Kapitel 6

Die Kunst im Bunde mit der Religion

Wir schreiben das Jahr 330, und die Hauptstadt des Römischen Reiches ist wieder einmal eine Baustelle. Allerdings befinden wir uns nicht in Rom, sondern in der griechischen Stadt Byzanz, die vom aktuellen Kaiser Konstantin bald in Konstantinopel umbenannt werden wird. Als Konstantin an die Macht kam, beschloss er, die Hauptstadt weiter nach Osten zu verlegen, um die lukrativen östlichen Kolonien des Imperiums, die sich bis in die heutige Türkei, nach Syrien und Ägypten erstreckten, besser im Auge behalten zu können. Er denkt, Konstantinopel könne ein zweites Rom werden.

22  Kopf der Kolossalstatue Konstantins des Großen, 312–315 n. Chr., Kapitolinische Museen, Rom

Durch das von ihm aufgelegte Bauprogramm hat Byzanz seine Größe vervierfacht. Statuen ehemaliger Kaiser, unter anderem von Augustus und Caesar, säumen nun neben Skulpturen Konstantins die neuen Prachtstraßen, Konstantin stellt sich also in eine Reihe mit den großen Herrschern der Vergangenheit. Andere, ältere Standbilder wurden geraubt und herbeigeschafft, zum Beispiel die Aphrodite von Praxiteles und die kolossale Zeus-Statue des Phidias aus Olympia. Tempel, die den römischen Göttern geweiht sind, existieren neben den neuen christlichen Kirchen. Konstantin hat die Kirche finanziell gefördert und neue Abschriften der Bibel für die wachsenden Kirchengemeinden in Auftrag gegeben. Er legalisierte das Christentum, das bis dahin im Römischen Reich verboten war.

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Zu Konstantins Zeiten war das Christentum eine relativ junge Religion, erst 300 Jahre alt. Die Bibel bot den Künstlern neue Geschichten, die sie darstellen konnten, aber stilistisch erinnert ein Großteil der frühchristlichen Kunst an die antike Malerei. Der Buddhismus und der Hinduismus waren weitaus älter, und bis zum 4. Jahrhundert hatte sich in Indien um beide Religionen herum ein komplexes und anspruchsvolles Kunstschaffen entwickelt. Die buddhistischen Viharas (Felsenklöster) und Chaityas (Gebetshallen) wurden in Felswände gehauen, wie etwa in Ajanta nordöstlich von Mumbai. Dort befinden sich rund 30 Höhlen in einer 500 Meter langen hufeisenförmigen Felswand oberhalb des Flusses Waghora. Sie wurden in einem Zeitraum von 600 Jahren geschaffen, wobei die kunstvollsten Höhlen aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts stammen. Fensterlose Felsentempel wie diese sind deshalb bedeutend, weil nur in ihnen indische Malerei aus dieser Periode überlebt hat.

070 Cave 17, Elephants in Procession, Ajanta Caves 16-17, Aurangabad, photograph by Anandajoti Bhikkhu

23  Elefantenprozession (Ausschnitt), ca. 2100 Jahre alt, Ajanta-Höhle 17, Maharashtra, Indien

Viele der Malereien in Ajanta zeigen unterschiedliche Inkarnationen von Nagas, Halbgöttern, die mit Wasser und Regen assoziiert werden. Nagas kommen in den Jatakas vor, einer Sammlung populärer Erzählungen über die früheren Leben des Buddha. Eine der Höhleninschriften besagt, hier habe der Naga-König gelebt, und die Malereien könnten seiner Besänftigung (um die Wasserversorgung sicherzustellen) sowie der Lobpreisung Buddhas gedient haben.

In Höhle 17 nimmt eine Skulptur des sitzenden Buddha die rückwärtige Wand ein. Um ihn herum zeigen die Decken- und Wandmalereien Szenen aus den Jatakas. Weiße Elefanten und Löwen stolzieren über blumendurchsetzten Rasen, während Männer und Frauen sich in Tempeln und Häusern versammeln und Bodhisattvas (aufstrebende Buddhas) um Erleuchtung beten. Die Künstler haben Perspektive sowie Licht und Schatten bewusst eingesetzt, um die Körperformen herauszuarbeiten. Die Säulenreihen und Portale erinnern an griechische Architektur, und möglicherweise haben griechische Künstler diesen Malstil in der Region eingeführt. Der Heiligenschein um den Kopf des Buddha im Lotussitz, der überall in den Höhlen zu finden ist, wurde von griechischen Skulpturen des Sonnengottes Apollon übernommen. (In der christlichen Kunst diente der Heiligenschein ebenfalls als Symbol des Göttlichen.)

