Wir befinden uns in Padua im Jahr 1305, und Giotto zeigt seinem Assistenten, wo er an diesem Tag frischen Putz auf die Wand der Kapelle auftragen soll, der ihm als Malgrund dienen wird. Diese Buon fresco genannte Technik ermöglicht es der Farbe, in den Putz einzuziehen, wodurch das fertige Wandbild seine eindrucksvolle Leuchtkraft erhält. Es ist eine Kunst für sich, möglichst genau abzuschätzen, wie viel Putz für ein Tagwerk aufgetragen werden soll, denn sobald der Trocknungsprozess einsetzt, kann die Farbe nicht mehr einsickern, sondern sitzt nur auf der Oberfläche. Doch Giotto verfügt über die nötige Erfahrung – schon seit über zwei Jahren arbeitet er an den Fresken der Privatkapelle von Enrico Scrovegni. Sein Werk steht kurz vor der Vollendung, die Wände sind schon zum größten Teil von Fresken bedeckt, an der dunkelblau ausgemalten Himmelsdecke glitzern goldene Sterne.
Giottos Auftraggeber Enrico Scrovegni ist ein reicher Erbe, sein Vater Reginaldo hat sein Vermögen als Geldverleiher gemacht. In den Augen der Kirche gilt die Vergabe von Krediten gegen Zinsen allerdings als Todsünde, dafür will Enrico Wiedergutmachung leisten. Deshalb steckt er einen Großteil seiner Erbschaft in diese prächtige, zu Ehren Gottes errichtete Kapelle. Auch sich selbst möchte er in Giottos Fresken verewigt sehen. In der Darstellung des Jüngsten Gerichts, die über dem Eingang prangt, präsentiert Enrico, der einen Zug von Tugendhaften gen Himmel führt, der Jungfrau Maria ein Modell der Kapelle. Er möchte unmissverständlich klarstellen, dass er sich selbst im Unterschied zu Reginaldo auf der Seite der Engel sieht.
Giotto tritt etwas zurück und überblickt sein Werk. Ein großes hölzernes Gerüst füllt die Kapelle aus, lässt ihn aber noch genug von seinen Fresken erkennen. Neben dem ambitionierten Jüngsten Gericht hat er Szenen aus dem Leben von Maria und Jesus gemalt. Giotto hat diese biblischen Begebenheiten ins Padua des 14. Jahrhunderts verlegt und sich bemüht, lebendige, atmende, fühlende Wesen darzustellen.
◊ ◊ ◊
Giotto (Giotto di Bondone, 1266/76–1337) hinterließ seine Werke auf der gesamten italienischen Halbinsel. Er malte Altarbilder und Fresken in Neapel, Rom, Padua, Assisi und Florenz, seiner Heimatstadt. Italien war zu jener Zeit kein einheitlicher Staat, sondern ein Flickenteppich aus Stadtstaaten und Königreichen. Alle hatten ihre eigenen Gesetze, die Künstler wie Giotto beachten mussten, wenn sie an wechselnden Orten ihre Werkstatt aufschlugen und dort Assistenten anheuerten, die sie bei der Erfüllung ihrer Aufträge unterstützten. Wie man so etwas organisiert, wird Giotto von dem einflussreichen Maler Cimabue (Cenni di Pepo, um 1240–1302) gelernt haben, bei dem er in jungen Jahren in der Lehre war.
