12. Kapitel

Während das Thermometer im Rest von Lavandou auf über 30 Grad kletterte, war es in den Räumen der Gerichtsmedizin angenehm kühl.

Leon hatte die vorgeschriebene Gummischürze angelegt und eine OP-Haube über die Haare gestülpt, um mögliche Spuren nicht mit der eigenen DNA zu verfälschen. Nur die schweren Gummihandschuhe hatte er nicht angelegt. Stattdessen trug er dünne OP-Handschuhe. Wenn er einen Toten untersuchte, vertraute er auf sein Gefühl und sein Geschick. Mit den Fingerspitzen konnte er innere Blutungen, Risse und Brüche ertasten, lange bevor er sie bei der Obduktion aufspürte.

Das tote Paar vom Strand lag nebeneinander auf zwei Obduktionstischen aus silberglänzendem Nirosta-Stahl. Ihre Körper waren mit hellgrünen OP-Tüchern abgedeckt, sodass von ihnen zunächst nur Kopf und Füße zu sehen waren.

Was für eine Geschichte hatten sie zu erzählen? Leon hatte die beiden Opfer langsam umrundet. Zwischendurch war er immer wieder stehen geblieben. Er versuchte, sich vorzustellen, was in dieser schrecklichen Nacht geschehen war, unten am Strand. Es war eine warme Sommernacht gewesen, der Mond hatte hell geschienen. Meeresrauschen. Ein junges Paar nackt am Strand, ganz alleine in der versteckten Bucht. Sie hatten sich eine Badematte aus dem Schuppen geholt. Der Auftakt zu einer romantischen Nacht. Aber dann war etwas passiert, überlegte Leon.

Was hatte das intime Abenteuer dieser beiden Menschen in eine so blutige Mordorgie verwandelt?

Leon war neben dem männlichen Opfer stehen geblieben. Er zog das Tuch weg und reichte es seinem Assistenten. Ein tiefer Schnitt von 18 Zentimetern Länge hatte nicht nur die Arteria carotis externa, die große Halsschlagader, durchtrennt, sondern auch den Kehlkopf, Luft- und Speiseröhre. Die Wundränder waren glatt, es musste also ein sehr scharfes, großes Messer gewesen sein, das der Mörder benutzt hatte. Und trotzdem hatte der Täter zweimal angesetzt. Erst beim zweiten Versuch war es ihm gelungen, die Hauptschlagader zu durchtrennen. Die Wunde hatte stark geblutet. Drei, vier, fünf Schläge lang hatte das Herz gegen den abstürzenden Blutdruck angepumpt, vergeblich. Der Kreislauf konnte das Gehirn nicht weiter mit Blut versorgen, die Vitalfunktionen versagten, und die Organe kollabierten. Das alles hatte keine 10 Sekunden gedauert, überlegte Leon. Zehn quälend lange Sekunden für einen Menschen, der hilflos am Boden lag und miterleben musste, wie sein Herz das Leben aus seinem Körper pumpte.

Dieser brutale Schnitt am Hals war die einzige Verletzung, die der Körper des Mannes aufwies, wenn man von Fesselspuren an den Handgelenken absah. Vielleicht Spuren von Kabelbindern, dachte Leon. Der Tote, ein Surfer, von dem die Polizei inzwischen wusste, dass er Mason Rivers hieß und aus Perth in Australien stammte, hatte die typische Muskulatur eines gut trainierten Sportlers. Er wäre sicher in der Lage gewesen, einen Angreifer abzuwehren. Aber nach einem Kampf hätten Arme, Beine und Brustkorb Hämatome und Kratzer aufgewiesen, doch Mason Rivers zeigte keinerlei Abwehrverletzungen. Was hatte ihn davon abgehalten, sich schützend vor seine Freundin zu stellen?

Leon entfernte auch das Tuch von der jungen Frau, das er ebenfalls Rybaud gab. Das Opfer war Anfang 20. Eine ausgesprochen attraktive junge Frau, dachte Leon, die offensichtlich viel für ihr Äußeres getan hatte. Sie war trainiert, aber nicht muskulös, und hatte eine auffallend gepflegte Haut. Der Körper eines Menschen, der davon lebte, sich zu präsentieren. Im Internet, am Strand, beim Shoppen, beim Feiern. Es war der perfekte Körper einer Influencerin. Aber in dieser Nacht war jemand in das scheinbar so glückliche Leben dieser Frau eingedrungen und hatte sie zu Tode gequält.

