Kapitel 14

Die Rückkehr Roms

Wir schreiben den 14. Mai 1504, es ist Mitternacht. Ein riesiger nackter Mann bewegt sich durch die stillen Straßen von Florenz. Es handelt sich um David, Michelangelos bisher ambitionierteste Skulptur. Es dauerte zwei Jahre, sie zu meißeln, und die Domverwaltung benötigte fast ebenso lange für die Wahl eines Standorts. Michelangelo erhielt den Auftrag für eine Kolossalstatue, die hoch oben an der Fassade des Doms stehen sollte, doch dann entschied man, ihr ein Zuhause zu geben, an dem man sie besser sehen konnte. Sie kam auf den Platz vor dem Palazzo della Signoria, dem Regierungssitz des Stadtstaats.

David - detail (bust) Artwork Location: Accademia, Florence, Italy Permission for usage must be provided in writing from Scala.

60  Michelangelo, David, Marmor, 1504, Höhe: 517 cm, Gallerie dell’Accademia, Florenz

Der lange, aber schmale Marmorblock, den die Kirche Michelangelo zur Verfügung stellte, war alles andere als ideal. Zwei Bildhauer hatten sich bereits daran versucht, dann jedoch aufgegeben mit der Begründung, sie könnten die Arbeit in der Dombauhütte nicht durchführen. Michelangelo erhielt ein monatliches Honorar von sechs Gulden (heute etwa 600 Euro), plus Material und Assistenten, um die neue Skulptur zu vollenden. Jetzt steht der riesige David nackt da wie ein griechischer Gott, und die Steinschleuder über seiner Schulter ist der einzige Hinweis auf seine Rolle in der biblischen Geschichte, die von seinem Kampf mit Goliath erzählt.

Michelangelo möchte, dass sich sein David mit den antiken römischen und griechischen Skulpturen messen kann, die er in Rom gesehen hat, insbesondere mit den nackten Kolossalstatuen von Castor und Pollux in den Thermen Kaiser Konstantins. Sein David hat zerzauste Locken und ein klassisch schönes Gesicht. Sein Körper ist schlank und muskulös, seine Hände sind von Venen durchzogen und kräftig wie die eines Bildhauers. Da sich dieser David dem Betrachter nach der ursprünglichen Planung aus der Untersicht präsentiert hätte, sind sein Kopf und seine Hände größer ausgefallen, als sie sonst wohl geworden wären. Jetzt sind Seile darum geschlungen, und die ganze Skulptur befindet sich auf einem Wagen, der von Michelangelos Bildhauerwerkstatt zum Palazzo della Signoria gerollt wird. Vierzig Männer umringen die Statue und ziehen an den Seilen. Langsam setzt sich David in Bewegung.

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Michelangelo Buonarotti (1475–1564) trat als Jugendlicher in Lorenzo de’ Medicis neue Bildhauerschule in Florenz ein. Lorenzo unterstützte Künstler in allen Phasen ihrer Karriere, und der hitzköpfige fünfzehnjährige Michelangelo lebte wie ein Familienmitglied zwei Jahre lang im Palast der Medici. Dort konnte er im Innenhof Donatellos bronzenen David studieren. Donatellos Skulptur hat die Größe eines Heranwachsenden; Michelangelos David ist mehr als dreimal so groß, mit seinen fünf Metern überragt er einen Doppeldeckerbus. Seit der Römerzeit war in Italien keine so große Figur mehr gefertigt worden.

Der ehrgeizige junge Michelangelo war nicht nur ein guter Bildhauer, sondern auch Maler. Als er mit dem David fertig war, erhielt er den Auftrag, eine von zwei Schlachtenszenen für den Ratssaal im Palazzo della Signoria zu malen. Leonardo da Vinci (1452–1519) war von Mailand nach Florenz zurückgekehrt und sollte die andere Szene übernehmen, doch am Ende wurde keines der Bilder vollendet. Michelangelo zog nach Rom, und Leonardo begann die Frau eines reichen Seidenhändlers zu malen, Lisa del Giocondo. Wir kennen das Bild heute als die Mona Lisa.