Als Begleiter von Cimabue reiste Giotto auch zum ersten Mal nach Rom, wo er Gemälde von Pietro Cavallini (etwa 1250–1330) sah, der als einer der ersten dafür plädierte, für die Darstellung des menschlichen Körpers wieder Aktmodelle zu studieren und sich nicht einfach an berühmten Gemälden oder Abbildungen in Büchern zu orientieren. Woher stammte diese Idee? In Italien gewann eine neue Strömung der Philosophie an Einfluss, der Humanismus. Seine Anhänger besannen sich auf die Kunst und Philosophie der griechischen und römischen Antike zurück. Sie waren überzeugt, dass sich der Mensch in Eigenverantwortung um ein gutes Leben auf der Erde bemühen und nicht allein auf das Nachleben im Himmel hoffen sollte. In entlegenen Klöstern spürten sie die alten Texte der griechischen und lateinischen Klassiker auf und saßen bis tief in die Nacht beisammen, um die Ideen griechischer Philosophen wie Platon zu diskutieren. Anklang fanden sie vor allem unter den Gebildeten in den italienischen Städten. Auf einmal galten weltliche Gelehrte und nicht mehr mittelalterliche Mönche als die klügsten Köpfe. Unter dem Einfluss der humanistischen Künstler ließ man die stilisierte Darstellung der menschlichen Gestalt, typisch für mittelalterliche Gemälde wie die Ikone der Gottesmutter von Wladimir, hinter sich und wandte sich wieder der antiken Kunst und dem Studium des menschlichen Körpers zu. Zum Beispiel zeigt Cavallinis nur teilweise erhaltenes Fresko Das Jüngste Gericht, das er für die Kirche Santa Cecilia malte, Figuren in Gewändern, die unter dem Faltenwurf Knie und Ellbogen, also reale menschliche Körper, erahnen lassen. Sie beeindrucken auch durch ihre natürlichen Proportionen und ausdrucksstarken, lebendigen Gesichter.
Dieses Fresko aus dem späten 13. Jahrhundert weist mehrere Gemeinsamkeiten mit Giottos Jüngstem Gericht auf, das womöglich unter seinem Einfluss entstand. Allerdings geht Giotto in seinem Bilderzyklus für die Scrovegni-Kapelle noch einen Schritt weiter. Er setzt die Bibel in expressiven, dramatischen Darstellungen in Szene. Da werden Arme gen Himmel gereckt, die Menschen stehen mit offenem Mund da, Tränen fließen. Die Beweinungsszene bringt den Schmerz der Frauen, die den Leichnam Christi für die Grablegung vorbereiten, durch ihre gramgebeugte Haltung, ihre in Verzweiflung gerungenen Hände und ihre gesenkten Köpfe zum Ausdruck. Der Stoff ihrer Kleidung fällt, der Schwerkraft folgend, über ihre in Trauer zusammengesunkenen Körper.
In den Werken von Cavallini und Giotto erwacht in Italien die realistische Darstellungsweise der Antike zu neuem Leben. Seit dem 16. Jahrhundert haben Biographen wie Giorgio Vasari diese Maler oft für ihr Talent zur «Naturbeobachtung» gelobt. Giotto habe, so Vasari, «das Tor zur Wahrheit» aufgestoßen. Als Maler wurden sie von der Welt, wie sie sich ihnen unter dem Blickwinkel des Humanismus darbot, beeinflusst – weniger durch die religiöse Kunst ihrer mittelalterlichen Vorgänger.
Viele der führenden Künstler der damaligen Zeit in Italien arbeiteten für die Hauptkirche des Franziskanerordens, die Basilika San Francesco in Assisi. Außer Cimabue, Giotto und Cavallini wirkten dort auch Simone Martini (1284–1344) und die Familie Lorenzetti. Aus Giottos Werkstatt stammen Szenen aus dem Leben Christi, die sich teilweise an den Darstellungen aus der Scrovegni-Kapelle orientieren. Erfolgreiche Künstler wie Giotto betrieben eigene Werkstätten, um ihre zahlreichen Aufträge erfüllen zu können. Es ist anzunehmen, dass Giotto den Entwurf für den Freskenzyklus anfertigte, die Ausführung aber zu großen Teilen seinen Assistenten überließ – von Lehrlingen im Kindesalter über ehrgeizige junge Künstler bis zu erfahrenen Kräften. Womöglich hat Giotto nur die Gesichter gemalt und Hand an die letzten Details gelegt.
Der weltberühmte Franziskus-Zyklus der Kirche illustriert 28 Szenen aus dem Leben des Heiligen. Hier soll vor allem eine packende Geschichte erzählt werden, und die lebensnahen Figuren wirken, als seien sie von Cavallini und Giotto geschaffen, was sich jedoch nicht mit letzter Sicherheit feststellen lässt. Die Bilder sind als Anschauungsmaterial für die Kirchenbesucher zu verstehen, und wie die Bilder von Giotto in der Scrovegni-Kapelle sprachen sie ihr Publikum direkt an, spiegelten seine Mienen wider und ließen es an dem Geschehen teilhaben. In einer an Weihnachten spielenden Szene wird dargestellt, wie der Heilige Franziskus ein Baby segnet. Als Betrachter des Bildes gehört man quasi zu den Teilnehmern dieses Ereignisses, zu denen auch ein Chor von Franziskanermönchen gehört. Dies muss besonders für Pilgerinnen eine besondere Erfahrung gewesen sein, war doch Frauen gewöhnlich der Zugang zum Chorraum verwehrt.