Die Verletzungen sprachen eine eindeutige Sprache: Auffällig waren die Hämatome auf der Innenseite der Oberschenkel, sogenannte Spreizverletzungen, wie sie bei Vergewaltigungen entstehen, wenn die Beine durch Faustschläge auseinandergezwungen werden.

»Sie wurde vergewaltigt«, konstatierte Rybaud, mit Blick auf die Blutergüsse.

»Vermutlich«, sagte Leon. Aber ganz so sicher war er nicht. Eine Vergewaltigung war nicht leicht nachzuweisen, vor allem dann nicht, wenn das Opfer nicht mehr aussagen konnte. Man konnte Spuren finden und daraus Schlüsse ziehen, aber eine Vergewaltigung im Sinne des Strafrechtes war bei diesen Spuren zunächst einmal nur eine Vermutung.

Leon beugte sich zu der Frau hinunter. Vorsichtig zog er ihren rechten Arm ein paar Zentimeter vom Körper weg. Mehr war nicht möglich. Die Totenstarre hatte bereits vor zwei oder drei Stunden eingesetzt, und es würde weitere 24 Stunden dauern, bevor sie das Opfer wieder freigab.

»Rybaud, könnten Sie bitte den Arm so fixieren«, sagte Leon.

Der Assistent hielt den Arm in der gewünschten Position. Leon zog die große Lupe heran, die mit einem Doppelgelenk an der Decke des Obduktionssaals befestigt war. Er schaltete die LED-Beleuchtung an und richtete die Optik auf die Innenseite der Oberarme. Da waren weitere Hämatome. Die typischen Griffspuren eines körperlich überlegenen Angreifers, der sein Opfer auf den Boden gedrückt hatte. Aber sie hatte sich gewehrt. Die abgebrochenen Fingernägel waren ein typisches Zeichen. Die junge Frau hatte um ihr Leben gekämpft.

Leon untersuchte den Schambereich des Opfers. An den Schamlippen fanden sich verschiedene Rupturen: Auch hier war ganz offensichtlich Gewalt angewendet worden. Außerdem fand Leon ein einzelnes fremdes dunkles Schamhaar, das vielleicht einen Hinweis auf den Täter geben konnte, aber dazu musste erst die DNA bestimmt werden. Leon machte einen Abstrich, um etwaige Spermaspuren an der Vulva der jungen Frau sicherzustellen.

Leon betrachtete nachdenklich die Verletzungen des weiblichen Opfers. Warum hatte sich die Frau so verzweifelt gewehrt, während der Körper des Mannes keinerlei Kampfspuren aufwies?

Leon glaubte plötzlich, den Geruch eines Lösungsmittels wahrzunehmen. Er beugte sich zu der Frau hinunter, sodass er mit der Nase ihren Haaren nahe kam. Er kannte diesen Geruch.

»Aceton«, sagte er zufrieden.

»Was sagten Sie?«, fragte Rybaud nach.

»Aceton. Lösungsmittel. Nehmen Sie eine Haarprobe. Vielleicht hat er sie ja betäubt.«

»Aceton ist ein Lösungsmittel …?«, wunderte sich Rybaud.

»Monsieur Rybaud«, sagte Leon, »könnte ich jetzt die Körperkerntemperatur der beiden Opfer sehen?«

»Nur einen Moment, Docteur. Ich habe sie schon in den Bericht eingetragen.« Rybaud ging zum Rollwagen, auf dem ein Computerausdruck lag. Er reichte Leon das Papier.

»Sie weichen voneinander ab, richtig?«, sagte Leon, als er den Ausdruck ins Licht der Deckenlampe hielt.

»Das ist richtig«, sagte Rybaud erstaunt. »Die Temperatur des Mannes lag um drei Grad unter der der Frau, als die beiden Opfer hierhergebracht wurden. Ich habe gedacht …«

»Kein Problem«, unterbrach ihn Leon. »Ich hatte auch nicht daran gedacht.«

Bei sommerlichen Außentemperaturen von 24 Grad, wie sie in der vergangenen Nacht geherrscht hatten, kühlte ein toter Körper etwa um ein Grad Celsius pro Stunde ab. Da die beiden Toten nebeneinander auf dem Sand gelegen hatten, als sie gefunden wurden, hätte ihre Körperkerntemperatur etwa identisch sein müssen. Leon stand da und betrachtete die beiden nachdenklich. Wieso, fragte sich Leon, hatte der Mörder die Frau über zwei Stunden länger am Leben gelassen als den Mann?

