Kapitel 18

Das Theater des Lebens

Caravaggio packt seine Habseligkeiten zusammen. Man schreibt das Jahr 1595. Er ist im Begriff, in seine neue Unterkunft im Haus des Kardinals del Monte in Rom umzuziehen. Vergangenes Jahr hat der Kardinal Caravaggios Gemälde Die handlesende Zigeunerin und Die Falschspieler erworben, nun soll er für ihn arbeiten. Caravaggio denkt über sein großes Glück nach. Erst vor drei Jahren war er als hitzköpfiger Einundzwanzigjähriger nach Rom gekommen, wo er als Blumen- und Obstmaler im Atelier des Cavaliere d’Arpino arbeitete. Jetzt hat er einen Kardinal als Mäzen.

77  Caravaggio, Jüngling, von einer Eidechse gebissen (Ausschnitt), um 1593, Fondazione Longhi, Florenz

Caravaggio malt gern hübsche Knaben mit vollen Lippen und funkelnden Augen in verführerischen und aufreizenden Posen. Nun aber plant er ein neues Gemälde, inspiriert von einer Zeichnung, die er kürzlich in der Sammlung eines Bekannten des Kardinals, Fulvio Orsini, dem Bibliothekar von Kardinal Farnese, entdeckt hat. Bei der Zeichnung handelt es sich um Asdrubale, von einem Flusskrebs gebissen von Sofonisba Anguissola. In Caravaggios Version, Jüngling, von einer Eidechse gebissen, will er einen heranwachsenden Jungen zeigen, kein Kleinkind, aber er will dasselbe Gefühl des Schocks vermitteln, die rechte Hand, die sich ruckartig zurückzieht und versucht, das Wesen abzuschütteln, das ihn gebissen hat, den Blick des Jungen, seine vor Schmerz zerfurchte Stirn, den offenen Mund. Caravaggio kann das Bild bereits sehen, reife Kirschen, die auf einem Tisch vor dem Jungen verstreut sind, und eine Blume, die hinter seinem Ohr steckt. Die Köstlichkeit der Jugend und der scharfe Biss der Liebe.

Es macht ihm Freude, diese Knaben zu malen, aber er weiß, dass er größere Aufträge braucht, wenn er es mit dem Cavaliere d’Arpino aufnehmen und der begehrteste Maler Roms werden will. Kardinal del Monte könnte der Mann sein, der ihm dazu verhilft.

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Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610) lebte fünf Jahre lang unter dem Dach des Kardinals del Monte. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits einen weiteren Rivalen um den Titel des größten Künstlers in Rom, Annibale Carracci (1560–1609). Er stammte wie Caravaggio aus Norditalien, aus Bologna, wo er mit seinem Bruder Agostino und seinem Cousin Ludovico ein erfolgreiches Atelier und eine Kunstakademie geführt hatte. Dort hatte er sich für eine Rückkehr zum Zeichnen nach dem Leben eingesetzt, im Gegensatz zu den künstlichen Übersteigerungen der Manieristen, und er hatte die Werke von Tizian und Veronese studiert. Als er 1594 in Rom eintraf, war er bereits ein gefeierter Künstler und erhielt schnell prestigeträchtige Aufträge. Während Caravaggio sich in die Zeichnungssammlung des Bibliothekars von Farnese vertiefte, gestaltete Carracci eine ganze Decke im Palast des Kardinals Farnese mit Fresken. In ihnen wimmelt es von Liebesgeschichten aus der antiken Mythologie mit nackten Göttern und Göttinnen, die sich in idealisierten Landschaften tummeln, allesamt von «Skulpturen» eingerahmt, die in einem virtuosen Trompe-l’œil vollständig in Farbe ausgeführt sind. Die Decke sollte Farneses beeindruckende Sammlung antiker Skulpturen ergänzen, von denen viele in den Nischen darunter ausgestellt waren. Doch das eigentliche Ziel der Fresken war es wohl, den Beweis zu erbringen, dass die Malerei und nicht die Bildhauerei die überlegene Kunst sei – eine Debatte, die als Paragone bekannt ist und in theoretischen Texten der damaligen Zeit hitzig geführt wurde.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts strotzte Rom nur so vor künstlerischem Talent. Warum zogen dennoch immer weitere Künstler nach Rom? Weil die katholische Kirche wieder erstarkte und dort die größten Geldtöpfe und die prächtigsten Aufträge winkten. Außerdem kamen Künstler aus aller Herren Länder nach Rom, um die klassische Kunst und die brillanten Werke der Renaissance von Michelangelo und Raffael zu studieren. In Rom konkurrierten sie um Aufträge oder wurden gegeneinander ausgespielt, indem man sie Gemälde für ein und denselben Bestimmungsort anfertigen ließ. Im Juli 1600 erhielt Carracci den Auftrag für die Deckenfresken und das Altarbild in der Kapelle von Tiberio Cerasi in Santa Maria del Popolo in Rom. Zwei Monate später beauftragte Cerasi, ein wohlhabender Advokat und Generalschatzmeister des Papstes, Caravaggio mit der Ausmalung von zwei großen Tafeln, die denselben Altar flankieren sollten.