Auch außerhalb Italiens experimentierten Künstler mit naturalistischen Bildfindungen. In Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, gibt es in der byzantinischen Chora-Kirche, von den Osmanen zur Kariye-Moschee umgewidmet, eine Auferstehungs-Szene, die Giottos Jüngstem Gericht an Dramatik in nichts nachsteht. Der Schöpfer dieser Anastasis, wie man solche Darstellungen in der Ostkirche nennt, ist nicht überliefert. Das um dieselbe Zeit wie Giottos Werk entstandene Bild zeigt einen barfüßigen Jesus, der energisch Adam und Eva aus ihren Gräbern reißt, um sie mit sich in den Himmel zu nehmen. Der besiegte Satan liegt gefesselt neben der zerschmetterten Höllenpforte zu Füßen von Christus. Das Fresko befindet sich in einer Halbkuppel über byzantinischen Mosaiken von Heiligen, die in ihren flächigen, gemusterten Gewändern ikonenhaft und unbewegt erscheinen. Hier treffen zwei völlig unterschiedliche Stile in scharfem Kontrast aufeinander, was uns anschaulich die Tragweite der Veränderungen in den Denk- und Sehgewohnheiten jener Zeit vor Augen führt.
Die meisten frühen Beispiele dieser neuen, aufregenden Form des Realismus finden sich jedoch in Italien, wo das wachsende Interesse am Humanismus, der steigende Wohlstand und die erbitterte Konkurrenz ein ganz eigenes Klima schufen. Städte, Kirchen und Mäzene wetteiferten miteinander, die besten Künstler für sich zu gewinnen und die eindrucksvollsten Werke ihr eigen zu nennen. Die Künstler, stärker interessiert an der Natur und der klassischen Antike, ließen Elemente aus den griechischen Mythen einfließen und schufen zunehmend lebendiger wirkende Personendarstellungen.
Zum besseren Verständnis, wie dieses neu erwachte Interesse an der natürlichen Welt zur Renaissance (der «Wiedergeburt» der antiken Kunst- und Gedankenwelt) führte, werden wir für eine Weile ihre Entwicklung verfolgen. Die Epoche der Renaissance, die über 200 Jahre lang dauerte und bis heute Künstler rund um den Globus beeinflusst, soll in ihrer ganzen Breite und Tragweite vorgestellt werden. Zu diesem Zweck müssen wir für einige Kapitel darauf verzichten, die übrige Welt in unsere Betrachtungen einzubeziehen. Im Übrigen war eine solch eingegrenzte Sichtweise in der Kunstgeschichte lange Zeit ohnehin der Normalfall, ignorierte sie doch schlicht alles, was außerhalb Europas entstand. Kunsthistoriker erkannten außereuropäische Schöpfungen oft nicht einmal als Kunst an. Heute, im 21. Jahrhundert, findet Kunst aus der ganzen Welt von einer Vielfalt von Künstlern und Künstlerinnen Wertschätzung und Anerkennung. Wir haben in diesem Buch bereits etliche Beispiele dafür gesehen, und es werden noch viele weitere folgen.
In den nächsten Kapiteln werden wir den Künstlern und Auftraggebern begegnen, welche die europäische Renaissance ins Rollen brachten, jene beispiellose Blüte der Künste zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert. Unter dem Einfluss von Wissenschaftlern, Philosophen, Mathematikern und Künstlern entstand eine Gesellschaft, die von großer Neugier und Erfindungskraft geprägt war. Man beschäftigte sich mit Perspektive und Optik, gewann ein besseres, auch von medizinischen Erkenntnissen geprägtes Verständnis der menschlichen Anatomie, zeichnete und malte wieder nach der Natur und nach lebenden Modellen. Das bleibende Erbe der Renaissance – als Nördliche Renaissance erreichte sie auch die im heutigen Deutschland, Belgien und den Niederlanden gelegenen Regionen – besteht in ihren zahlreichen Kunstwerken sowie ihrem bis ins 20. Jahrhundert spürbaren Einfluss auf die westliche Art der Kunstausbildung und -ausübung.