Zu dieser Zeit war Indien über etablierte Handelsrouten, heute als Seidenstraße bekannt, mit China verbunden. Entlang dieser Routen breitete sich der indische Buddhismus aus, an vielen Raststationen wurden Tempel errichtet. Karawanen mit Waren zogen zwischen China, Indien und Konstantins Reich hin und her und brachten neue Ideen zu Technik und Kunst mit. Egal auf welchem Weg man nach China reiste, man musste immer die Taklamakan-Wüste durchqueren, ein zweimonatiger Marsch. Jenseits der Wüste lag Dunhuang, eine Garnisonsstadt, die die Westgrenze des chinesischen Reiches markierte.

Die Malerei in China hat eine lange und glorreiche Vergangenheit, religiöse Malerei spielte jedoch erst ab dem 4. Jahrhundert eine größere Rolle. Damals war China in sich bekämpfende Reiche gespalten und von Tumulten geprägt, und so wandte sich das Volk der Religion zu, insbesondere dem Buddhismus. Das berühmteste Beispiel buddhistischer Kunst aus dieser Zeit sind die Mogao-Grotten bei Dunhuang. Die insgesamt 492 noch erhaltenen Höhlen (ursprünglich waren es an die 1000) wurden in eine 1000 Meter lange Felswand gehauen, und die darin enthaltenen Malereien stellen einen Höhepunkt der chinesischen Wandmalerei dar. Die Errichtung der Höhlen war arbeitsaufwendig und ebenso ihre Ausschmückung, weshalb die Künstler wie in Ägypten auf der Baustelle lebten und arbeiteten. Zunächst überwog der Einfluss der indischen Kunst, und in einigen Höhlen sind Szenen aus den Jatakas zu sehen. Ab dem 6. Jahrhundert tauchten allmählich neue Elemente auf, unter anderem Landschaften aus der Vogelperspektive, was eine Neuerung in der chinesischen Malerei darstellte. In anderen Höhlen ist Buddha unzählige Male abgebildet, ganze Wände sind von seinem Konterfei bedeckt, wie in Höhle 249, was ihr den Namen «Höhle der tausend Buddhas» einbrachte.

24  Eine Apsara spielt Laute (Ausschnitt), 475–490 n. Chr., Mogao-Grotten, Dunhuang, China

Inzwischen hatte sich das Christentum auf den Nahen Osten, Nordafrika und Europa ausgebreitet. Ein neues Byzantinisches Reich war Konstantins Vermächtnis, und dessen Fundament bildete das Christentum. Keine hundert Jahre, nachdem Konstantin die Hauptstadt des Römischen Reiches nach Konstantinopel verlegt hatte, zerfiel das Reich in zwei Hälften. Die westliche Hälfte wurde rasch von den ostgermanischen Goten überrannt, während die östliche Hälfte, das Byzantinische Reich, florierte. In neuen Kirchen ließ man riesige Wand- und Deckenflächen mit Bibelszenen in der bei den Römern so beliebten Mosaiktechnik auskleiden. Künstler aus Konstantinopel wurden in nah und fern berühmt für ihre Goldmosaike, selbst in Syrien und auf Sizilien findet man ihre Arbeiten. Während römische Künstler kleine tesserae aus Marmor für ihre Mosaike verwendet hatten, bevorzugten die byzantinischen Künstler Buntglas. Es reflektierte stärker und konnte mit Blattgold hinterlegt werden, sodass die Mosaike ein himmlisches Licht auszustrahlen schienen.

