Leon ließ sich Zeit mit der Obduktion. Er betrachtete die Opfer von Unfällen oder Gewaltverbrechen nicht als »Beweise«, wie es viele seiner Kollegen taten. Für Leon waren die Menschen, die auf seinem Seziertisch landeten, »Patienten«, und genauso behandelte er sie auch – mit Respekt und Empathie. Zunächst hatte er die Leiche von Monsieur Charles Bagaud nur betrachtet. Er hatte sich mit dem Opfer »unterhalten«, wie er es nannte, versucht, ein Gefühl für ihn zu entwickeln. Denn die Opfer konnten einem viel über sich erzählen, das war Leons Überzeugung. Wie sie gelebt hatten zum Beispiel, und was genau geschehen war in den letzten Sekunden ihres irdischen Daseins. Leon machte, wie er es einmal bei einem Vortrag beschrieben hatte, eine Anamnese mit den Opfern. Denn die Opfer wussten genau, was passiert war. Und wenn man sich nur genug Zeit ließ, davon war Leon überzeugt, konnte man jede Menge Hinweise auf die Wahrheit finden.
Diese Einstellung war ziemlich unkonventionell und hatte ihm schon öfter Spott in Kollegenkreisen eingebracht. Aber auch Anerkennung. Denn Leon war äußerst erfolgreich mit seinen ungewöhnlichen Methoden, und er hatte dazu beigetragen, so manchen Fall zu lösen, den die Polizei bereits abgeschrieben hatte.
Was Leon an diesem Morgen störte, war das Paket auf seinem Schreibtisch. Es zeigte ihm, dass die hauseigene Wäscherei der Klinik noch immer nicht funktionierte: Seit zwei Wochen musste Leon die Arbeitskleidung seiner Abteilung auswärts von der Wäscherei Koenig reinigen lassen, was immer wieder zu Verwechslungen führte. Auf dem Paket stand in großen Buchstaben SAINT-SULPICE.
»Warum liegt das auf meinem Tisch?« Leon klang genervt.
»Kommt von der Wäscherei Koenig«, versuchte Rybaud, seinem Chef zu erklären.
»Das sehe ich«, brummte Leon.
»Das sind aber nicht unsere Sachen.«
»Sondern?«, fragte Leon streng.
»Hotelwäsche«, erklärte Rybaud. »Für die Pension Les Îles d’Or .«
Leon hasste jede Art von Schlamperei in seiner Abteilung, selbst wenn sie von außen kam. Er mochte präzise Abläufe, auf die er sich verlassen konnte. Sich mit so profanen Dingen wie den Fehlern einer Wäscherei zu beschäftigen, das war verschwendete Zeit. Dabei geschah es nicht zum ersten Mal, dass die Wäscherei die Adressdaten verwechselte.
»Ich kann bei ihnen anrufen«, erbot sich Rybaud, »dann holen sie die Wäsche hier wieder ab.«
»Wann soll das sein?«, fragte Leon sauer. »Im August? Ich werde das mitnehmen und Koenig vor die Füße werfen. Der soll seinen Laden besser organisieren, wenn er für eine Klinik arbeiten will.«
Leon schloss seine Bürotür, um das Ärgernis nicht mehr vor Augen zu haben, und widmete sich wieder dem laufenden Fall.
Erneut betrachtete er den auf dem Obduktionstisch aus silberglänzendem Edelstahl liegenden Toten. Der Motorradunfall hatte für zahlreiche Verletzungen gesorgt. Es gab offene Brüche, Schnitte und andere Wunden. Davon abgesehen hatte sich Monsieur Bagaud jedoch gut gehalten für einen 63-Jährigen, der den Großteil seines Lebens mit Bücherlesen und Büroarbeit verbracht hatte, dachte Leon. Der Tote war 180 Zentimeter groß und wog knapp 70 Kilo. Er war schlank und hatte die Muskulatur eines Mannes, der sich gerne bewegte. Obwohl er ihn nie richtig kennengelernt hatte, war Leon dieser Monsieur Bagaud irgendwie sympathisch.
»Sie sagten, er hinterlässt eine Frau?«, fragte Leon seinen Assistenten. »Wird sie die Buchhandlung in Le Lavandou übernehmen?«
Leon war nur ein paar Mal in der kleinen Buchhandlung gewesen. Eine Frau war ihm dort nie aufgefallen.
»Das wird sie nicht können«, antwortete Rybaud. »Sie hat eine Lungenfibrose. Braucht ständig ein Sauerstoffgerät.«
Leon sah seinen Assistenten an und wunderte sich einmal mehr, woher er immer solche Details wusste.
»Na ja, was man eben so hört«, beeilte sich Rybaud hinzuzufügen.