Carraccis Altarbild, Mariä Himmelfahrt, ist ein Meisterwerk der harmonischen Bewegung. Die Jungfrau steigt mit ausgestreckten Armen in den Himmel auf. Das göttliche Licht umgibt sie mit einem goldenen Heiligenschein, Engel tragen sie in die Höhe. Beim Betreten der Kapelle scheint sie den Besucher mit offenen Armen zu empfangen. Welch ein Kontrast zu den beiden von Caravaggio gemalten Tafeln an den angrenzenden Wänden. Nach Carraccis transzendenten Blau-, Rot- und Goldtönen holt Caravaggios Palette von Braun-, Weiß- und Ockertönen den Betrachter wieder auf die Erde zurück. Zwar gibt es auch bei Caravaggio rote Farbtupfer, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und mit der Himmelfahrt konkurrieren, aber seine beiden Tafeln sind trotz ihrer religiösen Themen in der Erde, in der realen Welt verwurzelt.

LRI4720421 The Assumption of the Virgin Painting by Annibale Carracci (Carrache) (1560-1609) 1600-1601 Rome, Basilica di Santa Maria del Popolo (Church of Santa Maria del Popolo), Cerasi Chapel; (add.info.: The Assumption of the Virgin Painting by Annibale Carracci (Carrache) (1560-1609) 1600-1601 Rome, Basilica di Santa Maria del Popolo (Church of Santa Maria del Popolo), Cerasi Chapel); Photo © Luisa Ricciarini; it is possible that some works by this artist may be protected by third party rights in some territories.

78  Annibale Carracci, Die Himmelfahrt Mariens, 1600–1601, Altarbild Santa Maria del Popolo, Rom

Auf der rechten Seite, in Caravaggios Die Bekehrung des Apostels Paulus, liegt der Heilige auf dem Rücken, nachdem er gerade von seinem Pferd gestürzt ist, das nun vorsichtig mit den Hufen um ihn herumtänzelt. Paulus reckt die Hände zum Himmel, sein Körper ist dramatisch verkürzt dargestellt, seine Augen sind vom göttlichen Licht geblendet. Man hat das Gefühl, dass er wirklich direkt vor einem liegt. Caravaggios dramatischer Einsatz von Licht und dunklen Schatten lässt Paulus in unseren Raum eindringen. Seine Arme wirken skulptural und nehmen einen realen Raum ein, im Gegensatz zu denen der Jungfrau in Carraccis Himmelfahrt, die Teil der gemalten Oberfläche bleiben. Auf der linken Seite, in Die Kreuzigung des heiligen Petrus, geht Caravaggio sogar noch weiter, und die Zickzack-Komposition ist derart mit Energie aufgeladen, dass sie wie belebt wirkt. Für uns, die wir mit Kino und Fernsehen aufgewachsen sind, ist Caravaggios dramatischer Realismus auf eine Weise anziehend, wie es Carraccis idealisierter klassischer Stil nicht sein kann. Dieses Beispiel zeigt wieder einmal, wie wichtig es ist, uns zu vergegenwärtigen, dass in jede Kunstbetrachtung auch stets unsere eigenen Erfahrungen einfließen. Caravaggio spricht laut und deutlich zu uns, und bis heute lassen sich Künstler von seinen kraftvollen, dramatischen Bildern inspirieren.

Caravaggio und Carracci gelten als Barockmaler. Barock ist ein weit gefasster Begriff, der sich auf die gesamte Kunst des 17. Jahrhunderts bezieht. In ihrem Mittelpunkt steht das Gespür für Dramatik, Bewegung und dynamisches Geschehen, wie es in Caravaggios aufregenden Gemälden zum Ausdruck kommt. Damals dominierte jedoch an den neuen Kunstakademien der klassische Stil Carraccis mit seinen Wurzeln in der antiken Bildhauerei, der griechischen Mythologie und der Renaissance. Auch die frühen Kunstbiographen zogen Carraccis Idealismus dem verblüffenden Realismus Caravaggios vor, und so wurde Carraccis Stil für die nächsten 300 Jahre zum Vorbild aller Akademiestudenten.