Im 6. Jahrhundert machte sich der byzantinische Kaiser Justinian daran, die westliche Hälfte des Römischen Reiches zurückzuerobern. Zur Feier seines erfolgreichen Feldzugs ließ er in Ravenna, das bis zu seinem Sieg die Hauptstadt des Ostgotenreiches gewesen war, prächtige Mosaike von sich und seiner Frau Theodora in der neu errichteten Kirche San Vitale anbringen. Der wohlhabende Bankier Julius Argentarius hatte den Bau des mit Goldmosaiken von Christus und seinen Aposteln geschmückten Gotteshauses finanziert. Die Porträts von Justinian und Theodora sind an prominenter Stelle in der Apsis platziert, einander gegenüberliegend zu beiden Seiten des Altars. Justinian hält eine goldene Patene (Hostienschale) mit Brot, dem Leib Christi, für den Gottesdienst. Zwölf Männer sind um ihn herum gruppiert, als wären sie seine Jünger und er der Sohn Gottes. Links von ihm stehen Bischöfe, rechts Soldaten, was seine Herrschaft über Kirche und Staat symbolisiert. Theodora ihm gegenüber trägt einen kunstvollen Kopfschmuck und ihre Amtstracht. Sie steht außerhalb der Kirche in einem Garten und schickt sich an, einzutreten. Am unteren Saum ihres Mantels sind die heiligen drei Könige eingestickt, was sie direkt mit Christi Geburt in Verbindung bringt, und sie hält einen Kelch für Wein, das Blut Christi während des Abendmahls. Heiligenscheine um Justinian und Theodora betonen ihr göttliches Recht, über das sich ausdehnende Byzantinische Reich zu herrschen. Die Mosaike demonstrierten Justinians Frömmigkeit, untermauerten aber auch seine neu errungene Macht über diese Region. Sie gehören zu den ersten Visualisierungen einer der zentralen Vorstellungen der östlichen orthodoxen Kirche – die Vereinigung religiöser und weltlicher Macht in einem Oberhaupt.

Empress Theodora and her retinue, Byzantine mosaic in the apse of the Basilica of San Vitale (UNESCO World Heritage Site, 1996), Ravenna, Emilia-Romagna, Italy, 6th century, detail. Ravenna, Opera Religion of the Diocese of Ravenna

25  Kaiserin Theodora (Ausschnitt), byzantinisches Mosaik, 547 n. Chr., Basilika San Vitale, Ravenna

San Vitale wurde 547 vollendet, zehn Jahre, nachdem Justinians riesige Kirche Hagia Sophia in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) eingeweiht wurde. San Vitale ist viel kleiner, ein bescheidener achteckiger Bau, der heute für die Mosaike von Justinian und Theodora berühmt ist. Man muss wissen, dass es sich bei diesen Mosaiken nicht um naturgetreue Abbildungen handelt – den Gesichtern fehlt es an Ausdruck, die Körper sind unter lila Umhängen verborgen, deren steif fallender Stoff an geriffelte Säulen erinnert. Das stellt keineswegs einen Mangel dar: Die Porträts sollen gar nicht realistisch sein, sondern haben symbolischen Charakter. Justinian selbst war nie in Ravenna, und die kunstvollen Mosaike dienten daher gleichsam als sein Stellvertreter. Sie zeigen eine gottgleiche imperiale Präsenz, die wie Gott und die Kirche bis in alle Ewigkeit bestehen soll, und nicht ein momentanes Ebenbild des Kaisers.

Zu dieser Zeit hatte sich das Christentum weit über die byzantinische Welt hinaus verbreitet und den kalten Norden Europas erreicht. Die christliche Kunst löste sich von der antiken Fixierung auf den natürlichen Körper und setzte mehr auf die religiöse Botschaft als auf erkennbare Ähnlichkeit. In Nordeuropa beherrschten Abbildungen von Tieren und nicht von Menschen die regionale Kunst. Der keltisch-germanische Stil, wie er heute genannt wird, erstreckte sich von Skandinavien bis nach Deutschland und über die Grassteppen Russlands. Das Evangeliar von Lindisfarne, entstanden in Nordengland um 700, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Mönche sich diesen Stil zu eigen machten. Sie arbeiteten in den großen Skriptorien (Schreibstuben) von Klöstern und verbreiteten das Wort Gottes, indem sie Abschriften der Bibel anfertigten.