Eine Dreiviertelstunde später war die erste große Untersuchung abgeschlossen. Sie hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht: Organisch war der Mann gesund, dachte Leon, wenn man von den erhöhten Leberwerten einmal absah, die auf eine beginnende Leberzirrhose hinweisen könnten. Nicht ungewöhnlich in einer Gegend, in der jährlich durchschnittlich 70 Liter Wein pro Kopf getrunken wurden. Daher gab es auch jede Menge Verkehrsopfer in der Provence, die unter Alkoholeinfluss ihrem Leben ein unfreiwilliges Ende setzten. Allerdings gehörte Charles Bagaud nicht dazu. Zum Zeitpunkt seines Unfalls hatte er 0, 16 Promille im Blut gehabt. Das entsprach einem kleinen Glas Wein und lag weit unter dem, was die Straßenverkehrsordnung als Promillegrenze vorsah.
In der Regel war es der Nachweis von Trunkenheit am Steuer, der die Assekuranzen interessierte. In manchen Lebensversicherungen gab es einen Passus, der bei Unfallfahrten unter Alkohol oder Drogen eine Auszahlung ausschloss. Aber ein 63-jähriger Buchhändler nahm in der Regel keine Drogen.
»Haben wir schon die Werte vom Medikamentenspiegel?«, fragte Leon seinen Assistenten.
Olivier Rybaud reichte seinem Chef einen Computerausdruck. Der Assistent hatte auf die Standard-Substanzen getestet, wie sie in den am häufigsten verabreichten Medikamenten vorkamen. Bluthochdruck, Herzmittel, Blutverdünner.
»Alles im normalen Bereich«, sagte Rybaud.
»Und was ist hiermit?«, Leon tippte auf die vorletzte Zeile im Ausdruck. Ihm war die Unregelmäßigkeit sofort aufgefallen. Ein kleiner Wert, der von der Norm abwich. Es war eine Substanz, die zu den Schmerzmitteln gehörte.
Leon bat seinen Assistenten, den Medikamentenspiegel noch einmal durch die Computeranalyse laufen zu lassen. Diesmal, um nach starken Schmerzmitteln aus der Opioiden-Gruppe zu suchen. Eine halbe Stunde später wurde der Computer fündig. Im Blut des Opfers fanden sich erhöhte Werte von Trimaldin, einem starken, rezeptpflichtigen Schmerzmittel. Allerdings lagen auch hier die Werte im medizinischen Normbereich.
»Monsieur Bagaud litt offenbar unter starken Schmerzen«, Leon betrachtete das Opfer.
»Organisch war nichts auffällig, oder?«, murmelte Rybaud.
Das war im Grunde nicht ganz richtig, dachte Leon. Er hatte etwas vorschnell geurteilt. Statt abzuwarten, bis alle Fakten auf dem Tisch lagen, hatte er bereits eine Hypothese im Kopf gehabt – Fahren unter Alkoholeinfluss. Dabei gab es einen Bereich, den sie bisher noch nicht untersucht hatten – das Gehirn.
Zum üblichen Vorgehen bei Autopsien gehörte neben einer allgemeinen äußerlichen Untersuchung auch die Öffnung der Körperhöhlen: Der Bauchraum und der Brustraum wurden mit einem sogenannten Y-Schnitt von den Achseln bis zum Unterbauch eröffnet. Die dritte Körperhöhle war der Schädel. Dabei wurde der Schädelknochen mit einer kleinen elektrischen Motorsäge geöffnet, das Gehirn entnommen und untersucht.
In diesem Fall wäre die Überprüfung des Gehirns allerdings deutlich aufwendiger, darum hatte Leon die Untersuchung bis zuletzt aufgeschoben.
»Haben wir den Unfallbericht?«, fragte Leon. Der Assistent reichte ihm einen Computerausdruck.
Laut dem vorläufigen Polizeibericht war Monsieur Bagaud mit etwa 120 Stundenkilometer gegen den Pfeiler der Autobahnbrücke bei Puget-Ville geprallt. Es war ein gerades Stück der Autobahn A57, und es gab keine Erklärung, warum der Fahrer ausgerechnet hier von der Straße abgekommen war. Allerdings stand die technische Untersuchung des Motorrades noch aus.
Beim Zusammenprall mit dem Betonpfeiler war der Körper des Mannes zunächst in flachem Winkel gegen den Pfeiler geprallt, dann zurück auf die Straße und anschließend gegen die Leitplanke geschleudert worden. Dabei hatte das Opfer unzählige Brüche, Risse, Prellungen, Schnitte und Platzwunden erlitten.
»Wenigstens war er auf der Stelle tot«, sagte Leon, und es klang fast so, als wäre er erleichtert angesichts der Tatsache, dass Monsieur Bagaud nicht hatte leiden müssen.
»Können wir da sicher sein?«, fragte Rybaud.
»Keine Hämatome«, sagte Leon trocken. »Beim Aufprall wurde der Schädel zertrümmert, was zu einem sofortigen Herzstillstand geführt hat. Sehen wir uns die Schädelverletzungen an.«
Das Gesicht des Opfers war kaum noch zu erkennen. Im Lauf des Unfallgeschehens waren Wangenknochen und Augenhöhlen zertrümmert worden. Der Schädel war über eine Länge von 12 Zentimetern gebrochen und eingedrückt worden. Die Knochenstücke wurden nur noch von der Kopfhaut zusammengehalten.