Als Caravaggio und Carracci den Auftrag für die Cerasi-Kapelle erhielten, waren sie erbitterte Rivalen. Caravaggios dramatischer Stil fand umgehend Nachahmer in ganz Europa, die man darum als Caravaggisten bezeichnete. Im Gegenzug sorgte die Carracci-Akademie in Bologna für stetigen Nachwuchs an Klassizisten wie Guido Reni (1575–1642), die den Caravaggisten Paroli bieten wollten und konnten. Lavinia Fontana (1552–1614) wuchs ebenfalls in Bologna auf, konnte aber aufgrund ihres Geschlechts nicht in die Carracci-Akademie eintreten. Glücklicherweise war ihr Vater, Prospero Fontana, einer der führenden Maler des Manierismus in Bologna und bildete sie zu Hause aus.

Obwohl Lavinia heiratete und elf Kinder bekam, war sie die Ernährerin der Familie. Sie malte religiöse Szenen, Altarbilder und Porträts des Bologneser Adels und leitete eine eigene Werkstatt. Die 1088 gegründete Universität von Bologna hatte lange Zeit die Ausbildung von Frauen gefördert, und die Stadt war daher führend in der Unterstützung von Künstlerinnen. Lavinia konnte die Preise für ihre Werke selbst bestimmen, was den Künstlerinnen vor ihr nicht möglich gewesen war, und sie arbeitete an Aufträgen für die Medici und Philipp II. von Spanien, wobei sie bewusst mit dem Erbe von Sofonisba Anguissola konkurrierte. Laut frühen Biographen verdiente sie genausoviel wie die führenden männlichen Künstler ihrer Zeit, und in kirchlichen Berichten heißt es, dass sie für ihr Altarbild für die Kathedrale von Bologna mehr Geld erhielt als die Familie Carracci für ein ähnliches Werk.

Nach einer erfolgreichen Karriere in Bologna zog Fontana 1603 mit ihrer gesamten Familie nach Rom, um für den Papst zu arbeiten. Eines ihrer letzten Gemälde dort war der Akt Minerva kleidet sich an. Die römische Kriegsgöttin erscheint hier in einem transparenten, mit Gold durchwirkten Umhang, der im Licht glitzert. Sie trägt einen mit roten und weißen Federn geschmückten Helm und ist im Begriff, sich für den Kampf zu rüsten. Obwohl ihr nackter Körper unter dem Gewand sichtbar ist, erscheint Minerva nicht als passives Objekt der Schönheit. Man sieht sie von der Seite, wie sie auf einen Brustpanzer zugeht, den sie sogleich anlegen wird, wobei ihre kräftigen Oberschenkel, ihr Gesäß und ihr Bizeps auf ihre körperliche Stärke hinweisen. Ottaviano Rabasco pries dieses Gemälde in einem zeitgenössischen Gedicht, und Fontana genoss in Rom großen Ruhm. Sie wurde in die ansonsten ausschließlich männlichen Künstlern vorbehaltene Akademie des heiligen Lukas aufgenommen und lebte bis zu ihrem Tod 1614 in der Stadt.

79  Lavinia Fontana, Minerva kleidet sich an, 1613, Privatsammlung

Als Fontana starb, war auch das Rom von Carracci und Caravaggio verschwunden. Carracci war 1609 im Alter von 49 Jahren nach einem Nervenzusammenbruch gestorben und wurde neben Raffael im Pantheon beigesetzt. Caravaggio flüchtete, nachdem er Ranuccio Tomassoni im Duell getötet hatte, und starb 1610 mit 38 Jahren in der Toskana. Doch in den Werken der Caravaggisten und der Maler der klassischen Akademie lebten ihre Stile weiter.

Der Maler Orazio Gentileschi war ein Freund Caravaggios und gehörte zu den Caravaggisten. Orazios Tochter Artemisia (1593–1655) wuchs unter Künstlern auf, und ihr Vater förderte schon früh ihr Talent. Bereits als Heranwachsende schuf sie große biblische Szenen wie Susanna und die Ältesten (1610), die auf einer Erzählung des Alten Testaments beruht, nach der zwei lüsterne Greise das Mädchen beim Baden beobachten und bedrängen. Artemisia Gentileschi erfuhr im wirklichen Leben noch Schlimmeres, als sie im Alter von 17 Jahren von einem Mann vergewaltigt wurde, der mit ihrem Vater zusammenarbeitete. Nach einem langwierigen Gerichtsverfahren wurde ihr Peiniger zwar aus Rom verbannt, doch er ignorierte das Urteil. Stattdessen zog Artemisia fort, heiratete einen Maler in Florenz und lebte dort sieben Jahre lang, bevor sie nach Rom zurückkehrte.

