Das Telefon auf ihrem Schreibtisch summte ununterbrochen. Trotzdem nahm Isabelle jeden Anruf entgegen, ohne je ihren gelassenen Tonfall zu verlieren. Es war schließlich das erste Wochenende der Sommersaison, da hatte die Polizei immer alle Hände voll zu tun, bis sich die Dinge in Le Lavandou wieder eingespielt hatten. Ladenbesitzer beschwerten sich über ihre Nachbarn, weil die ihre Ware auf fremden Stellflächen ausbreiteten. Touristen meldeten Autoeinbrüche. Männer suchten nach ihren Frauen, Eltern suchten nach ihren Kindern, und vom Rosétrinken in der heißen Sonne benebelte Touristen erstatteten Anzeige gegen Hütchenspieler oder andere Trickdiebe. Irgendwie lösten sich die meisten dieser Probleme über kurz oder lang in Wohlgefallen auf. Und was die Kleinganoven anging, da lohnte sich die Strafverfolgung sowieso nicht, und so landeten die meisten Anzeigen umgehend in der Ablage. Wo sie bis zum Ende der Saison auch blieben.
Trotzdem konnten solche Tage ziemlich anstrengend sein. Besonders dann, wenn auch noch die Klimaanlage ausfiel und die Julisonne das Polizeirevier mit den großen Glasscheiben gnadenlos aufheizte. Isabelle hatte die Tür zu ihrem Büro geöffnet und das Fenster aufgeschoben, sodass wenigstens die Nachmittagsbrise für minimale Abkühlung sorgte.
Isabelle gegenüber saß eine junge Frau, das blonde Haar sorgfältig frisiert. Sie war auffällig geschminkt und sah aus, als wäre sie vom nächsten Kosmetiksalon direkt zu Isabelle ins Büro marschiert. Irgendwie war es der Frau gelungen, bis in Isabelles Büro vorzudringen und sie jetzt von der Arbeit abzuhalten.
Isabelle beugte sich vor und schob das Namensschild auf ihrem Schreibtisch so, dass ihre Besucherin es auch lesen konnte. Das Messingschild war Isabelles ganzer Stolz. »Capitaine de Police: Isabelle Morell« stand darauf. Was nicht weniger bedeutete, als dass Isabelle die stellvertretende Polizeichefin von Le Lavandou war. Die erste Frau in der 150-jährigen Geschichte des Ortes, die das geschafft hatte. Allerdings schien sich die Besucherin nicht besonders für Isabelles Rang zu interessieren. Sie war hier, um Anzeige zu erstatten.
Isabelle hatte das Formular auf ihrem Computer aufgerufen, mit dem Anzeigen aufgenommen wurden. Doch mit ihrer Besucherin stellte sich dies als mühsames Unterfangen heraus.
»Der Mann in der Tankstelle hat Sie also bedroht, Madame …?«, fragte Isabelle.
»Bertrand, Amélie Bertrand«, sagte die junge Frau. »Mit diesem Eisendings da hat er mir gedroht. Dabei haben wir ihn nur gefragt, ob er uns den Reifen wechseln kann.«
Isabelle hatte ihre Besucherin zunächst auf 18 Jahre geschätzt, aber sie war bereits 25, wie sie zu Protokoll gab. Sie sieht beneidenswert jung aus, dachte Isabelle und schickte in Gedanken ein stummes: »Warte es nur ab …« hinterher.
»Wie genau hat er Sie bedroht?«, fragte Isabelle.
»Eigentlich hat er nicht mich bedroht. Eher meinen Freund.«
»Hat er nach Ihrem Freund geschlagen?«, fragte Isabelle. »Hat er etwas gesagt?«
»Nein«, jetzt klang die Besucherin fast empört. »Ich möchte Sie mal sehen, wenn einer mit ‘ner Eisenstange auf Sie zukommt, da hat doch jeder Angst.«
Isabelle seufzte leicht genervt. »Welche Tankstelle war das?«
»Die in der Hauptstraße, gleich vor dem Rondell«, erinnerte sich die Besucherin. »Der Typ war echt unheimlich.«
»Ein Mann Mitte dreißig, dünnes schwarzes Haar, Stirnglatze? Circa 1,80 groß?«
»Sie kennen ihn?«, fragte die Besucherin leicht perplex.
