr finden?
Mats hatte sich hinter uns gestellt und blickte mit uns in den Lauf der Zeiten. »Was für ein krasses Teil ist das eigentlich?«, staunte er und ich erklärte ihm kurz, was es mit dem neuen Duft auf sich hatte.
Er verstand schnell. Während Elodie und ich unsere Augen schlossen, um uns noch stärker auf Daan zu konzentrieren, beobachtete er genau, was im Zeitfenster zu sehen war. Immer mal wieder rief er Halt! oder Da!, doch es war jedes Mal falscher Alarm. Daan schien in der Vergangenheit verloren gegangen zu sein. Immer nervöser suchten Elodie und ich mit doppelter Kraft nach dem alten Duftmeister. Irgendwo musste er schließlich stecken.
Ich erinnerte mich an die Gespräche mit Daan, die ich noch vor Kurzem mit ihm in der Duftapotheke geführt hatte. All das, was ich an ihm schätzte und was er in dieser Welt bewirkt hatte. Ich dachte an die Dinge, die ich von ihm gelernt hatte und wie ich durch all das angefangen hatte, mich selbst und die Welt so viel besser zu verstehen.
Elodie und ich ruderten tiefer und tiefer in der Zeit zurück und ich spürte, wie sie manchmal zusammenzuckte und daraufhin schneller anfing zu rudern. Auch ich bemerkte es. Wir kamen Daan näher, wir waren ihm auf den Fersen, das fühlten wir beide. Elodie passte sich wieder mir an und folgte in ihren Bewegungen meiner Richtung.
Und da! Ich stoppte kurz. Ich hatte Daan ganz deutlich gespürt. Wir waren noch nicht bei ihm, noch nicht im Jahr 1882, aber wir kamen ihm näher.
Plötzlich durchzuckte mich ein Schmerz, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Selbst Elodie gab einen erschreckten Ton von sich und konnte sich gerade noch beherrschen, ihre Arme reflexartig aus dem Zeitfenster zu ziehen.
»Was … was ist das?«, keuchte ich.
Elodie verzog das Gesicht. »Schmerz«, raunte sie. »Unendlicher Schmerz.«
Und obwohl ich am liebsten sofort aufgehört hätte, mussten wir diesen Schmerz aushalten und nachempfinden, um weiterzukommen. Kam der Schmerz etwa von … Daan? Auch ich stöhnte und selbst Mats, der nichts von dem fühlen konnte, was uns gerade körperlich so zu schaffen machte, schien etwas in der Zeit zu entdecken, das ihn irritierte. Zumindest trat er ganz dicht hinter mich und legte mir seine Hände auf die Schultern. Er sagte nichts, aber er gab mir mit dieser Geste zu verstehen, dass er da war und mir helfen würde, ganz egal, was auch immer gleich passieren würde.
Ich zwang mich, meine Augen weiter geschlossen zu halten, und spürte, dass selbst Elodie nicht mehr weiterwusste. Sie kannte Daan nicht so wie ich und verließ sich auf meine wortlosen Anweisungen. Also gut. Noch fester kniff ich meine Augen zusammen, um den Schmerz ertragen zu können, der durch mich hindurchströmte. Es war ein so hoffnungsloses Gefühl. Ein Gefühl aus Verlust, Tod und Traurigkeit. Nichts war mehr wichtig, nichts hatte noch irgendeine Bedeutung … ohne …
»Ohne was?«, hauchte ich Elodie zu. »Was ist da?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie zurück. »Mach einfach weiter. Bitte halt durch. Wir finden ihn dort irgendwo!«
Ich kniff die Lippen aufeinander und ruderte weiter. Langsamer und unter noch stärkeren Schmerzen. Manchmal fühlte es sich an, als berührte ich eine heiße Herdplatte, ohne meine Hand zurückziehen zu dürfen. Natürlich war nirgends etwas, an dem Elodie oder ich mich wirklich verletzen konnten. Trotzdem heftete sich dieser Schmerz an uns, je näher wir Daan kamen.
»Ihr schafft das!«, hörte ich Mats uns anfeuern, seine Hände lagen weiter auf meinen Schultern.
»Kannst du ihn sehen?«, fragte ich in der Hoffnung, dass Mats den Duftapotheker irgendwo entdeckte.
»Noch nicht so richtig, aber Daan ist zweimal aufgeblitzt in der Zeit vor uns. Ihr habt ihn fast. Macht weiter!«
Mats hatte recht. Wir durften Daan nicht verlieren. Beinahe war ich mir sicher, dass wir uns kein zweites Mal überwinden könnten, uns in dieses Gefühl aus Schmerz zu stürzen. Wir mussten Daan in den nächsten Sekunden finden! Sonst würde es uns vielleicht nicht mehr gelingen.
Mit diesem Gedanken ruderte ich schneller und schneller. Elodie passte sich wieder meinem Tempo an und ich hörte sie vor Anstrengung schnaufen. Und endlich! Da war etwas. Da war ein zweites Gefühl in dieser bodenlosen Hoffnungslosigkeit.
Es war Scham.
»Stopp! Sofort!«, rief Mats. Elodie und ich hielten sofort an.
Ich öffnete die Augen und sah Daan direkt vor mir.