Rybaud beobachtete schweigend seinen Chef. Er wusste, dass der Docteur nicht gestört werden wollte, wenn er konzentriert nachdachte. Nachdem Leon die Opfer eine gute halbe Minute betrachtet hatte, wandte er den Blick seinem Assistenten zu.

»Er wollte, dass der Mann ihm zusieht.« Leon schüttelte langsam den Kopf.

»Was meinen Sie?«, fragte Rybaud.

»Der Mann hat auch Fesselspuren an den Händen, ja?«, sagte Leon.

Rybaud bückte sich und untersuchte die Handgelenke des männlichen Opfers. »Schnitte«, bestätigte er. »Könnten von Kabelbindern stammen oder von Handschellen. Haben das Handgelenk bis auf die Sehnen aufgeschnitten.«

»Er hätte gekämpft«, sagte Leon, und es klang irgendwie beruhigt . »Aber er konnte nicht. Der Mörder hat ihn gezwungen zuzusehen, wie er seine Freundin vergewaltigt.«

»Und dann?«, fragte Rybaud.

»Dann hat er dem Mann die Kehle durchgeschnitten«, antwortete Leon.

Während er sprach, griff er zur Lupe und zog sie zu sich herunter. Er richtete sie auf die Wade des Opfers und dann auf die Fußsohlen.

»Ich brauche eine Pinzette und ein Reagenzglas«, murmelte Leon, während er die Stelle, die er gerade untersuchte, keinen Moment aus den Augen ließ.

Sein Assistent reichte ihm die Pinzette. Leon drückte damit leicht gegen die Fußsohle. Dann zog er einen dunklen, etwa zwei Zentimeter langen Dorn aus der Haut und ließ ihn in das Reagenzglas fallen, das ihm Rybaud hinhielt. Der Assistent drehte das Glas im Licht.

»Könnte von einer Agave stammen«, vermutete Rybaud.

»Glaube ich nicht«, sagte Leon. »Ich habe nur Kakteen am Ende des Strandes gesehen. Feigenkakteen, Opuntia. Findet man selten in dieser Gegend.«

Rybaud stellte das Glas auf den Rollwagen.

»Haben Sie sich ihre Fußsohlen angesehen?«, fragte Leon. Er hob Amélies Fuß an, und der steife Körper der Frau bewegte sich einige Zentimeter mit nach oben. Wie bei einer Barbiepuppe, dachte Leon.

Die Fußsohle war blutverkrustet.

»Sieht aus, als wäre sie in eine zerbrochene Flasche getreten«, sagte Rybaud.

»Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Die Schnitte sind kurz und nicht tief. Außerdem sind beide Fußsohlen davon betroffen.«

»Sie meinen, er hat sie verletzt?«, fragte Rybaud.

»Nein, ich denke, sie hat versucht zu fliehen.«

»Dann musste er sie vielleicht suchen, deshalb die unterschiedlichen Todeszeitpunkte der Opfer?«

»Sehr gut, Docteur Rybaud«, sagte Leon im Scherz. »Sehen wir uns die Stichverletzung genauer an.« Er schaltete den Rekorder ein und beugte sich über die Tote. Konzentriert sprach er weiter: »Der Einstich erfolgte links hinten in den Rücken zwischen dem fünften und sechsten Rippenbogen.« Leon legte ein kurzes Zentimetermaß an die Einstichwunde. »Er wurde von einem spitzen Gegenstand mit drei sehr scharfen Klingen verursacht. Sie sind sternförmig angeordnet und haben einen Durchmesser von vier Zentimetern.«

Leon griff zu einer Sonde, die er vorsichtig in die Wunde einführte. »Das Stichwerkzeug wurde etwa 15 Zentimeter tief in den Körper gestoßen. Dabei wurden der Herzbeutel und das Herz selber verletzt«, sagte Leon ruhig, als er die Sonde wieder herauszog. Dann drückte er auf den kleinen Aus-Knopf an dem Mikrofon, das über dem Obduktionstisch von der Decke herabhing. Es war eindeutig: Der Stich hatte zum Tod geführt. Das Opfer war innerlich verblutet. Es war kein leichter Tod gewesen. Die Art der Verletzung hatte zu einem langsamen Sterben geführt. Blutverlust, Kreislaufzusammenbruch, Ende der Sauerstoffversorgung des Gehirns. Exitus.

