8. Kapitel

Paul Babin war früh aufgestanden. Was keine besondere Leistung war, wenn man in einem Wohnwagen lebte, an dem der Verkehr vorbeidonnerte. Lastwagen dröhnten keine fünf Meter von ihm entfernt von morgens bis abends und während der Hauptsaison sogar noch bis tief in die Nacht. Babin hatte sich schon überlegt, ganz an den Strand zu ziehen. Irgendwie würde er in seinem Kiosk schon ein Plätzchen zum Schlafen einrichten können. Aber dann wäre er endgültig allein. Weg vom Leben, weg von der Chance, jemals wieder eine Frau kennenzulernen. Er gestand es sich nur ungerne ein, aber die bittere Wahrheit war, dass Claire ihn vor über einem Jahr verlassen hatte und nicht zurückkommen würde. Seitdem lebte er allein. Der Kiosk mit den Grillhähnchen am Strand und der Wohnwagen waren alles, was ihm nach der Scheidung geblieben war. Und als wäre das nicht genug, lief demnächst auch noch der Vertrag für den Standplatz am Strand aus. Babin war sich sicher, dass die Gemeinde den Mietvertrag nicht noch einmal verlängern würde. Längst wartete die Konkurrenz gierig darauf, dass er vom Strand verschwinden würde. Dann würde hier ein richtiges Restaurant gebaut werden. Mit Küche, Terrasse und fließendem Wasser. Entsprechende Anträge stapelten sich bereits beim Bauamt in Lavandou. Aber er würde hier aushalten bis zum letzten Tag. Er würde um seinen Imbiss kämpfen, und wenn es das Letzte war, wofür er kämpfte.

Babin beneidete die anderen Wirte, die in der Bucht von Le Lavandou ihre schicken Strandrestaurants betrieben. Mit Kellnern in weißen Schürzen, die ganze Menüs auf der Terrasse servierten, und die Gäste mit eisgekühltem Rosé auf ihren Liegen unter den Sonnenschirmen versorgten. Natürlich hatten diese teuren Nobelrestaurants Spitzen-Metzgereien, mit denen sie feste Abnahmemengen vereinbart hatten. Babin hatte so was nicht. Es gab zwei Kessel mit heißem Fett, in denen Pommes frites brodelten, und es gab die beiden Drehspieße mit den Hähnchen. Er kaufte – nein, eher: besorgte – sich das Fleisch für seinen Imbiss im Supermarkt. Hähnchen für den Grill und gelegentlich auch mal eine Ladung Currywürste. Musste ja keiner wissen, dass er nur Billigfleisch besorgte, das gerade so abgelaufen war und folglich im Supermarkt nicht mehr verkauft werden durfte. Das verschaffte wiederum Babin die Möglichkeit, seine Ware zu Sonderbedingungen und selbstverständlich ohne Quittung aus dem Supermarkt abzuzweigen. Da traf es sich, dass der Mann im Kühllager des Supermarktes ein Kumpel war. Genauer gesagt ein ehemaliger Zellengenosse, mit dem er ein halbes Jahr im Dracenie, der Justizvollzugsanstalt von Draguignan, gesessen hatte. Strafe für einen Einbruch in ein Bistro. Sie waren damals beide hackevoll gewesen und hatten nichts weiter geklaut als eine Flasche Pastis, die sie gleich noch hinter dem Bistro gekippt hatten. Es hatte keine fünf Minuten gedauert, und schon waren die Flics aufgetaucht. Das war’s dann. Eigentlich nicht der Rede wert, aber genug für ein halbes Jahr Knast, wenn man wie Babin die entsprechenden Vorstrafen hatte.

Ebendieser Kumpel war jetzt für das Kühllager im Supermarkt zuständig. Wer fragte schon, ob da gelegentlich ein Karton mit Tiefkühlhähnchen fehlte oder mit Currywürsten. Interessierte doch kein Schwein. Ein paar Euro für seinen alten Kumpel, und schon durfte sich Babin ein paar abgelaufene Kartons in seinen Camion laden. Allen war geholfen. Babins Gäste bekamen ihre »Poulets à Gogo«, und der Supermarkt sparte sich das Geld für die Altfleischentsorgung. Paul Babin hatte sich eingerichtet in dieser Welt. Sein Leben war bescheiden, aber er kam zurecht. Babin blieb stehen. Zufrieden sog er den Duft der Kiefern ein, die hier fast bis zum Wasser wuchsen, und schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen für einen weiteren Tag im Kiosk.

