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Vor den Stufen des Palazzos drängelten noch mehr Verkleidete. Es war genauso wie zu dem Moment, als wir den Palazzo verlassen hatten, um vor Raffael davonzulaufen.
Dicht am seitlichen Eingang versteckten wir uns, sodass niemand, der demnächst aus dem Palazzo stürmen würde, uns entdecken konnte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Kirchturmglocke erneut schlug. Diesmal war sie um ein Vielfaches lauter, weil die Kirche nur ein paar Gebäude entfernt von uns stand. Ich zählte vier Glockenschläge und hielt die Luft an. Schon im nächsten Moment sah ich Elodie, Leon, Benno und mich selbst aus dem Palazzo herausstürmen. Unsere Gesichter waren steif vor Anspannung.
Mats wollte schon losstürzen, doch ich hielt ihn zurück.
»Warte noch«, sagte ich und zeigte auf Raffael und die zwei Dienstboten, die ebenfalls aus dem Palazzo rannten und unsere früheren Ichs verfolgten.
»Jetzt!«, sagte ich. »Lasst uns nach Hause gehen!« Dann lief ich voraus, auf die Steinstufen zu, die zum Palazzo hinaufführten.
Kurz vor der Eingangstür drängte Daan sich vor mich und die anderen und stieß die Tür mit Wucht auf, bevor sie zurück ins Schloss klackte. Er winkte uns weiter und wir bahnten uns unseren Weg durch die Empfangshalle des Palazzos. Als wir den Ballsaal betraten, waberte tatsächlich mitten im Raum das Zeitfenster, das ich geöffnet hatte. Vor lauter Freude darüber entfuhr mir ein Jubelschrei, dann schob ich mich zusammen mit Elodie an Daan vorbei, um in das Zeitfenster hineingreifen zu können.
»Auf los geht’s los?«, fragte ich Elodie, worauf sie nur lächelte und nickte.
Dann ruderten wir gemeinsam in der Zeit wie ein eingespieltes Team. Wir suchten die Gegenwart, in die wir gehörten und aus der wir gekommen waren. Zusammen funktionierte es immer besser. Selbst Elodie entfuhr ein Juchzen, als wir gleichzeitig das Gefühl von Zuhause spürten. Wir waren fast da. Jetzt war es nicht mehr weit, doch das Zeitfenster verlor bereits an Kraft und fing an, blasser zu werden.
»Schneller!«, rief ich und Elodie fing augenblicklich an, eiliger zu rudern. Das hier war unsere letzte Chance, nach Hause zu kommen! Wir durften das nicht vermasseln, schließlich hatte ich es Benno versprochen! Also schloss ich wieder die Augen und konzentrierte mich voll und ganz auf die Jahre, die an mir vorbeizogen und sich drehten wie in einem Karussell.
»Da!«, hörte ich Mats hinter uns rufen.
»Wir sind da!« Elodie klang genauso erschöpft und erleichtert, wie auch ich mich fühlte. Sie stand auf und hielt mir ihre Hand hin. »Auf nach Hause.«
Erleichtert schlug ich ein. »Auf nach Hause«, sagte ich und drehte mich zu Mats, um ihm meine andere Hand hinzuhalten.
Mats ergriff sie sofort, und während wir zusammen mit Daan das Zeitfenster betraten, stieg ein Glücksgefühl in mir auf. Es fühlte sich so gut und so vertraut an, dass mir vor lauter Erleichterung Tränen in die Augen schossen. Ich sah alles nur noch unscharf, aber das machte nichts. Der Sog drückte mich, auch ohne dass ich etwas erkennen brauchte, vorwärts.
Endlich trat ich mit Mats und Elodie an meinen Händen aus dem Zeitfenster heraus, hinein in eine warme Sommerluft. Wir waren immer noch im Saal des Palazzos, aber wir waren wieder in unserer Zeit, das erkannte ich ganz deutlich. Erleichtert fiel ich Mats um den Hals und er drückte mich so fest an sich, dass mir fast die Luft ausging.
»Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft!«, jauchzte Elodie und machte eine kleine Pirouette, während Daan als Letzter aus dem Zeitfenster trat.
Ich sah mich im Saal des Palazzos um. Ja, das war definitiv wieder unsere Zeit. Rote Museumskordeln spannten vor den nun wieder antiken Möbeln, überall standen Ständer mit Infotafeln und neben die Bilderrahmen waren Metallschilder geschraubt. Wir waren zurück in unserer Zeit. Die Vergangenheit lag hinter uns!
Stimmen drangen zu uns. Wir drehten uns alle gleichzeitig um, als eine Gruppe Touristen den Ballsaal hinter der Absperrung mit den Kordeln betrat.
»Was machen Sie denn da?«, meckerte eine Frau auf Englisch. »Was erlauben Sie sich! Das ist ein Museum, kein Spielplatz! Raus da!«
Daan stieg als Erster über die Absperrung und winkte uns zu sich. »Scusi, Signora!«, sagte er zu der Touristenführerin. Er winkte uns vorbei an der Reisegruppe, die uns kopfschüttelnd hinterhersah.
Wir verließen das historische Museum und liefen zurück auf die Gasse. Die Sonne schien und um uns herum waren keine Kostümierten mehr, dafür drängten sich die Touristen und knipsten mit ihren Fotoapparaten und Handys in unsere Richtung. Ein kleiner Junge zeigte sogar mit offenem Mund auf uns und zerrte seinen Papa am Arm, damit auch er uns bestaunte. Irritiert sah ich an mir herunter und begriff, was los war. Ich trug immer noch das historische Kleid, mit dem ich gerade durch die Jahrhunderte gestürmt war. Genau wie Elodie, Mats und auch Daan noch ihre Kostüme trugen. Zumindest die Reste, die von unseren Verkleidungen übrig waren.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und sah nach oben. Daan hatte Tränen in den Augen, lächelte aber stolz auf mich hinab. »Suchen wir uns ein Vaporetto«, sagte er.
»Ein was, bitte?«, fragte Mats.
»Ein Wassertaxi.« Daan zeigte in Richtung Kanal zu einem Steg, an dem sich die Leute drängelten.
Zusammen liefen wir los. In unseren ramponierten Kostümen waren wir eine kleine Attraktion und so schafften wir es zügig auf das Vaporetto, das uns Richtung Bahnstation brachte.
Geschafft!, wiederholte ich immer wieder in Gedanken und sah dem Kanalwasser zu, wie es an unser Boot schwappte.
Die nächste halbe Stunde zog wie ein Daumenkino an mir vorbei. Daan kaufte für uns alle Tickets und brachte uns zum Zug, der uns aus Venedig und zurück nach Hause bringen würde. Eine Tagesreise lag noch vor uns. Aber das war, nach allem, was wir gerade bereist hatten, nicht mehr der Rede wert.
Hundemüde kauten wir die belegten Paninis, die Daan uns noch im Vorbeigehen an einem Essensstand besorgt hatte. Dann ließen wir uns endlich in die Sitze des Zuges fallen und in Gedanken winkte ich dem kleiner werdenden Venedig zum Abschied.
Gleichzeitig wusste ich, dass alles, was an diesem Tag geschehen war, Folgen nach sich ziehen würde.
Ich fürchte, uns steht eine dunkle Zeit bevor, hatte Daan gesagt und wahrscheinlich behielt er recht damit. Wir hatten Raffael nicht retten können. Er war Edgar immer noch ausgeliefert, stand immer noch unter dem Einfluss der »Untertänigen Wolke«.
Und Edgar … er war gefährlicher denn je.