Gentileschis Aufenthalt in Florenz festigte ihren Ruf als außergewöhnliche Künstlerin. Sie ließ sich vom Werk Caravaggios inspirieren und schuf Gemälde von großer Präsenz und Ausdruckskraft. Ein von Caravaggio 1599 bearbeitetes Thema, Judith enthauptet Holofernes, interpretierte sie neu. Gentileschi gibt der Szene, in der die jüdische Witwe Judith dem betrunkenen assyrischen General Holofernes, der ihre Heimatstadt Bethulia zerstören will, den Hals durchschneidet, größere Glaubwürdigkeit. In Gentileschis erster Fassung dieses Themas (1612–1613) liegt Holofernes auf einem Bett, den Kopf dem Betrachter zugewandt; nur Judith und ihre Magd Abra sind außer ihm in dem dunklen Zelt. Da Gentileschi weiß, dass eine Frau wie Judith der Kraft eines kampfgestählten Soldaten nicht gewachsen ist, lässt sie die Magd Holofernes niederdrücken, während Judith ihm das Schwert an die Kehle setzt. Zugleich krallt sie ihre Linke in seinem Haar fest und zieht ihm mit einem Schwung die Klinge durch den Hals, ein Knie auf das Bett als Gegengewicht gestützt. In ihrem Gemälde überträgt Gentileschi die Energie, die Caravaggio dem sterbenden Holofernes verliehen hatte, auf die beiden Frauen, die ihn töten.

80  Artemisia Gentileschi, Judith enthauptet Holofernes, zweite Version von 1620, Uffizien, Florenz

Nur ein Jahr später begann die zwanzigjährige Gentileschi die Szene erneut zu malen, dieses Mal im Auftrag von Cosimo II. de’ Medici. In der neuen Version versieht sie Judith mit noch mehr physischer Stärke; mit einer Drehung des Oberkörpers legt sie ihre ganze Kraft in das Schwert. Holofernes’ Blut besudelt die Laken und spritzt aus seinem Hals auf ihre Arme, ihr Kleid und ihre Brüste. Gentileschi scheut sich nicht, den Körper einer Frau im Moment höchster Anstrengung zu zeigen – mit verzerrtem Gesicht, zusammengekniffenen Augenbrauen, auch ein Doppelkinn zeichnet sich ab, während sie sich mit der Klinge schindet. Die Anspannung in Schultern und Armen lassen ihre Brüste aus dem Mieder hervortreten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gentileschi viel Zeit vor dem Spiegel verbracht und sich selbst in dieser Pose studiert hat, um die Szene so realistisch wie möglich zu gestalten.

Mit diesem Gemälde sicherte sie sich ihren Rang als eine der großen Barockmalerinnen. Sie war die erste Frau, die in die Kunstakademie von Florenz aufgenommen wurde, und es gelang ihr, sich ein Atelier außerhalb des Familienhauses einzurichten, was für eine Frau zu dieser Zeit keine leichte Aufgabe war. Ihre Darstellung von Frauen als glaubwürdige Heldinnen der Geschichte, die aktiv und engagiert agieren, steht in scharfem Kontrast zu den Bildnissen erfolgreicher männlicher Künstler jener Zeit, deren Frauengestalten oft als passive Objekte der Begierde erscheinen.

Die Karrieren von Gentileschi und Fontana markieren einen entscheidenden Moment für Künstlerinnen. Schon vor ihnen gab es erfolgreiche Malerinnen, die Könige und Königinnen abbildeten, wie Susanna Horenbout und Sofonisba Anguissola, oder erfolgreiche Malschulen in Klöstern leiteten wie Plautilla Nelli. Aber wie man aus den bisherigen Kapiteln ersehen kann, waren sie eher die Ausnahme als die Regel. Mit Gentileschi und Fontana ändert sich jedoch etwas. Sie nehmen traditionell von Männern gemalte Themen auf, biblische Szenen und weibliche Akte, und stellen sie aus einem anderen Blickwinkel dar, indem sie ihren Frauenfiguren Macht verleihen, sie stark und selbstbewusst zeigen. Schon zu Lebzeiten wurden sie als außergewöhnliche Talente anerkannt, und sie waren die Ersten, die den bis dahin ausschließlich Männern vorbehaltenen Kunstakademien von Florenz und Rom beitreten durften. Gentileschi und Fontana bewiesen, dass Malerinnen es mit ihren männlichen Kollegen aufnehmen konnten und von ihnen akzeptiert wurden. Wir werden sehen, welchen Einfluss sie hatten, denn von nun an werden immer mehr Künstlerinnen in diesem Buch eine Rolle spielen.