Die meisten Menschen werden nachts geboren, und die meisten Menschen sterben auch nachts. Aber das wusste der Surfer mit den sonnengebleichten Haaren und den Sommersprossen nicht, und wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht sonderlich interessiert. Das Einzige, was ihn in dieser warmen Sommernacht interessierte, war Amélie. Die bezaubernde Amélie mit dem Lächeln, das sein Herz so viel schneller schlagen ließ. Und jetzt waren sie zusammen hier. Sie war wirklich mitgekommen. In diesem Moment entstieg Amélie dem Meer wie die Venus von Botticelli. Das Wasser, das von ihrem Körper tropfte, hinterließ im Meer eine leuchtende Spur wie aus einer anderen Welt. Einen Moment stand der junge Mann im Meer und starrte Amélie an wie eine überirdische Erscheinung. Er ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. Ihre Haut war noch kühl vom Meerwasser. Aber im Moment, als er sie berührte, wurde ihr Körper warm, und er wollte sie am liebsten nicht mehr loslassen. Plötzlich wich Amélie zurück.
»Was hast du?«, fragte der junge Mann mit einem Lächeln.
»Da war etwas«, Amélie flüsterte und deutete zu den Schatten des nahen Seekiefernwäldchens. »Da vorne bei der Hütte.«
»Ach was, hier ist kein Mensch«, sagte er. »Außerdem pass ich auf dich auf.«
Er gab ihr einen Kuss auf den Mund. Sie schmeckte salzig.
»Komm, ich zeig dir was.« Er nahm Amélie an der Hand. Nackt liefen sie zu der Hütte, wo tagsüber Liegestühle vermietet und Pommes frites mit Ketchup verkauft wurden.
Er wollte die Tür aufmachen, aber sie war mit einem Schloss gesichert. Plötzlich wehte eine frische Brise den Strand entlang.
»Lass uns zurückgehen«, sagte die junge Frau und zog sich ihr T-Shirt über.
»Warte«, sagte der Junge. »Nur noch einen Moment.«
Er hatte sich gebückt und einen Stein aufgehoben. Ein kurzer, kräftiger Schlag, und die Halteschrauben rissen aus dem morschen Holz und gaben die Tür der Hütte frei. Der junge Mann griff eine Matratze und trat wieder hinaus in die Sommernacht.
Da stand Amélie im Dämmerlicht der Sterne, und es dauerte einen Moment, bis der junge Mann begriff, was er da sah. Seine Freundin war nicht alleine. Neben ihr stand ein Mann und hielt ihr ein Messer an den Hals.
»Was soll …? Bitte, nicht!«, der Surfer ließ die Matratze fallen. Plötzlich war die Nacht nicht mehr warm und freundlich, sondern feindlich und kalt. Der junge Mann spürte, wie sein Körper zu zittern begann.
»Du tust jetzt genau, was ich dir sage, oder deine Freundin hier stirbt«, der Unbekannte drückte der Frau das Messer an den Hals, sodass sie wimmernd in die Knie ging.
»Hören Sie auf«, sagte der junge Mann. »Bitte, tun Sie ihr nichts.«
»Maul halten, habe ich gesagt. Du willst doch nicht zusehen, wie ihr etwas passiert?« Der Unbekannte ließ den Satz nicht wie eine Frage klingen, eher wie eine Ankündigung.
»Bitte tun Sie ihr nicht weh. Ich mach alles, was Sie sagen.«
»Natürlich wirst du das«, sagte der Mann. Er griff mit der freien Hand in seine Tasche und zog ein Paar Handschellen heraus, die er dem Surfer vor die Füße warf.
»Um dein Handgelenk! Das andere Ende um das Geländer«, der Mann deutete auf die Absperrung, die die hölzerne Terrasse vor dem Kiosk umgab.
Der Surfer tat, was der Mann ihm befohlen hatte.
»Ich habe Geld«, die Stimme des jungen Mannes hatte jetzt etwas Verzweifeltes. »Es ist in der Tasche meiner Jeans. Nehmen Sie es sich und lassen Sie uns gehen, bitte.«
»Ihr geht nirgendwohin.«
Der junge Mann versuchte, sich mit der freien Hand seine Jeans überzustreifen.
»Habe ich das erlaubt?« Die Stimme des Manns klang bedrohlich. Er strich mit dem Messer über den Körper von Amélie. Sie wimmerte nur leise. »Du willst also zusehen, wie ich ihr wehtu, ja, willst du das?«
»Wir haben Sie nicht gesehen«, der junge Mann hielt sich die Hand vors Gesicht, als könnte er damit verhindern, den Unbekannten ansehen zu müssen. »Wir könnten Sie ja nicht mal beschreiben …«
Der Mann mit dem Messer beachtete den Surfer gar nicht. Die Verzweiflung des jungen Mannes und das Wimmern seiner Geisel schienen ihn nicht im Geringsten zu berühren. Er sah zu dem jungen Mann und schüttelte den Kopf, wie ein Lehrer, der mit seinem ungezogenen Schüler sprach.
»Kommen einfach hierher zu uns, an unsere Strände«, der Mann mit dem Messer schien mit sich selber zu reden und schüttelte dabei den Kopf. »Glauben, alles wäre eine einzige große Party. Das Leben wäre nur ein Witz, ja? Im Wasser planschen, saufen und ficken. Alles gehört euch, was? Die Luft, das Meer, die ganze Welt.«
»Bitte, wir wollen doch nur weg von hier.«
»Nein! Ihr bleibt hier. Heute Nacht gehört ihr mir«, sagte der Mann. »Wisst ihr überhaupt, was Leben wirklich bedeutet? Leben ist Enttäuschung und Erniedrigung. Und Schmerz, großer Schmerz. Das müsst ihr begreifen. Ich werde euch dabei helfen.«
Dieses Mal drückte er die Klinge der Waffe Amélie mit solcher Wucht gegen den Leib, dass sie aufschrie und sich vor Schmerzen krümmte.