31. Kapitel

Zuletzt hatten sie doch noch die Hilfe des Sicherheitsdienstes gebraucht: Colette Lamberts Vater hatte sich geweigert, die Rechtsmedizin zu verlassen. Aber Leons einfühlsame Worte und die schiere Überzahl des Klinikpersonals hatten Monsieur Lambert schließlich doch überzeugt. Zuletzt war er sogar einverstanden gewesen, sich von einem Taxi nach Hause bringen zu lassen.

Seit sie Lambert nach Hause geschickt hatten, hatte Leon kaum ein Wort mit seinem Assistenten gewechselt. Sie waren ein eingespieltes Team, und es gab nicht viel zu sagen. Normalerweise. Aber heute war kein normaler Tag. Leon hatte gespürt, dass Rybaud immer wieder nervös zu ihm herübergesehen hatte, während sie den jungen Mann obduzierten. Die Gendarmerie kannte inzwischen seinen Namen. Jess Knight war 27 Jahre alt und stammte aus Santa Barbara in Kalifornien. Er war ein professioneller Surfer, der das ganze Jahr von Küste zu Küste der Sonne hinterherzog. Er war ein Einzelkind, und von seinen Eltern lebte nur noch seine Mutter, die allerdings nicht nach Südfrankreich kommen würde. Sie hatte Multiple Sklerose in fortgeschrittenem Stadium und lebte in einem Pflegeheim. Jesse Knight hatte Colette erst vor ein paar Tagen bei der Eröffnungsparty zu dem Surfwettbewerb kennengelernt. Er hatte sich sofort in die Frau mit dem warmen Lächeln und den kurzen, dunklen Haaren verliebt. Er hatte sogar schon Pläne für die Zeit nach dem Wettbewerb gemacht, nicht ahnend, dass er schon wenig später zusammen mit dieser Frau sterben würde.

Die Untersuchung hatte Leons ersten Verdacht bestätigt: Das Opfer war nach dem tiefen Schnitt in den Hals verblutet. Genauso wie der Tote vom Strand war auch der Mann aus den Hügeln an Händen und Füßen gefesselt gewesen. Diesmal hatte Leon von Anfang an die Körpertemperatur der beiden Opfer miteinander verglichen. Das Ergebnis war dasselbe wie beim ersten Mord: Auch diesmal hatte die junge Frau ihren Begleiter um knapp zwei Stunden überlebt. Sie war vergewaltigt worden, die Spuren waren eindeutig. Wieder war es sehr wahrscheinlich, dass der junge Mann hatte mitansehen müssen, wie der Mörder sich an der jungen Frau verging. Er hatte verzweifelt an seinen Fesseln gezerrt, wobei sich die Kabelbinder bis auf die Sehnen in seine Handgelenke eingeschnitten hatten.

Warum musste Colette Lambert noch zwei Stunden am Leben bleiben, fragte sich Leon, und warum hatte auch sie Verletzungen an den Fußsohlen, als wäre sie barfuß durch die Macchie gelaufen? Wenn sie geflohen war, warum endete die Flucht dann wieder da, wo sie offensichtlich begonnen hatte, nämlich an einem einsamen Aussichtspunkt in der Provence?

Was für ein grausames, menschenverachtendes Verbrechen, dachte Leon. Er sah zu seinem Assistenten, der den Toten nach der Obduktion zurück in die Kühlkammer brachte.

Die Reaktion seines Assistenten hatte ihn nachdenklich gemacht. In der Stimme von Rybaud lagen Kränkung und Verzweiflung, als er über die Beziehung zu Colette Lambert sprach. Warum hatte Rybaud so sehr betont, dass seine Beziehung zu Colette rein platonisch gewesen war?

Rybaud sah kurz auf. Als sein Blick Leon traf, sah er schnell weg und verschwand im Büro.

