Kapitel 28

Künstler zeigen Haltung

Der extravagant gekleidete Amerikaner James Abbott McNeill Whistler schwingt auf dem Weg zum Gerichtssaal sein Spazierstöckchen. Es ist der 26. November 1878. Der Vierundvierzigjährige ist mit seinem lockigen schwarzen Haar, dem Monokel, dem eng geschnittenen Gehrock und den Lacklederschuhen eine Erscheinung, nach der die Passanten den Kopf drehen. Heute ist der zweite Tag seines Verleumdungsprozesses gegen John Ruskin, den er wegen einer bitterbösen Kritik eines seiner Bilder verklagt hat. Vor Gericht will er seinen guten Ruf verteidigen, und außerdem könnte er die 1000 Pfund Entschädigung, die er fordert, gut gebrauchen, um seinen Schuldenberg abzutragen.

492849 Nocturne in Black and Gold, the Falling Rocket, 1875 (oil on panel) by Whistler, James Abbott McNeill (1834-1903); 60.2x46.7 cm; Detroit Institute of Arts, USA; (add.info.: by James Abbott McNeill Whistler); © Detroit Institute of Arts . Please note: This photograph requires additional permission prior to use. If you wish to reproduce this image, please contact Bridgeman Images and we will manage the permission request on your behalf.

117  James Abbott McNeill Whistler, Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete, um 1875, Detroit Institute of Arts

Ruskin, damals der einflussreichste Kunstkritiker Englands, hatte ein vernichtendes Urteil über Whistlers letzte Ausstellung gefällt. Der Anhänger genauer Naturbeobachtung hatte vor allem Whistlers Bild Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete ins Visier genommen, ein Gemälde, das den flüchtigen Moment eines Feuerwerks über der Themse einzufangen versucht.

Er hatte Whistler als «Hanswurst» bezeichnet, der die Frechheit besäße, «200 Guineen (ungefähr 17.000 Euro) dafür zu verlangen, dass er dem Publikum einen Topf Farbe ins Gesicht schleudert». Whistler war es bei Nocturne nicht um eine realistische Darstellung gegangen. Er hatte die glitzernden Feuerwerksfunken vor dem dunklen Nachthimmel und die Stimmung des Abends festhalten wollen. Doch Ruskin sah das völlig anders.

Der Gerichtssaal ist gerammelt voll, als Whistler in den Zeugenstand tritt. Ruskin hat den Kronanwalt Sir John Holker mit seiner Verteidigung betraut. Holker scheint sich Mühe zu geben, Whistlers Bilder zu verstehen. «Haben Sie lange für Nocturne in Schwarz und Gold gebraucht?», fragt er ihn. «Wie schnell haben Sie das denn runtergemalt?» In der Jury kommt Gelächter auf. Völlig unbeeindruckt antwortet Whistler: «Ich habe es wohl in zwei Tagen runtergemalt.» Holker denkt schon, er habe Whistler nun in die Enge getrieben. «Und dafür verlangen Sie 200 Guineen?» Nein, antwortet Whistler, das Geld verlange er für das Wissen, das er sich im Verlauf seines ganzen Lebens angeeignet habe. Die Zuschauer applaudieren, und Whistler macht sich Hoffnungen, den Prozess zu gewinnen.

◊ ◊ ◊

Am Ende gewann Whistler tatsächlich den Sensationsprozess, doch anstatt der erhofften 1000 Pfund Entschädigung wurde ihm lediglich symbolisch ein Farthing (ein Viertelpenny) zugesprochen. Und er blieb auf seinen Prozesskosten sitzen. Es war ein Pyrrhussieg – in der Sache hatte er gewonnen, doch die Folgen kamen ihn teuer zu stehen. Der Richter zeigte wenig Sympathie für einen Streit um bloße Worte zwischen zwei erfolgreichen Männern. Beider Ruf war durch den Prozess beschädigt, doch Whistler verlor zudem sein Hab und Gut: Er musste sein neues, im japanischen Stil errichtetes Haus verkaufen, dazu seine Möbel, seine Sammlung von Drucken und Porzellan und auch die Bilder in seinem nach eigenen Plänen erbauten Atelier. Er war bankrott.

Der in den USA geborene Whistler hatte seine Kindheit zeitweise in Russland verbracht, wo sein Vater als Berater beim Aufbau des Eisenbahnnetzes half. Anschließend studierte er Kunst in den USA und Frankreich, sodass er mit den vorherrschenden Kunstströmungen in beiden Ländern bestens vertraut war. Er stand den Präraffaeliten nahe, und als er sich in England niederließ, wurde er eine führende Figur des Ästhetizismus. Die Künstler und Gestalter dieser Bewegung waren der Überzeugung, auch ohne figurative Abbildung allein mit Farbe, Form und Linie schöne und harmonische Werke schaffen zu können. «L’art pour l’art» war ihr Motto, «Kunst um der Kunst willen».

