20. Kapitel

Er liebte die Nacht. Die Dunkelheit vermittelte ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Sie fühlte sich an wie eine warme Decke, die sich dicht um ihn schloss. Die Nacht war voller Geräusche. Der Wind, der sich in den kurzen, harten Blättern der Korkeichen brach. Mäuse, die zu seinen Füßen durch das trockene Laub huschten. Kröten in den nahen Tümpeln, die sich paaren wollten, und die kleinen Eulen, die wie Geister aus den Wipfeln der Pinien glitten und traurige Rufe von sich gaben. Es war die Stunde der Jäger, es war seine Zeit.

Seine Opfer waren die, die er am meisten verachtete. Weil sie Macht über ihn hatten. Natürlich ließ er das nicht zu. Er wusste, wie man sich wehrte. Der Trick bestand darin, sie nicht an sich heranzulassen, dann konnten sie ihn auch nicht erniedrigen. Denn das war es, was man ihnen seit ihrer Geburt eingetrichtert hatten: sich so teuer wie möglich zu verkaufen und Männer wie ihn langsam ausbluten zu lassen.

Er hatte sich so lange zurückgehalten, viele Jahrzehnte lang. Bis sie ihn nicht mehr kontrollierte. Endlich konnte er frei über sein Leben verfügen, über seine Zeit und über die Dunkelheit. Und er konnte sie sich holen – jede, die er wollte. Es war so leicht. Er drehte den Spieß einfach um. Jetzt mussten sie bluten. Vielleicht vermittelten diese letzten Augenblicke ihres erbärmlichen Daseins ihnen wenigstens eine vage Vorstellung von dem, was sie ihm angetan hatten. Jahrelang, immer und immer wieder. Ja, es entsprach ihrer Natur, sich so zu verhalten, aber sie hätten dagegen ankämpfen, ihre Triebe kontrollieren und sich zur Verfügung stellen können. Aber jetzt war es zu spät. Die Zeit der Wiedergutmachung war vorbei, jetzt kam die Zeit der Rache. Er brauchte kein Internet, um zu verstehen, wie diese Gesellschaft funktionierte. Er brauchte auch keine Hilfe von anderen. Von einer beschissenen Männergruppe, die ihm Mut machen sollte, wirklich nicht. Er wollte auch keine Geschichten hören, in der sich die Kerle einen runterholten auf das, was sie irgendeiner Frau gerade mal wieder angetan hatten. Tagsüber hatte er seine Arbeit, seine feste Aufgabe. Nein. Um seine seelischen Verletzungen zu heilen, hatte er die Nacht. Er hatte geahnt, dass ihm sein Rachefeldzug guttun würde, aber er hätte niemals geglaubt, wie überaus befriedigend es war, diesen Schlangen seinen Willen aufzuzwingen und ihre »Beaus« miterleben zu lassen, wie er sie sich nahm. Fotzen, allesamt. Er hatte sich das oft überlegt: Gott hatte sich über die Menschen lustig gemacht, als er die Frauen erschaffen und so gemacht hatte, wie sie eben waren. Die Sucht nach Sex würde zum Untergang der Menschheit führen. Früher oder später, so viel stand fest. Aber das war ihm egal.


Das alte Bauernhaus lag auf einer der oberen Terrassen des Weinberges. Es war fast vollständig von Efeu überwachsen. Sein Dach schimmerte im Licht des Mondes, der immer wieder von Wolken verdeckt wurde. Der Wind blies nun stärker. Eigentlich wäre es klug gewesen, die Sache jetzt abzubrechen. Den schmalen Weg zwischen den Weinstöcken von Le Lézard zurückzugehen und ein anderes Mal wiederzukommen. In einer Nacht, die er noch besser vorbereitet hätte. Er wusste, dass es leichtfertig war, einfach so hierherzukommen, aber er konnte nicht anders, er musste die Frau, die er seit Tagen verfolgte, einfach noch einmal sehen. Unbeschwert war sie mit ihrem Freund hierhergefahren, in dem kleinen Méhari. Der Junge würde kein Problem darstellen. Er war höchstens Mitte zwanzig. In der Gruppe mochte er stark sein, aber wenn man diese jungen Kerle allein erwischte, und wenn sie sahen, dass er zu allem entschlossen war, dann gaben sie schnell klein bei. Dann wimmerten sie und flehten ihn an, es nicht zu tun. Aber er überließ es der Natur, die gottgewollte Ordnung wiederherzustellen und alle auf ihren richtigen Platz im großen Weltenkreis zu verweisen.

Der Mond war hinter Wolken verschwunden, und über den Hügeln des Massif des Maures sorgten Blitze für Wetterleuchten. Donnergrollen dröhnte. Der Mistral hatte weiter aufgefrischt. Der Mann bewegte sich jetzt langsamer auf das Haus zu. Aus einem der Fenster fiel Licht. Er konnte den Méhari sehen, der vor dem Haus geparkt war. Musik war zu hören. Jetzt war das Gebäude keine 20 Meter mehr von ihm entfernt.

Die Stufen des Weinbergs bestanden aus übereinandergeschichteten Steinen. In der Dunkelheit konnte der Mann nicht erkennen, dass einer der Steine lose war. Als er drauftrat, löste er sich und riss eine ganze Steinkaskade auf einer Länge von fast zwei Metern mit sich. Das Poltern der Steine schien dröhnend laut in der Stille.

Im Haus ging ein weiteres Licht an. Er duckte sich hinter die Reben und hielt den Atem an. Er sollte verschwinden, riet ihm eine innere Stimme. Aber es ist doch nur ein kurzer Blick, mehr nicht, beruhigte er sich. Nur ein kurzer Blick.