»Wie lange hat es gedauert?«, fragte Rybaud, als könnte er Leons Gedanken lesen.

»Drei Minuten, vielleicht fünf.«

»Was könnte das für ein Messer gewesen sein?« Rybaud betrachtete die Einstichwunde.

»Ganz ehrlich?«, Leon sah seinen Assistenten an. »Ich habe keine Ahnung.«

Es dauerte eine weitere Stunde, dann hatten Leon und sein Assistent die Obduktion der jungen Frau beendet. Sie hatten Blutwerte ermittelt, die Körperhöhlen geöffnet und Proben entnommen. Sie hatten die Tote akribisch untersucht, aber keine weiteren schweren Verletzungen gefunden. Es gab keine, nur den einen, tödlichen Stich.

Zuletzt hatten sie den Raum abgedunkelt und die Woodlampen eingesetzt. Auch kleinste Spuren von Sperma hätten im Schwarzlicht der Lampe grün aufgeleuchtet, aber da war nichts. Amélie Bertrand, Influencerin mit blühender Karriere, war eine gesunde 21-jährige Frau gewesen, die gut auf sich geachtet hatte – bis sie in Lavandou einen schrecklichen Tod gefunden hatte.

Eine Frage galt es allerdings noch zu beantworten. Leon hatte sie bis zuletzt vor sich hergeschoben: Was war mit den Augen der toten Frau geschehen? Jemand hatte sie ganz offensichtlich entfernt, und das waren nicht die Möwen gewesen, davon war er nach der Obduktion überzeugt.

Bei einer oberflächlichen Betrachtung hätte man annehmen können, das Opfer hielt seine Augen nur geschlossen. Aber Leon hatte schon am Strand gesehen, dass die Augen aus ihren Höhlen entfernt worden waren. Er nahm einen feuchten Lappen und wischte vorsichtig das Gesicht des Opfers sauber.

In bestimmten Kulturen herrschte die Vorstellung vor, dass sich im Augenblick des Todes das letzte Bild, welches das Opfer wahrnahm, auf der Netzhaut »einbrannte«. Nur wenn man diese »Aufnahme« vernichtete, würde man von der Seele des Toten in Ruhe gelassen werden. Natürlich war das finsterster Aberglaube, das war Leon völlig klar, aber dieser Aberglaube könnte einen Hinweis auf die Psyche des Täters geben.

Leon zog die Lupe vor das Gesicht der Toten und schaltete wieder die LED-Beleuchtung ein. Jetzt lag die linke Augenhöhle vor ihm. Es fiel ihm schwer, in diese Höhle mit der Pinzette einzudringen. Das Auge war die Verbindung zwischen der Seele und der Realität. Es schien, als gäbe es eine unsichtbare Barriere, dachte Leon, die er überwinden musste. Leon konzentrierte sich, atmete ruhig ein und aus, und seine Finger hörten auf zu zittern. Er nahm sich ein Spekulum vom Rollwagen. Eigentlich wurde dieses Instrument in der HNO-Medizin verwendet, um Nasenhöhlen oder Gehörgänge zu untersuchen. Leon hatte vor einigen Jahren eine andere Anwendung für das Gerät aus verchromtem Edelstahl gefunden. Vorsichtig spreizte er Ober- und Unterlid und betrachtete die Höhle. Wer immer hier eingedrungen war, war brachial vorgegangen. In der Höhle befanden sich Reste der Netzhaut. Ein Teil des Sehnervs glänzte bläulich im Licht der kleinen Lampe. Schnitte waren zu sehen.

»Er hat ein scharfes Messer benutzt«, murmelte Leon. »Vielleicht sogar ein Skalpell.«

»Können Sie Einblutungen erkennen?«, fragte Rybaud.

»Nein«, Leon sah von der Untersuchung auf, »diese Verletzungen wurden dem Opfer postmortal zugefügt.«

»Vielleicht ein Verbrechen aus Eifersucht«, überlegte der Assistent.

»Keine Eifersucht. Eher Wut oder Rache«, widersprach Leon. »Wer immer das war, hat es nicht zum ersten Mal getan. Und er wird es wieder tun.«