Whistler beeindruckte die Harmonie, die japanische Kunst ausstrahlte, und er versuchte, dies auf westliche Ölgemälde zu übertragen. Seine Porträts sind Studien in Weiß und Grau, seine Flusslandschaften poetische Skizzen in gedämpften Grau-, Blau- und Schwarztönen. Die Bedeutung seines Beitrags zur Kunst liegt darin, dass er die Darstellung der realen Welt hinter sich lassen wollte und die Sprache der Malerei selbst zu erforschen versuchte. Er war mehr wie ein klassischer Musiker, der mit Tönen und Klängen Stimmungen und Atmosphären zu erzeugen versucht, nicht wie ein Sänger, der populäre Melodien trällert. In einer Vorlesung erklärte er später: «Die Natur enthält in Farbe und Form die Elemente sämtlicher Bilder, so wie eine Klaviatur die Noten der gesamten Musik enthält. Doch der Künstler ist dazu da eine Wahl zu treffen … bis er aus dem Chaos die vollendete Harmonie schafft.» Sein Werk ermutigte Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, noch weiter zu gehen, bis sie schließlich den Bildgegenstand völlig fallen ließen und die ersten abstrakten Gemälde der westlichen Kunst schufen.

Whistlers Zeitgenossen an der Ostküste Amerikas hatten ein völlig anderes Kunstverständnis. Winslow Homer (1836–1910) malte das Amerika, das sich die Menschen nach dem grausamen Bürgerkrieg ersehnten, in dem zwischen 1861 und 1865 mehr als 600.000 Soldaten gestorben waren. Der in Boston geborene Homer hatte nach einer Lehre als Lithograf die populäre Zeitschrift Harper’s Weekly mit Illustrationen über den Krieg versorgt. Doch nach dessen Ende ließ er das brutale Geschehen rasch hinter sich, um nostalgische Szenen aus dem Landleben zu schaffen. Während den langen Zeit der Rezession in den 1870er Jahren malte er Reiter, Schwimmer, Angler und Segler, wie beispielsweise in dem Bild Kräftige Brise (1873–1876). In dem Bild Jungs mit Wassermelone von 1876 machen sich drei Kinder über eine gestohlene Frucht her. Eines von ihnen späht, ein großes Stück in der Hand, vorsichtig über die Schulter. Die beiden anderen liegen auf dem Bauch und lassen sich die Beute schmecken. Dass Homer in dieser Darstellung schwarze und weiße Jungs einträchtig zusammen malt, zeichnet ein Bild von Integration, das von der Realität in Amerika weit entfernt war. Auch nach der Aufhebung der Sklaverei im Jahr 1863 blieb das Land von der Segregation gekennzeichnet.

XBP228803 The Watermelon Boys, 1876 (oil on canvas) by Homer, Winslow (1836-1910); Cooper-Hewitt, National Design Museum, Smithsonian Institution, NY, USA; Photo © Boltin Picture Library; American, out of copyright

118  Winslow Homer, Jungs mit Wassermelone, 1876, Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum, New York

Thomas Eakins (1844–1916) aus Philadelphia versuchte den Amerikanern nahezubringen, dass die Hautfarbe nebensächlich ist. In seinem Gemälde Die Klinik Gross aus dem Jahr 1875 demonstriert Eakins auch seine eigene anatomische Ausbildung, indem er den berühmten Chirurgen Samuel Gross bei einer Operation im Hörsaal zeigt. Vier Männer assistieren dem Chirurgen, der seinen wissbegierigen Studenten vorführt, wie man nekrotisches Knochengewebe entfernt, um dem Patienten die Amputation seines Beins zu ersparen. Er hält ein blutiges Skalpell in der Hand, während er Erläuterungen abgibt. So viel Realismus schlug manchen dann doch auf den Magen, was zur Folge hatte, dass Die Klinik Gross 1876 nicht für die Centennial International Exhibition in Philadelphia zugelassen wurde, die erste Weltausstellung in den USA anlässlich des hundertsten Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung. Das Bild wurde als zu drastisch, unästhetisch und obszön abgelehnt. Erst nachdem sich Gross persönlich für das Bild stark gemacht hatte, durfte es gezeigt werden, allerdings nur im medizinischen Pavillon. Es sollte dort als anschauliche Erläuterung zur Chirurgie dienen, nicht als künstlerische Darstellung des menschlichen Körpers, weder des inneren noch des äußeren.