Die Frührenaissance brachte ein neues Element in die Kirchenkunst: das Altarretabel. Es wurde eingeführt, als die Priester begannen, einen Teil des Gottesdienstes mit dem Rücken zur Gemeinde zu zelebrieren. Die großformatigen, meist zusammenklappbaren Gemälde, die man auf dem Altar aufstellte, sollten der Gemeinde helfen, sich auf das Geschehen zu konzentrieren. Ein frühes Beispiel ist die Maestà von Duccio (Duccio di Buoninsegna, Schaffenszeit 1278–1319), ein prachtvolles Gemälde der thronenden Muttergottes im Kreis von Heiligen und Engeln, das zwischen 1308 und 1311 entstand. Die Maestà, die später teilweise zerlegt wurde, umfasste ursprünglich über 40 Bildtafeln und schmückte den Hauptaltar des Doms von Siena.
Duccio war wie Giotto ein Schüler von Cimabue. In seiner Maestà sind Maria und das Kind im Kreis einer großen Schar von Engeln und Heiligen dargestellt. Sie stehen hintereinander gestaffelt, als hätten sie sich für ein Schulfoto auf Bänken aufgestellt. Neben dem verschwenderischen Einsatz von Gold ist das Bild von zahlreichen realistisch ausgeführten Details geprägt. Johannes der Täufer trägt ein zotteliges Vlies und die Heilige Katharina ein reichverziertes Brokatgewand mit Schleier. Duccio verleiht seinen Figuren nicht so viel körperliche Präsenz wie Giotto, und seine Jungfrau ähnelt mit ihrer langen Nase und den mandelförmigen Augen den byzantinischen Ikonen. Doch sie wirkt viel lebendiger als die stark stilisierten Mariendarstellungen ihres Lehrers Cimabue.
Per Vertrag sicherten die Domherren Duccio zu, alle für die Maestà benötigten Materialien bereitzustellen, darunter auch eine beträchtliche Menge Gold. Dafür durfte er keine anderen Aufträge annehmen und garantierte, dass nur er selbst oder Mitarbeiter seiner Werkstatt Hand an das Gemälde legten.
Zwanzig Jahre später erfuhr der Dom von Siena größere Umbauten, und man wollte Duccios Maestà durch vier Seitenaltäre flankieren, die den Schutzheiligen der Stadt gewidmet waren. Simone Martini erhielt den Auftrag für ein Altarbild mit dem Heiligen Ansanus. Martini, der eine eigene Werkstatt betrieb, arbeitete an diesem Altarbild zusammen mit seinem Schwager Lippo Memmi. Martini wählte als Motiv die Verkündigungsszene mit dem Erzengel Gabriel, der vom Himmel herabkommt und Maria die Botschaft überbringt, dass sie vom Heiligen Geist empfangen und den Sohn Gottes zur Welt bringen wird. Maria weicht erschrocken vor der plötzlich auftauchenden Gestalt zurück – Gabriels flatterndes Gewand deutet seine Bewegung noch an. Seine Worte sind auf dem mit Blattgold ausgelegten Hintergrund festgehalten und erstrecken sich von seinem Mund bis zum leuchtenden Heiligenschein der Jungfrau. Der Heilige Ansanus sieht mit der schwarz-weißen Stadtflagge von Siena in der Hand vom linken Bildrand aus zu.
Martini besitzt einen ganz eigenen Stil – er malt schlanke, hochgewachsene Figuren mit schmalen Schultern und blassen Gesichtern. Insgesamt haben sie wie der gesamte Altaraufsatz eine fast gotische Anmutung. Martini arbeitete später für den Hof des Königs von Neapel, an dem Französisch gesprochen wurde, und zog schließlich nach Frankreich. Durch Künstler wie Martini wurde der gotische Stil, dem wir zuerst in Chartres begegnet sind, in die Malerei übersetzt; man spricht heute vom «weichen Stil», manchmal auch von der «internationalen Gotik». Mit seinen satten Farben und dem Blattgold war dieser üppige Stil an Königshöfen beliebt. Er zeichnet sich durch seinen Detailreichtum aus, allerdings sind die Größenverhältnisse nicht realistisch dargestellt. Dieser Stil blühte vor allem in Nordeuropa, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.