»Jeder im Ort kennt Patrick Favre«, erklärte Isabelle. »Der Mann ist geistig etwas zurückgeblieben, aber harmlos.«
Patrick konnte aufbrausend werden, wenn man ihn ärgerte, überlegte Isabelle. Er lebte in den Hügeln bei Bormes im Haus seines Vaters. Der alte Mann hatte Lungenkrebs, wollte sich aber seit Jahren nicht mehr untersuchen lassen. Patrick arbeitete in der Regel die Woche über in der Tankstelle und donnerstags auf dem Markt, um sich etwas dazuzuverdienen.
»Nach Ihnen geschlagen hat er aber nicht«, vergewisserte sich die Polizistin.
»Nein, habe ich doch schon gesagt.«
»Und wo ist Ihr Freund?«
»Draußen, auf dem Wasser. Kitesurfer beim Team Mistral.« Sie sprach den Namen des bekannten Sportartikelherstellers so aus, als würde das alles erklären.
»Wenn er Anzeige erstatten will, müsste er schon persönlich hier vorbeikommen«, sagte Isabelle.
Die blonde Frau erhob sich von ihrem Stuhl, und Isabelle konnte jetzt kleine rote Flecken von Zorn auf ihren Wangen aufflammen sehen.
»Gut, dann unternehmen Sie eben nichts gegen einen Wahnsinnigen, der arglose Touristen bedroht.«
»Ich rede mit ihm, versprochen«, Isabelle war ebenfalls aufgestanden.
»Dieser Mann ist gefährlich«, sagte die Besucherin.
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Isabelle freundlich. »Bonne journée .«
Die Besucherin lief aus dem Zimmer und stieß dabei beinahe mit Leon zusammen, der vor dem Büro stehen geblieben war und brav an die Tür klopfte. Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwand sie im Gang.
»Ich habe gehört, hier kümmert man sich um gefährliche Männer …?«, sagte Leon, der den letzten Satz von Isabelles Unterhaltung mitbekommen hatte.
»Eigentlich nur, wenn sie gut aussehend und unter 35 Jahre alt sind.«
Leon grinste. »Es ist gleich sechs«, sagte er. »Ich dachte, ich könnte die stellvertretende Polizeichefin vielleicht zu einem Aperitif überreden.«
Isabelle sah zu den Unterlagen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Leon spürte ihr Zögern.
»Mondschein, leise Musik, nur wir beide und das Plätschern der Wellen, dazu ein Glas kühlen Rosé …«, hauchte Leon mit gespielter Verführerstimme. »Und anschließend ein Dinner in der Auberge Proven çal .«
»Wer könnte da widerstehen?«, sagte Isabelle und schaltete das Telefon ab, das wieder zu summen begonnen hatte.
Eine Viertelstunde später saßen Leon und Isabelle vor dem Chez Miou , und Yolande stellte zwei Gläser Rosé vor ihre Gäste.
»Du machst so einen zufriedenen Eindruck«, sagte Isabelle. Sie hob ihr Glas. »Was feiern wir?«
»Dass man sogar in meinem Beruf dem Schicksal gelegentlich auf die Sprünge helfen kann«, sagte Leon. »Cheerio .«
»Klingt spannend«, sagte Isabelle. »Verrätst du mir dein Geheimnis?«
»Später vielleicht«, sagte Leon, »jetzt will ich nur hier sitzen und mit dir einen Sommerabend genießen.«
Leon ahnte noch nicht, dass mit der Gemütlichkeit schneller Schluss sein würde, als ihm lieb sein konnte.