»Ich brauche das Skalpell und die Säge«, sagte Leon.
Der Assistent reichte ihm die Instrumente. Leon durchtrennte vorsichtig die Kopfhaut mit einem kreuzförmigen Schnitt. Dann setzte er die elektrische Säge an und zog schließlich mit der Pinzette Teile des Schädelknochens heraus, die er in eine Plastikschale legte.
Im nächsten Schritt würde er das Gehirn herauspräparieren, mehrere Schnitte ansetzen und es untersuchen. Doch, Leon stutzte und beugte sich vor, das war in diesem Fall gar nicht nötig: Schon der erste oberflächliche Blick genügte, und Leon konnte sich die Tragödie vorstellen, die sich hinter dem Tod des Buchhändlers verbarg. Leon atmete tief durch. Dieser Mann war kein gesunder Mensch gewesen, ganz und gar nicht.
»Das war kein Unfall«, sagte Leon sachlich.
»Woher können Sie das wissen?«
Leon deutete mit dem Finger auf eine Stelle des offen liegenden Gehirns.
Über dem linken Frontallappen deutete sich eine leicht rötliche Einfärbung an. Rybaud erkannte erst beim zweiten Hinsehen, dass es sich bei der Verfärbung um einen Tumor handelte.
»Glioblastom«, sagte Leon. »Nicht leicht zu erkennen bei den starken Zerstörungen des Schädels.«
»Fortgeschrittenes Stadium …«, konstatierte der Assistent.
»Golfballgröße, Grad 4, würde ich sagen. Er hatte vielleicht noch einen, allerhöchstens zwei Monate.« Leon zog die beleuchtete Lupe heran, die an einem Gelenkarm von der Decke hing. »Operativ war da nichts mehr zu machen.«
»Er muss doch Schmerzen gehabt haben, bei der Größe des Tumors.«
»Sehr starke Schmerzen sogar.«
»Daher das Schmerzmittel«, murmelte Rybaud und blätterte durch die Unterlagen. »Aber sein Hausarzt hat darüber nichts notiert.«
»Er war vielleicht nicht im Bilde«, gab Leon zu Bedenken. »Offenbar hatte Monsieur Bagaud gewusst, dass ein bitteres Ende auf ihn zukam.«
»Sie glauben …?«, der Assistent unterbrach sich. »Suizid?«
»In welchem Monat ist die Lebensversicherung abgeschlossen worden?«, erkundigte sich Leon.
»Moment«, sagte Rybaud und blätterte durch die Unterlagen.
»Unterschrieben wurde sie von Monsieur Bagaud am 5. Dezember.«
»In der Regel haben Lebensversicherungen eine Klausel, nach der der Versicherer bei Suizid innerhalb der ersten fünf Jahre nach Abschluss nicht auszahlen muss«, bemerkte Leon.
»Die fünf Jahre wären in sechs Monate vorbei gewesen«, sagte Rybaud.
»Das hätte bedeutet: Sechs Monate schwerste Schmerzen, vielleicht sogar Koma«, sagte Leon.
»Sie glauben, das wollte er sich nicht antun«, meinte Rybaud. »Kann ich irgendwie verstehen.«
»Gibt es sonst noch jemanden in der Familie?«, wollte Leon wissen.
»Nein, nur die kranke Ehefrau. Sie hat sonst niemand mehr, der sich kümmert.« Er klang bitter.
Lungenfibrose, dachte Leon. Die Frau würde eines Tages ersticken. Ohne die Buchhandlung würde Madame Bagaud Unterstützung beim Sozialamt beantragen müssen. Es sei denn …
»Wir brauchen einen Schnitt durch den Frontallappen«, Leon deutete auf das Gehirn. »Den rechten Frontallappen.«
»Aber dann haben wir keinen Nachweis auf den Tumor …?« Rybaud sah seinen Chef an und unterbrach sich.
»Tumor? Ich gehe nach wie vor von einem Unfall aus«, sagte Leon unbewegt. »Und Sie, Herr Kollege?«
Rybaud sah ihn verblüfft an. »Unfall … Ich weiß nicht … Ja, schon, Sie haben recht.«
»Sehr gut, wir brauchen den Schnitt ja nur der Ordnung halber. Wir wollen uns doch nicht vorwerfen lassen, wir hätten nicht sorgfältig gearbeitet«, sagte Leon und sah seinem Assistenten kurz in die Augen.
Rybaud verstand.
»Was soll ich in den Bericht eintragen?«, wollte Rybaud wissen.
»Alle Organe unauffällig, oder sind Sie anderer Meinung?«
Rybaud deutete ein kurzes Kopfschütteln an, ein verschwörerisches Lächeln auf den Lippen.
»Vernichten Sie bitte alle Proben, die wir nicht mehr brauchen. Ordnung und Sauberkeit sind der Schlüssel zu jeder korrekten Autopsie«, sagte Leon. »Und legen Sie mir den Bericht bitte morgen auf den Tisch.«