War es tatsächlich denkbar, dass ein Mensch, ein ganz normaler, so wie Olivier Rybaud, zu einer solchen Bluttat fähig war? Leon würde sich sein Leben lang an das erinnern, was ihm sein Forensikprofessor schon im ersten Semester erklärt hatte: So gut wie jeder Mensch war unter entsprechenden Bedingungen in der Lage, die entsetzlichsten Grausamkeiten zu begehen. Das steckte einfach tief in der menschlichen DNA.

Zum Glück konnte die überwiegende Mehrheit der Menschen diesen Trieb im Zaum halten. Empathie war die Emotion, die Menschen davon abhielt, andere in blinder Wut oder in großer Verzweiflung zu töten.

Leon sah zu Olivier herüber, der aus dem Büro kam. Er schien unsicher, und Leon bemerkte ein leichtes Hinken im Gang des jungen Mannes. Komisch, dass mir das noch nie aufgefallen ist, dachte Leon.

»Beschäftigen wir uns jetzt mit dem weiblichen Opfer«, sagte Leon und zog das grüne Tuch von der jungen Frau. Er sah, wie sich sein Assistent kurz abwandte. »Sie können jederzeit gehen, Olivier. Ich würde das verstehen – wirklich.«

»Ich möchte gerne bleiben«, sagte Rybaud. »Ich habe das Gefühl, dass ich ihr das schuldig bin.«

»Na gut, fangen wir an.«

Leon schaltete das Mikrofon ein und diktierte das Protokoll in das Aufzeichnungsgerät.

»Bei dem Opfer handelt es sich um eine Frau von 27 Jahren. Größe …« Leon unterbrach sich und sah zu seinem Assistenten.

»Ein Meter vierundsiebzig«, sagte Rybaud leise, aber ohne zu zögern. »Gewicht 65 Kilogramm.«

»Größe einen Meter vierundsiebzig bei einem Körpergewicht von 65 Kilogramm.« Leon wusste, dass er sich auf die genauen Angaben seines Assistenten verlassen konnte. »Der Körper weist bereits bei der Leichenschau gravierende Verletzungen auf.«

Leon begann nun, das Opfer gezielt zu untersuchen. Gelegentlich zog er die große Lupe heran oder diktierte ein paar Sätze für das Protokoll. Ansonsten schwieg er und war vollkommen konzentriert auf seine Arbeit. Langsam entstand in seinem Kopf ein immer genaueres Bild von dem, was sich in dieser Nacht in den einsamen Wäldern der Provence zugetragen hatte. Wie Colette Lambert ihren Freund getroffen hatte. Wie sie zu ihm in den roten Renault gestiegen war, und wie beide zusammen zu dem romantischen Platz in den Hügeln gefahren waren. Sie hatten eine Decke ausgebreitet, wollten ungestört zusammen sein und zusehen, wie die Sonne hinter den Bergen von Toulon unterging. Aber es wurde kein romantischer Abend. Auf die junge Frau und ihren Freund wartete der Tod.

»Ich brauche die Pinzette und ein Reagenzglas«, sagte Leon. Er hatte die beleuchtete Lupe zu sich heruntergezogen und betrachtete die Verletzungen an den Füßen des Opfers. Vorsichtig zog er eine lange Tannennadel zwischen den Zehen heraus, die tief unter die Haut gedrungen war.

»Reagenz«, sagte Leon, und Rybaud reichte ihm die durchsichtige Plastikphiole mit dem Schraubverschluss. Leon steckte die Nadel hinein und betrachtete den Fund unter der Lupe.

»Kiefer«, meinte er.

»Da oben gibt es jede Menge Seekiefern«, sagte Rybaud, der Leon über die Schulter sah.

»Sie kennen die Stelle?«, fragte Leon.

Rybaud nickte. »Ich habe Colette selber einmal dorthin mitgenommen.« Der Assistent schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir das vorstelle. Ich habe ihr den Platz gezeigt, wo sie einmal sterben würde.« Rybaud unterbrach sich, wie jemand, der aus Versehen etwas gesagt hatte, das er eigentlich nicht verraten wollte. Leon sah seinen Mitarbeiter irritiert an.