Eakins war von der Gleichheit der Menschen überzeugt, welche Hautfarbe ein Mensch hatte, machte für ihn keinen wesentlichen Unterschied. In den USA war der Kampf für Gleichheit eine Frage der Ethnie, in Russland eine der Klasse. Zwei Jahre bevor Präsident Lincoln die Sklaverei abschaffte, hatte Zar Alexander II. 1861 die Bauern aus der Leibeigenschaft entlassen, was deren unglaublich hartes Leben allerdings nicht verbesserte. Russische Künstler sahen sich zunehmend in der Pflicht, in ihren Werken auch soziale Belange zu berücksichtigen. Dreizehn von ihnen brachen schließlich mit der tonangebenden Kunstakademie von St. Petersburg, die immer noch die klassizistischen Ideale hochhielt. Die Gruppe versuchte dem Volk ihre realistische, heimatverbundene Kunst auf Wanderausstellungen im ganzen Land näherzubringen und gab sich dazu passend den Namen «die Wanderer». Während es einem Whistler nur um seinen eigenen Ruf gegangen war, nahmen sich die Wanderer der Sache der Geknechteten und Verfolgten an.

Der in der Ukraine geborene Ilja Jefimowitsch Repin (1844–1930) schien zunächst künstlerisch einen anderen Weg einzuschlagen. Er verbrachte drei Jahre in Paris, als sich dort gerade die Impressionisten formierten, schloss sich 1878 dann aber doch den Wanderern an. Er wurde ein herausragendes Mitglied der Gruppe, bewundert von vielen anderen Künstlern, nicht zuletzt von Leo Tolstoi, der im Geiste des Realismus schrieb und den er mehrfach malte. Ähnlich dem Franzosen Courbet verstanden auch Repin und die Wanderer ihre Werke als Kommentare zur Gesellschaft, in denen sie die Leiden der Ärmsten schilderten. Ein Beispiel dafür ist Repins Bild Die Wolgatreidler, das 1870 entstand. Sein großformatiges Gemälde Unerwartete Heimkehr von 1884 zeigt das Wiedersehen eines Mannes mit seiner Familie. Er ist ein Narodnik, ein Mitglied einer sozialrevolutionären Bewegung, der von der Regierung nach Sibirien verbannt worden war. Der Mann steht in der Wohnstube, wie ein Fremder immer noch im Mantel, das Gesicht beinahe im Schatten, die Augen eingesunken und dunkel. Seine Kinder blicken erstaunt auf die sonderbare Gestalt, sie erkennen ihn nicht, und nur seine Mutter, die sich in Witwentracht aus ihrem Sessel erhebt, wendet sich ihm zu. Der nackte Dielenboden weist darauf hin, dass es nicht leicht war, sich während seiner Abwesenheit durchzuschlagen.

PZ 401:39 Inv 740 Ilya Repin They Did Not Expect Him, 1884-88 The State Tretyakov Gallery

119  Ilja Jefimowitsch Repin, Unerwartete Heimkehr, 1884, Tretjakow-Galerie, Moskau

Warum malten Künstler solche Menschen? Die Wanderer wollten sie sichtbar machen und ihnen eine Stimme geben, so wie Courbet es in Frankreich getan hatte. Zugleich wollten sie dem Leben dieser Menschen ein Denkmal setzen, waren sie sich doch bewusst, dass die moderne Welt dabei war, jahrhundertealte Traditionen auszulöschen. Mit der neuen Eisenbahn reisten die Künstler durchs Land, um das alte, im Verschwinden begriffene Leben einzufangen. So erreichten sie die Küsten, die die Grenzen des Landes bildeten: Pont-Aven in der Bretagne, Zandvoort in den Niederlanden und Newlyn in England. Diese Küstendörfer boten ihnen preiswerte Unterkünfte und reichlich Motive – Fischer und Frauen, Dorfbewohner in Tracht beim Kirchgang, malerisches Landleben. Weitab vom umtriebigen Leben der modernen Stadt, das die Impressionisten so sehr faszinierte, sahen die Künstler hier eine Möglichkeit, eine traditionellere Lebensweise kennenzulernen.

Elizabeth Adela Forbes (geborene Armstrong, 1859–1912) war eine in Kanada geborene Künstlerin, die in London und New York studiert hatte, bevor sie nach Pont-Aven und Zandvoort reiste, wo sie 1884 ihr Bild Fischermädchen in Zandvoort malte. Es zeigt eine junge Frau, die eine Hand in die Hüfte gestemmt hat und in der anderen eine Schale mit Fischen hält. Forbes positioniert sie vor einer unscheinbaren Wand, sodass unsere ganze Aufmerksamkeit auf ihren entschlossenen Blick gerichtet ist. Sie schaut uns direkt an; die Morgensonne bildet einen Lichtsaum um ihr Haar und ihre Schürze.