61  Leonardo da Vinci, Mona Lisa, 1503–1506, Louvre, Paris

Leonardo trug die Ölfarbe mit feinen Pinseln in mehreren Lasuren auf, wodurch die Farben so sehr ineinander übergehen, dass man nicht sagen kann, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Die Technik war als Sfumato bekannt, was verraucht, verschwommen bedeutet. Die Frau des Seidenhändlers präsentiert sich in einem golddurchwirkten Kleid, ihre rechte Hand ruht auf der linken, das lose fallende Haar ist von einem durchsichtigen Schleier bedeckt. Ihr Körper ist abgewandt, ihr Kopf jedoch nach vorne gerichtet, sie sieht den Betrachter direkt an. Der Hauch eines Lächelns umspielt ihre Lippen, während ihre Augen ruhig unseren Blick erwidern. Hinter ihr verschwimmt eine Fantasielandschaft in der Ferne, was dem Bild eine träumerische Note verleiht.

Leonardo übergab das Gemälde weder Lisa noch ihrem Gatten, sondern behielt es bis zu seinem Tod bei sich. Heute gilt es als Meisterwerk, doch Leonardo dachte vielleicht, es sei noch nicht fertig; er vollendete vergleichsweise wenige Gemälde, was frustrierend für seine Auftraggeber war. Oft experimentierte er mit Farben, nicht immer erfolgreich (die Schlachtenszene für den großen Ratssaal löste sich bereits von der Wand, ehe sie fertig war). Leonardo war fasziniert von der Welt und ihren Phänomenen. Er sezierte Leichen, um sie zu studieren, und zeichnete Menschen in allen Phasen des Lebens, vom Fötus bis zum Greisenalter, ebenso wie Missbildungen. Er untersuchte das Flugverhalten von Vögeln und ließ seine Erkenntnisse in die Konstruktion eines Hubschrauber-Prototyps einfließen. Er entwarf Kriegsmaschinen, Bewässerungssysteme und Verteidigungsanlagen. Der Linkshänder schrieb in Spiegelschrift, von rechts nach links, vielleicht weil er seine Notizen nicht verschmieren oder vor neugierigen Blicken schützen wollte (um sie lesen zu können, braucht man einen Spiegel).

Leonardo schuf wundervolle Ölporträts mehrerer Frauen und versprach, Isabella d’Este zu malen, die Frau von Francesco Gonzaga, Markgraf des kleinen, aber wohlhabenden Stadtstaates Mantua. Isabella war seit ihrer Hochzeit eine eifrige Kunstsammlerin. Sie richtete sich ein studiolo ein, ein prächtiges Studierzimmer mit Gemälden, die sie bei führenden Künstlern in Auftrag gab, sowie eine grotta, einen Ausstellungsraum, in dem sie antike Kunst, Bücher und Medaillen präsentieren konnte. Dies war damals mehr als ungewöhnlich für eine Frau. Statt des versprochenen Porträts fertigte Leonardo am Ende nur zwei Kreidezeichnungen von ihr an. Isabellas Korrespondenz mit Kunstkennern in ganz Italien ist beeindruckend – so wurde sie etwa durch den Briefwechsel mit einem Mönch in Florenz über Leonardos Aktivitäten informiert und hörte von ihrem Kunstagenten in Rom davon, dass Michelangelos Skulpturen zum Verkauf standen.

Unter Papst Julius II. entwickelte sich Rom zum ersten Mal seit der Antike wieder zu einer bedeutenden Kunstmetropole. Julius, der sein Amt 1503 angetreten hatte, war entschlossen, Rom zur großartigsten Stadt Europas zu machen. Den Schlüssel dazu sah er in der Kunst. Er gab überaus ehrgeizige Projekte in Auftrag und engagierte die besten Künstler, die er finden konnte. Sein Mäzenatentum kam dem der Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts gleich. Lorenzo de’ Medici hatte viele Künstler unterstützt, darunter Michelangelo und Leonardo, doch er war 1492 gestorben. Seinem ältesten Sohn Piero mangelte es an Führungsqualitäten, und binnen zwei Jahren wurde die Familie Medici aus Florenz verbannt. Die Zeit von Lorenzo il Magnifico, Lorenzo dem Prächtigen, war vorüber. Mit dem Exil der Medici wurde Rom zum neuen Zentrum der Renaissance.