Schon im Moment, als Babin aus dem Kieferwäldchen trat, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war anders als sonst. Normalerweise begegnete er hier am Morgen alten Männern, die nicht schlafen konnten, weil ihre Prostata sie nicht in Ruhe ließ. Zusammen mit ihren Hunden, die genauso alt und übermüdet schienen wie ihre Besitzer, wanderten sie den Strand entlang. Aber heute war es still. Wie tot, dachte Babin. Er hatte seinen verschrammten, grauen Lieferwagen unter einer Gruppe Seekiefern geparkt und trug jetzt zwei Kartons mit Lebensmitteln über den Strand zu seinem Kiosk. Da sah er es, die Tür zum Schuppen, in dem nachts die Liegestühle lagerten, stand sperrangelweit offen. Jemand hatte das Schloss aufgebrochen. Er stellte die Kartons ab und sah sich um. Im Schuppen schien auf den ersten Blick nichts zu fehlen. Was hätte ein Einbrecher auch schon mitnehmen sollen? Kein Mensch klaute zerschlissene Sonnenstuhl-Matratzen oder Mülltüten mit benutztem Einwegbesteck.

In diesem Moment hörte Babin den Schrei einer Möwe. Er wandte sich um. Der Vogel war in den Dünen gelandet, keine 20 Meter hinter ihm, und machte sich an etwas zu schaffen, das Babin nicht erkennen konnte.

»Verdammte Touristen«, murmelte er mürrisch. Die Leute holten sich ein halbes Brathähnchen oder eine Cola bei ihm, und dann ließen sie ihren Müll einfach fallen, wo sie gerade standen. Und er konnte am nächsten Tag wieder den Strand aufräumen. Tat er es nicht, kamen garantiert die Möwen und verteilten den ganzen Scheiß über die Dünen. Und wer musste dann das Bußgeld zahlen? Er, natürlich. Putain de merde .

Babin nahm die Kartons wieder auf, um sie auf der Terrasse abzustellen, und stapfte durch den Sand zu der Stelle, wo die Möwe gelandet war. Eine zweite kam dazu, und beide schienen um etwas zu streiten. Babin hatte extra Schilder aufgestellt: PAS JETER DES ODURES. Doch das kümmerte die Touristen einen Scheiß. Babin würde noch einen weiteren Mülleimer aufstellen müssen. Wieder schrien die Möwen, und jetzt sah er, woran die beiden Vögel mit ihren scharfen Schnäbeln rissen. Es war der Kopf eines Menschen.

Für einen ersten kurzen Moment dachte Babin, er hätte sich geirrt. Seine Fantasie hätte ihm einen Streich gespielt. Ihm den Eindruck vermittelt, als läge dort jemand im Sand. Eine Täuschung, die verschwände, wenn er ein zweites Mal richtig hinsehen würde. Aber das funktionierte nicht. Ganz im Gegenteil. Es wurde schlimmer, und er konnte regelrecht spüren, wie seine Fantasie den Kampf gegen die Wirklichkeit verlor. Direkt vor ihm in den Dünen lagen zwei Menschen. Nebeneinander, nackt, auf dem Rücken. Aufgereiht wie im Freibad in der Hauptsaison. Bestäubt von feinem Sand, den der Mistral über die Bucht geweht hatte. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Schaufensterpuppen. Aber es waren keine Puppen, es waren Menschen. Jemand hatte sie schrecklich zugerichtet. Jemand hatte ihnen den Hals aufgeschnitten und …

Babin wurde schlecht. Er beugte sich vor, stützte sich mit den Händen auf seine Oberschenkel und atmete gegen den Brechreiz an.

»Verschwindet! Ihr verdammten Scheißviecher!«, schrie Babin die Möwen an, und die beiden großen Vögel schwangen sich auf und glitten gegen den Wind in Richtung Meer davon.