Forbes reiste in Begleitung ihrer Mutter. Gemeinsam ließen sie sich in Newlyn in Cornwall nieder, wo sie in einem Atelier arbeitete, in dem große Haufen von Fischernetzen lagen. In Cornwall lernte sie auch ihren Ehemann Stanhope Forbes (1857–1947) kennen. Sein Bild Fischverkauf am Strand von Cornwall von 1884/85, auf dem Fischer ihren Fang an Land bringen, ist eine Momentaufnahme des Lebens an der Küste. Ein Rochen, eine Makrele und andere Fische liegen zu Füßen von zwei jungen Frauen, die mit einem Fischer mit grauem Bart und Südwester auf dem Kopf reden. Andere Frauen schleppen schwere mit Fisch gefüllte Körbe, während graue Wellen ihre Füße umspielen. Stanhope Forbes stellte in London aus, und bald sprach man von der Newlyn School als einer Künstlerkolonie. Stanhope und Elizabeth gründeten eine Galerie, die bis heute unter dem Namen Newlyn Art Gallery besteht. Die Künstlerkolonie Newlyn School sorgt dafür, dass die Gegend bis heute ein Anziehungspunkt für Künstler ist.

Viele französische Künstler sparten sich Auslandsreisen, spielten sich viele der aufregendsten Entwicklungen in der Kunst doch direkt vor ihrer Pariser Haustür ab. Die Impressionisten malten die Hauptstadt und hielten dort 1886 ihre achte und letzte Ausstellung ab. Dort war auch das Bild Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte von Georges Seurat (1859–1891) zu sehen, an dem er in den Jahren 1884–1886 in einem bahnbrechenden neuen Stil gemalt hatte. Seurat machte sich die wissenschaftliche Farbtheorie der Impressionisten zu eigen, stellte sie allerdings auf den Kopf. Wie jeder Maler wusste er, dass man durch Mischen verschiedener Farben neue erhält – zum Beispiel Orange durch die Vermischung von Rot und Gelb. Doch was, wenn man die Farben nicht bereits vermischt auf die Leinwand auftrug, sondern nur rote und gelbe Punkte, und dem Auge des Betrachters die Farbmischung überließ? Was, wenn man daneben Punkte der Komplementärfarben setzte, um die Farben richtig zum Leuchten zu bringen? Das Ergebnis war das Bild Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte, ein großformatiges Gemälde von über 3 Metern Breite.

120  George Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte, 1884–1886, Art Institute, Chicago

Die Île le de la grande Jatte ist eine große Insel in der Seine westlich von Paris. In Seurats Gemälde steht ein bürgerliches Paar im Schatten und blickt über den in der Sonne schimmernden Fluss. Sie stehen kerzengerade da und sind im Sonntagsstaat gekleidet. Um sie herum sieht man einen Affen an einer Leine und Hunde, Kinder rennen umher, ein Mädchen bindet einen Blumenstrauß, ein Pfeife rauchender Kanufahrer ruht sich aus. Der Kritiker Félix Fénéon war beeindruckt: «Die Atmosphäre ist einzigartig transparent und lebendig, die Oberfläche scheint zu vibrieren.» Seurat bemalte die gesamte Leinwand ausschließlich mit Punkten, einschließlich einer Rahmenlinie, auf die er kleine rote Tupfer setzte, die dem grünen Gras seine besondere Leuchtkraft geben. Die Menschen dagegen wirken statisch und leblos. Sie sind zumeist im Profil gemalt, sie sitzen oder stehen allein, isoliert in ihrem eigenen Schattenumriss, Ausdruck der Anonymität des modernen Stadtlebens.

Seurats schillernder neuer Stil, der als Pointillismus bekannt ist, stellt einen klaren Bruch mit dem Impressionismus dar und inspirierte zahlreiche Nachahmer.

Fénéon sah in ihm den Beginn einer neuen Kunstrichtung, die er Neo-Impressionismus nannte. Er charakterisierten sie als Ablehnung der «flüchtigen Erscheinungen», die der Impressionismus einzufangen versuchte, und einen Versuch, das zeitlose Wesen einer Szene zu erfassen. Die Künstler, die ihm folgten, gelten als Post-Impressionisten: Van Gogh, Gauguin, Cézanne. Heute sind ihre Werke weltberühmt, doch zu ihren Lebzeiten konnten sie kaum etwas verkaufen. Trotz der geringen Anerkennung durch das Publikum stürzten sie sich mit großer Hingabe in die Kunst, was für sie teils gefährliche, ja sogar tödliche Folgen hatte.