Michelangelo, Leonardo und auch der vielversprechende junge Maler Raffael (Raffaello Santi, 1483–1520) gingen nach Rom. Zunächst traf Michelangelo dort ein, denn der Papst beauftragte ihn damit, sein monumentales dreigeschossiges und mit über vierzig Statuen geschmücktes Grabmal zu schaffen. Michelangelo war gerade damit beschäftigt, als die antike Laokoon-Gruppe in einem römischen Weinberg ausgegraben wurde, und der Papst schickte ihn hin, um sie zu begutachten. Plinius der Ältere hatte das bis dato verschollene Kunstwerk als großartigste jemals geschaffene Plastik bezeichnet. Der Papst kaufte sie umgehend für seinen Skulpturengarten im Vatikan, wo Michelangelo sie nach Lust und Laune studieren konnte.

Das Grabmal für den Papst bereitete Michelangelo immer wieder Probleme. Letztendlich brauchte er vierzig Jahre, um es zu fertigzustellen, und nach Julius’ Tod wurde der ursprüngliche Entwurf stark verkleinert. Als Michelangelo daran zu arbeiten begann, rief sein Talent allerdings Neider auf den Plan. Laut Michelangelos erstem Biografen, Ascanio Condivi, überredete der Architekt Donato Bramante den Papst, Michelangelo einen neuen Auftrag zu geben, sodass dieser die Arbeit an dem Grabmal unterbrechen musste. Bramante hoffte, Michelangelo würde resigniert Rom verlassen. Der neue Auftrag lautete, die gesamte Decke der Sixtinischen Kapelle auszumalen. Botticelli, Ghirlandaio und andere Künstler hatten dreißig Jahre zuvor die Wände der Kapelle mit Fresken geschmückt, die Decke war ein blauer Himmel mit goldenen Sternen als Symbol für den Kosmos. Nun sollte sie nach dem Wunsch des Papstes mit biblischen Figuren gestaltet werden.

Michelangelo hatte zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Gemälde vollendet, trotzdem muss dieser Auftrag eine Herausforderung für ihn gewesen sein, und er war wohl auch nicht begeistert darüber, dass er dafür sein anderes Projekt unterbrechen musste. Er wollte die Sache möglichst rasch hinter sich bringen. Das Problem war nur, dass es sich um eine Fläche von 40 mal 13 Metern handelte, ein halbes Fußballfeld. Außerdem war die Decke gewölbt und befand sich an ihrem höchsten Punkt mehr als 20 Meter über dem Boden. Michelangelo musste sich erst einmal überlegen, wie er dort hinaufgelangen konnte, und so entwarf er ein spezielles Holzgerüst. Mit der Freskotechnik malte er auf den feuchten Putz, der jeden Morgen frisch aufgetragen werden musste. Um sicherzustellen, dass seine Figuren maßstabsgetreu waren und jeder Abschnitt richtig ausgerichtet war, arbeitete er mit Zeichnungen in Originalgröße, den sogenannten Kartons. Die Umrisse auf diesen großen Bögen wurden in regelmäßigen Abständen mit einer Nadel durchstochen. Dann hielt man den Karton über den für diesen Tag vorbereiteten nassen Putz und stäubte Kohlenstaub darüber, sodass sich schwarze Punkte abzeichneten, die die Umrisslinien der Zeichnung wiedergaben.

Begonnen im Jahr 1508, war die Decke der Sixtinischen Kapelle nach vier Jahren fertig. Über die Länge der Decke erstrecken sich neun Bildfelder mit Szenen aus der Genesis, dem ersten Buch der Bibel. Gott trennt das Licht von der Finsternis und erschafft Adam und Eva, indem er seine göttliche Hand ausstreckt. Dann werden die beiden aus dem Paradies vertrieben, und Gott schickt den Menschen die Sintflut, um sie zu bestrafen. Michelangelo malte die Figuren so plastisch, dass sie der Laokoon-Skulptur in nichts nachstehen. Sie wirken massiv und dreidimensional, und durch die perspektivische Verkürzung sieht es von unten so aus, als würden sie tatsächlich auf der gewölbten Decke sitzen oder liegen. Zu den Seitenwänden hin erstrecken sich Sibyllen und Propheten, die auf gemalten architektonischen Elementen sitzen, sodass der Betrachter glaubt, ein Gewölbe mit Simsen und Säulen vor sich zu haben. Die Sibyllen – weibliche Propheten, die die Zukunft vorhersagen konnten – sind viel größer als die Figuren von Gott, Adam und Eva. An ihnen wird deutlich, wie ausgezeichnet Michelangelos Kenntnis der menschlichen Muskulatur war, auch wenn viele, wie die libysche Sybille, mit ihrem breiten Rücken und ihren kräftigen Unterarmen recht maskulin geraten sind. Michelangelos Modelle waren nackte Männer, keine Frauen, und als unverheirateter homosexueller Mann war sein Wissen über den weiblichen Körpers begrenzt. Die zwanzig attraktiven Ignudi (nackte Männer), die sich an der Decke räkeln und die zentralen Bildflächen einrahmen, erscheinen besser getroffen.