Auf den Titelseiten des Evangeliars von Lindisfarne schmücken verschnörkelte Flechtmuster sowie stilisierte Tiere und Vögel große illuminierte, also illustrierte Buchstaben und christliche Kreuze. Flamingos und Adler, Schlangen und Drachen bevölkern die Seiten und lassen das Wort Gottes lebendig werden. Das Buch enthält auch ganzseitige Bilder der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Die Figuren schweben, die Körper sind flach und dekorativ, ihre Gesichter schablonenhaft mit großen mandelförmigen Augen – der Körper war nur mehr ein Symbol. Diese Heiligenfiguren stellen eher Sinnbilder als reale Personen dar. Man identifiziert sie vor allem anhand der Attribute, die mit ihnen verbunden werden, etwa dem geflügelten Löwen bei Markus. Das machte es leichter, die Bilder von Buch zu Buch zu kopieren.

26  Evangelist Markus im Evangeliar von Lindisfarne, verfasst 698–721 n. Chr., British Library, London

In dieser Zeit wirkte die Religion als treibende Kraft für die Kunst. Nicht lange davor war im Nahen Osten mit Mohammed ein neuer religiöser Führer in Erscheinung getreten. Die Anhänger des Islam, seiner neuen Religion, stießen rasch in die östlichen Gebiete des Byzantinischen Reiches vor und eroberten bedeutende Städte wie Jerusalem und Alexandria. Im Islam war es verboten, Repräsentanten des Glaubens wie Mohammed bildlich darzustellen. Dies sollte verhindern, dass Bilder als Götzen verehrt wurden, nur Allah (Gott) selbst durfte angebetet werden.

Überall im rasant wachsenden Islamischen Reich wurden Moscheen errichtet, und in seiner Hauptstadt Damaskus (im heutigen Syrien) begann man 705 mit dem Bau der Großen Moschee. Sie wurde in nur zehn Jahren mit syrischen Steuergeldern und ägyptischen Arbeitskräften vollendet. Ursprünglich trugen die Wände kalligrafische Inschriften aus dem Koran, der Beginn einer Tradition, die bis heute existiert. Weil sich das Verbot der Darstellung Allahs und Mohammeds nicht auf das Wort Allahs erstreckte, florierte die Kalligrafie als Kunstform.

Die kalligrafischen Inschriften in der Großen Moschee sind längst verschwunden, doch die Mosaike haben überdauert und bieten einen faszinierenden Einblick in die künstlerischen Netzwerke des 8. Jahrhunderts. Die Mauern des großen Innenhofs und der Arkadengänge sind mit Goldmosaiken verziert, gefertigt von byzantinischen Künstlern. Sie zeigen menschenleere Stadtlandschaften, die an das antike Rom und Griechenland erinnern. Hohe Bäume säumen Flüsse, an deren Ufern kunstvolle Paläste stehen. Oberhalb der Bäume liegen Bergdörfer auf steilen Hügeln. Die grünen, blauen und goldenen Gebäudedarstellungen an den Wänden der Moschee sind mit Bedacht angeordnet, und alles strahlt Ruhe und Ordnung aus.

Warum hat Kalif al-Walid, der den Bau der Großen Moschee in Auftrag gab, entschieden, den Innenhof, den alle Gläubigen passieren, mit Bildern westlicher Städte auszuschmücken? Wollte er die älteren, länger bestehenden Reiche von Konstantinopel und Rom in das neue religiöse Reich des Islam einbeziehen? Oder ging es ihm vielmehr darum, Überlegenheit zu demonstrieren, erstreckte sich das Islamische Reich doch inzwischen bis nach Nordafrika und Spanien? War das Ganze womöglich als Landkarte gedacht, als Abbildung der Welt auf den Mauern des Innenhofs, mit der Moschee als ihr Zentrum? Die Besucher der Moschee bevölkerten die Szenerie, so wie die Muslime durch die Ausdehnung ihres Reiches die Welt bevölkerten. Was auch immer al-Walid mit den Mosaiken bezweckte, mit der Moschee wollte er auf alle Fälle imponieren. In einer öffentlichen Ansprache sagte er: «Bewohner von Damaskus, vier Dinge verleihen euch eine deutliche Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt: euer Klima, euer Wasser, eure Früchte und eure Bäder. Zu diesen wollte ich noch ein fünftes hinzufügen: diese Moschee.»