Dieses Mal fuhr Isabelle. Neben ihr, auf dem Beifahrersitz, saß Lieutenant Kadir. Eigentlich wollte sie allein zu der Zeugenbefragung fahren, aber Zerna hatte darauf bestanden, dass sie zu zweit waren. Immerhin galt Patrick Favre seit dem ersten Mord als Tatverdächtiger, wer wusste schon, wie er auf eine erneute Befragung reagieren würde.
Diesmal bogen sie mit ihrem Wagen ins Hoftor ein und parkten unter einer Platane bei der Einfahrt. Neben dem Baum stand ein rostiges Eisengestell, das mit Campinggasflaschen gefüllt war. Davor parkte Patricks bunter Motorroller. Die Haustür stand offen. Als sie auf das Gebäude zugingen, glaubte Isabelle, eine Bewegung hinter einem der beiden Fenster im ersten Stock wahrzunehmen. Aus dem Haus drang Opernmusik. Isabelle blieb an der Haustür stehen.
»Monsieur Favre …?«, rief Isabelle laut. »Hallo?!«
»Was wollen Sie denn schon wieder?«, kam die Antwort.
Isabelle erkannte die Stimme des alten Favre und war fast erleichtert, dass er noch lebte. »Wir müssen mit Ihrem Sohn sprechen, Monsieur Favre«, rief Isabelle so freundlich wie möglich in den düsteren Gang.
»Wir reden nicht mit den Flics«, kam Favres Antwort.
»Wir können Sie auch gleich zur Vernehmung ins Präsidium mitnehmen«, mischte sich Lieutenant Kadir ein.
Isabelle sah ihren Partner an und schüttelte den Kopf. Dann hörten sie, wie ein schwerer Stuhl gerückt und die Musik leise gedreht wurde. Es dauerte einige Sekunden, bis die große, hagere Gestalt von Pierre Favre den Gang entlang auf sie zugeschlurft kam. Favre schien seit ihrem letzten Besuch noch schmaler geworden zu sein. Er wirkte diesmal regelrecht zerbrechlich. Die braune Hose schlackerte ihm um die Beine, und das graue Hemd hing über dem Gürtel.
»Was wollen Sie von meinem Sohn?«, sagte Favre mit heiserem Krächzen in der Stimme.
»Das würden wir ihm gerne selber sagen«, erwiderte Isabelle sachlich.
Plötzlich musste Monsieur Favre husten. Erst war es nur ein kurzes Keuchen. Doch der Krampf wurde schlimmer, und Isabelle sah, wie dem kranken Mann die Luft knapp wurde. Sein Gesicht lief dunkelrot an, und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht die Balance zu verlieren.
»Haben Sie Tabletten?«, fragte sie, plötzlich in Sorge.
»Haben Sie etwas gegen den Husten, Monsieur?« Auch Kadir war besorgt. »Spray, Tropfen, irgendwas …?«
Favre wankte und keuchte. Seine Hand machte eine diffuse Bewegung in den dunklen Gang hinein.
»Im Flur? Sind da Ihre Medikamente?«, fragte Isabelle.
Der Mann winkte ab. In seiner Hand hielt er ein Taschentuch, in das er jetzt hineinhustete. Isabelle konnte erkennen, dass Blut aus seinem Mundwinkel lief. Doch so plötzlich, wie er gekommen war, war der Anfall vorüber. Favre musste sich jetzt mit beiden Händen gegen die Wand stützen, um wieder Sauerstoff in seine Lunge zu bekommen. Sein Atem rasselte wie eine alte Heizung, aber er ging wieder regelmäßig, und das Husten hatte aufgehört.
»Ich bin krank, verdammt noch mal«, fluchte der Mann.
»Kommen Sie. Wir fahren Sie in die Klinik, Monsieur Favre«, schlug Isabelle vor.
»Ich will in keine Scheißklinik«, brummte der Mann. »Ich will, dass Sie uns in Ruhe lassen. Mein Sohn hat nichts getan. Also verschwinden Sie.«
Kadir ließ nicht locker: »Wir müssen mit Ihrem Sohn sprechen, und zwar jetzt gleich.«
»Ich habe doch schon gesagt, dass er nicht hier ist.«
In diesem Moment hörte man im Haus eine Tür schlagen. Isabelle sah den Vater an, aber der tat so, als hätte er nichts mitbekommen.
»Ich sehe mich mal um, Monsieur Favre«, sagte Isabelle, und an Kadir gewandt: »Ich geh zur Garage. Bleib du beim Haus.«
»Das ist mein Grund, hier können Sie nicht rumschnüffeln«, sagte Favre, »ich kenne meine Rechte«.
»Wollen Sie sich im Präsidium beschweren?«, fragte Kadir, und der Mann schwieg.
Isabelle ging um das Haus herum, sah jedoch niemanden. Die rückwärtige Haustür war verschlossen. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, und der Wind hatte irgendwo eine Tür zugeworfen. In diesem Moment fiel ihr auf, dass das Tor zur Garage einen Spalt offen stand. Das Schloss hing geöffnet daneben an einem rostigen Nagel. Isabell klopfte energisch an die Brettertür, und als sich nichts rührte, zog sie das Tor ein Stück auf.
Der fensterlose Raum lag im Halbschatten. Nur durch die Spalten in der Bretterwand fiel etwas Sonnenlicht. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel. Es stinkt noch schlimmer als letztes Mal, dachte Isabelle. Ansonsten schien sich nichts verändert zu haben. Doch dann sah sie, dass mitten im Raum etwas hing, das offenbar mit einem Seil oder einem Draht an einem der Deckenbalken befestigt war. Isabelle kam vorsichtig näher. Um besser sehen zu können, zog sie ihr Handy aus der Tasche und drückte auf die Lampen-App. Das plötzliche Licht blendete sie für einen Augenblick, dann erkannte sie den Schemen im Lichtkegel: eine tote Katze. Jemand hatte das Tier aufgehängt und ihm den Bauch aufgeschnitten. Eingeweide hingen aus der Wunde.
Zu spät bemerkte Isabelle, wie sich etwas zwischen den Regalen bewegte. Bevor sie reagieren konnte, stürzte eine Gestalt auf sie zu. Der Angreifer stieß sie mit voller Kraft zur Seite, und Isabelle prallte gegen die Wand und dann mit dem Kopf auf die Kante eines Regals. Sie stürzte zu Boden, und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Doch sie zwang sich, wieder aufzustehen. Ihr Kopf dröhnte, und sie taumelte in Richtung Tür, wo sie erneut zu Boden stürzte. In der Ferne glaubte sie, den Motorroller zu hören, dann war schon Kadir da, der ihren Namen rief.
»Wo ist er?«, fragte Isabelle, die sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.
»Abgehauen mit dem Roller, durch die Büsche. Keine Chance hinterherzukommen, merde alors !«, fluchte Lieutenant Kadir und streckte einen Arm aus, um Isabelle zu stützen. Er sah sie an und tippte sich an die Stirn. »Du blutest da am Kopf.«
»Wir müssen Patrick Favre zur Fahndung ausschreiben«, sagte Isabelle. »Sofort.«