62  Michelangelo, Sibylla Libyca, 1508–1512, Sixtinische Kapelle (Nordseite), Vatikanische Museen, Rom

Michelangelo mühte sich hoch oben auf seinem Gerüst, die Arme ausgestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt, und malte gegen die Schwerkraft an. Da arbeitete Raffael von 1509 bis 1511 gleich auf der gegenüberliegenden Hofseite schon unter sehr viel angenehmeren Bedingungen. Der neunundzwanzigjährige Raffael schmückte die Privatgemächer des Papstes mit Fresken aus. Ein Raum, heute als Stanza della Segnatura (Gerichtssaal) bekannt, war als Bibliothek des Papstes vorgesehen. Die Bildmotive reflektieren die vier Gebiete des humanistischen Wissens: die Philosophie, die Theologie, die Literatur und die Jurisprudenz. Anstatt Allegorien der Philosophie oder der Jurisprudenz (Figuren, die diese Disziplinen symbolisieren) zu erschaffen, malte Raffael echte Menschen, ließ die Autoren jener Bücher, die die Wände unterhalb der Fresken füllen würden, lebendig werden.

Raffael würdigte historische und zeitgenössische Denker und malte sie vor einer Kulisse, die sowohl an das antike Griechenland als auch das damalige Rom erinnert. Das Wandfresko, auf dem Philosophen, Gelehrte und Mathematiker versammelt sind, trägt heute den Titel Die Schule von Athen. Durch einen gemalten Bogen blicken wir in einen luftigen, mit Skulpturen geschmückten Raum. Philosophen jeden Alters sind ins Gespräch vertieft, wobei Platon, der sich mit seinem Schüler Aristoteles unterhält, die Mitte einnimmt. Platon ist als alter Mann mit wallendem weißen Haar und Bart dargestellt, möglicherweise ein Porträt von Leonardo. Der missmutige Einzelgänger, der im Vordergrund den Ellbogen auf einen Steinblock stützt, soll Michelangelo in Gestalt des griechischen Philosophen Heraklit darstellen. Raffael verewigte sich sogar mit einem Selbstporträt, er ist der junge Mann mit schwarzer Baskenmütze, der ganz rechts außen hinter Ptolemäus gerade noch zu sehen ist.

La Scuola di Atene. D.R.

63  Raffael, Die Schule von Athen (Ausschnitt), 1509–1511, Wandfresko in der Stanza della Segnatura, Vatikanische Museen, Rom

Als die Sixtinische Kapelle und die Gemächer des Papstes fertig waren, kehrte Michelangelo nach Florenz zurück, wo die Medici inzwischen wieder an der Macht waren. Raffael blieb in Rom, genoss seine Position am päpstlichen Hof und arbeitete für Papst Julius II. und seinen Nachfolger Papst Leo X. Der neue Papst war Lorenzo de’ Medicis Sohn. Er wollte der Sixtinischen Kapelle seinen eigenen Stempel aufdrücken, aber wie sollte er mit Michelangelos Decke konkurrieren? Er kam auf die Idee, von Raffael eine Serie von Teppichen zur Auskleidung der Seitenwände entwerfen zu lassen. Die Teppiche zeigten das Leben der Heiligen Petrus und Paulus, der Gründerväter des Christentums. Sie kosteten zehnmal so viel, wie Michelangelo für seine Deckengemälde bekommen hatte. Obwohl sie so teuer waren, wurden in Brüssel mehrere Sets dieser Teppiche nach Raffaels detaillierten Kartons gewoben. Der englische König Heinrich VIII. bestellte eines davon für seinen Palast in Westminster, ein paar Jahre, nachdem er England von der Kontrolle durch den Papst befreit und die Church of England gegründet hatte. Den Hof von Heinrich VIII. werden wir erst in Kapitel 16 besuchen, aber im folgenden Kapitel werden wir erfahren, dass es nördlich der Alpen bereits zu religiösen Unruhen kam, was sich auch auf die Kunst auswirkte. Der Protestantismus entstand und der Reformator Martin Luther bezichtigte die reiche katholische Kirche der Korruption.