19. Kapitel

Es war spät geworden. Zum Abendessen hatte es nur einen Salat und einen Teller Nudeln gegeben. Jetzt saß Isabelle auf dem gemütlichen Rattansofa und blätterte durch Unterlagen, die vor ihr auf einem Beistelltisch lagen. Es war längst dunkel. Zwischen den Dächern von Le Lavandou leuchteten die Gassen der Altstadt, und das Gelächter und der Gesang angeheiterter Touristen war noch hier oben auf der Terrasse zu hören. Eine Brise wehte von Osten her über das Meer und kündigte einen Wetterumschwung an.

Es könnte heute Nacht regnen, dachte Leon, als er mit zwei Gläsern Wein aus der Küche kam.

»Für die fleißigste stellvertretende Polizeichefin der Côte d’Azur«, sagte er und reichte Isabelle ein Glas. »Zerna weiß überhaupt nicht, was er an dir hat.«

»Danke«, Isabell nahm das Glas und trank einen Schluck. »Ich habe ihn selten so wütend erlebt wie heute Nachmittag.«

»Nachdem er das Video gesehen hatte?«, fragte Leon.

»Er glaubt, dass jemand aus der Wache die Aufnahmen gemacht haben könnte.«

»Um sie zu verkaufen? Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Leon.

»Wer hätte sonst von dem Mord wissen können?«, fragte Isabelle.

»Wie wäre es mit dem Mörder?« Leon setzte sich neben Isabelle auf die Couch. »Manche Täter sind eitel. Die wollen zeigen, was sie angerichtet haben.«

»Habe ich auch schon überlegt«, sagte Isabelle. »Wir alle, ehrlich gesagt.«

»Es ist eine Botschaft an uns«, vermutete Leon.

»Und wie lautet die?«

»Seht, wozu ich fähig bin!« Leon nahm einen Schluck. »Ich vergewaltige eine beliebige Frau, und ihr Freund muss zusehen, wie ich sie quäle.«

»Vielleicht doch Eifersucht?«

»Nein, Hass, Rache und Lust.«

»Aber warum?«, fragte Isabelle.

Leon zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber ich bin sicher: Dieser Kerl ist ein Psychopath.«

»Du meinst … er könnte das wieder tun?«

»Du hast gesehen, was er mit seinem Opfer gemacht hat«, sagte Leon. »Der Kerl ist wie ein wildes Tier, und irgendjemand hat seinen Käfig geöffnet.«

»Du meinst, etwas, das seine Wut ausgelöst hat?«

»Eine Wut, die sich jahrelang aufgestaut hat«, überlegte Leon. »Bisher konnte er sie im Zaum halten. Aber dann hat irgendein Erlebnis ihn durchdrehen lassen.«

Eine Weile saß Leon schweigend neben Isabelle. Zwischen den Zypressen flatterten die Fledermäuse durch die Nacht und fingen Käfer und Mücken, die sich zu spät auf den Heimweg gemacht hatten.

»Ich habe etwas, das ich dir zeigen wollte.« Leon griff in die Tasche seines Sakkos und holte die kleine Tüte hervor, die er im Bistro gefunden hatte. »Das ist einem der Gäste im Miou aus der Tasche gefallen.«

Isabelle nahm es mit spitzen Fingern und wendete es im Licht, das aus der Küche auf die Veranda fiel, hin und her.

»Sieht genauso aus wie das, was du am Strand gefunden hast«, sagte Isabelle. »Weißt du, was drin ist?«

»Eine Tablette. Vielleicht Meth, Speed, so was. Wir untersuchen das noch. Ich gebe es dir zurück, wenn die Analyse durch ist. Schätze in zwei Tagen.«

»Hast du gesehen, wer den Beutel verloren hat?« Sie gab ihm das Papierbriefchen zurück, das er in einen Umschlag schob und in die Tasche seines Sakkos steckte.

»Ich bin nicht sicher, aber ich vermute, es gehörte einem der Surfer. Er heißt David. So um die ein Meter achtzig groß, abgeschnittene Jeans-Jacke. Undefinierbares Alter. Forever-Young-Typ.«

»Albatros«, sagte Isabelle.

»Du kennst ihn?«

»David Laurent, genannt Albatros, macht uns jedes Jahr Ärger, weil er sein Wohnmobil wild in die Gegend stellt und sich dann die Grundstücksbesitzer bei uns beschweren.«

»Soll ein Internetmillionär sein«, sagte Leon. Sie sah ihn kurz an, dann sah sie wieder übers Meer. »Meinst du, Lilou geht es gut?«

»Wie hättest du dich mit 17 gefühlt, wenn du mit deinem Freund das Wochenende in einem romantischen Weingut verbracht hättest?«, sagte Leon. »Sie sitzen am Kamin und sind glücklich, alleine zu sein. Natürlich geht es den beiden gut.«

»Ich mach mir halt Sorgen.« Isabelle gab ein leises Stöhnen von sich.

»Ich weiß«, sagte er liebevoll. Leon legte seinen Arm um ihre Schulter, und sie kuschelte sich an ihn. Er spürte ihre Wärme und dachte daran, wie glücklich er in diesem Moment war.