»Los!« Mats hievte mich in die Höhe, griff sich meine Hand und stieg vor mir in das Zeitfenster hinein. Eilig griff ich nach Elodies Hand und umschloss sie fest. Sie folgte mir, ohne zu zögern, und ich folgte wiederum Mats, der mit sicheren Schritten vorausging. Der Sog der Zeit packte uns auf ein Neues und schob uns weiter. Ich lief hinter Mats, bis wir aus dem Zeitfenster hinaustraten und hinein in ein neues Jahrhundert des alten Venedigs liefen, in dem wir hoffentlich Daan finden würden.
Mats schien gesehen zu haben, wo Daan steckte. Wir folgten ihm eine der vielen Gassen entlang, Frühlingsduft hing in der Luft und eine warme Brise empfing uns. Die Suche nach Daan hatte mich Kraft gekostet, aber langsam wachte ich aus meiner Erschöpfung auf. Mats blieb vor einer schweren Holztür stehen und löste seine Hand aus meiner. Doch ich umgriff ihn nur fester, woraufhin er mir einen Blick zuwarf, in dem Verwunderung und Sorge gleichzeitig lagen.
»Ich geh vor. Ihr haltet ein bisschen Abstand zu mir.« Er sagte das, ohne es als Frage zu formulieren, dann zog er seine Hand aus meiner. »Dieses Gebäude habe ich gerade in eurem Fenster gesehen.«
Wir schoben uns hinter Mats durch die Haustür hinein ins Innere eines unbeleuchteten Gebäudes. Binnen Sekunden sah ich kaum noch etwas. Dunkelheit umgab uns. Ich hörte Mats nur noch vor mir, also ging ich weiter. Elodie und ich hielten uns fest an den Händen. Ein Spalt Licht drang uns entgegen und langsam gewöhnten sich meine Augen an das schwache Licht. Wir standen in einem engen Hausflur.
Es roch nach Erde, allerdings war es keine modrige Erde, wonach die Ewigen rochen, sondern es duftete frisch nach Leben und Pflanzen.
Die Holzdielen unter unseren Füßen knarrten leise und so blieben wir einen Moment stehen. Wir lauschten auf die Geräusche im Haus. Ich stockte, als ich die Wände betrachtete. Sie waren mit den gleichen Blümchentapeten bezogen wie die Wände in unserer Villa Evie.
Stimmen drangen aus dem Raum am Ende des Flures zu uns. Die Zimmertür war angelehnt und das Licht leuchtete dahinter. Wie Statuen blieben wir an Ort und Stelle. Meine Muskeln verkrampften sich vor lauter Anspannung.
Ich kannte die Stimme, die wir hörten. Wir alle kannten sie. Die Stimme klang gehässig und schadenfroh. Das war nicht Daans Stimme. Es war die von Edgar. Der Schmerz, den ich gerade noch empfunden hatte, während ich nach Daan gesucht hatte, flammte auf ein Neues in mir auf. Doch es war mehr eine Erinnerung, die uns spüren ließ, dass wir ihm näher kamen. Ich drehte mich zu Elodie. Im schwachen Licht, konnte ich sehen, dass sie genau wie ich aus ihrem Dämmerzustand aufgewacht war.
»Was passiert da?«, flüsterte sie. »Was ist das für ein Gefühl, das da von Daan ausgeht?«
Ratlos hob ich meine Schultern. »Ich kann es nicht zuordnen. Da sind so viele Empfindungen auf einmal.«
Die Stimmen im Raum waren leise, doch sie klangen scharf. Hinter Mats lauschten wir Edgars Wortfetzen und versuchten, von Daan etwas anderes als Stille wahrzunehmen. Doch er sagte nichts, was meine Furcht immer mehr anwachsen ließ. Was passierte nur in diesem Zimmer?
Ich schob mich dichter hinter Mats, der vorsichtig weiterlief. Schritt für Schritt, immer darauf achtend, dass das Holz unter unseren Füßen so wenig Geräusche erzeugte wie möglich. Schließlich erreichten wir die Tür. Wir lugten durch den vom Licht gefluteten Spalt.
Der Raum dahinter bestand aus Glasscheiben und erinnerte mich an ein altmodisches Minigewächshaus. Oder einen großen Wintergarten. Vom Boden bis zur Decke wucherten Pflanzen und Blüten. Ein bisschen erinnerte es mich auch an Daans Wohnzimmer auf seinem Hausboot. Dort reichten die Fensterscheiben ebenfalls bis auf den Boden und lauter Bäumchen, Sträucher und Blumen standen herum.
Endlich entdeckte ich Edgar und auch Daan. Sie standen am Ende des Raumes vor den Glasscheiben, halb versteckt zwischen den Pflanzen. Auf Edgar Gesicht lag ein lautloses Lachen, während Daan in sich zu versinken schien. Wie ein Sack Kartoffeln stand er auf seinen Beinen und blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden.
Ich folgte seinem Blick und da gefror mir das Blut in den Adern. Etwas entfernt und mit dem Rücken zu Edgar und Daan kniete ein dritter Mann. Er kauerte auf dem Boden und schluchzte unter Schmerzen. Ich konnte es einfach nicht glauben.
Dieser Mann am Boden …
Es war ebenfalls Daan. Der einzige Unterschied war das Alter. Dieser Daan … war um viele Jahre jünger.