»Da war nichts, wirklich nicht. Wir haben zwei Stunden dort gesessen, und danach sind wir zurück nach Lavandou gefahren.«

»Erzählen Sie das nicht mir«, brummte Leon, »erzählen Sie das den Beamten der Gendarmerie.«

»Das ist jetzt schon über einen Monat her. Ich habe Colette seitdem ja kaum noch gesehen. Ich weiß nicht, was sie in der Zwischenzeit gemacht hat. Ich weiß auch nicht, mit wem sie zusammen ist … zusammen war.«

»Ich möchte die Untersuchung jetzt gerne fortsetzen«, sagte Leon kühl.

»Oui, Docteur «, Rybaud schien dankbar zu sein, nicht weiter über die Sache reden zu müssen.

Der Schnitt, der Colette zugefügt worden war, reichte von unterhalb des rechten Rippenbogens bis etwa in die Höhe des Bauchnabels. Die Schnittkante war glatt und in einer einzigen Bewegung ausgeführt. So als hätte der Täter sein Opfer überrascht, sodass es keine Ausweichbewegung mehr machen konnte. Leon maß die Schnittlänge – 34 Zentimeter.

»War das die tödliche Verletzung?«, wollte Rybaud wissen.

»Diese Verletzung wäre für sich alleine nicht sofort tödlich gewesen«, sagte Leon, »aber durch den Schnitt wurden zahlreiche Gefäße verletzt. Das hat dazu geführt, dass das Opfer eine Menge Blut verloren hat. Sie hätte noch Stunden überlebt.«

»Was hat sie dann getötet?«

Leon war zum Kopf des Opfers gegangen und betrachtete die Ohren, Augenlider und Gaumen. »Ich denke, sie ist erstickt«, sagte er.

»Woran erstickt?«, fragte Rybaud.

Die Antwort auf diese Frage konnte Leon 15 Minuten später geben: Dieses Mal hatte der Mörder gleich drei Mal zugestochen. Leon fand die Einstiche an der linken Seite des Rückens. Genau unterhalb des fünften Rippenbogens. Es war dieselbe Art von Einstichmuster, wie Leon sie schon beim ersten Opfer gefunden hatte. Ein sternförmiger Einstich dreier sehr scharfer Klingen. Eigentlich hätte dieser Messerstich das Herz erwischen müssen. Doch das hätte bedeutet, dass dem Opfer nur noch Sekunden zu leben geblieben wären. Doch im Gegensatz zum ersten Opfer hatte die Frau den blutigen Angriff überlebt. Dafür gab es nur eine Erklärung, dachte Leon.

»Drei Stiche links zwischen fünfter und sechster Rippe, da konnte er das Herz doch gar nicht verfehlen«, sagte Rybaud.

»Wir haben eine Blutspur bis zur Straße …«, Leon machte die Bemerkung, sodass sie wie eine Testfrage wirkte.

»Er hat das Herz verfehlt und nur eine der kleineren Lungenvenen getroffen …?«

»Auch das hätte sie keine fünf Minuten überlebt.«

»Was habe ich übersehen?« Rybaud klang jetzt fast beleidigt.

»Dextrokardie«, sagte Leon, und Rybaud sah ihn verständnislos an. »Ihr Herz liegt auf der rechten Seite.«

»Sie trug ihr Herz rechts?« Der Assistent legte seine Hand auf seine rechte Brustseite.

»Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Fehlstellung auf die Welt zu kommen, beträgt eins zu 20.000«, erklärte Leon.

»Dann ist sie gar nicht an Stichen ins Herz gestorben?«

»Ich denke, er hat mit den Stichen die Lunge verletzt, und es kam zu einem Pneumothorax. Im Zuge dieser schweren Verletzung kollabierte die Lunge, und das Opfer ist letztlich erstickt.«

»Wie lange könnte das gedauert haben?«

»Schwer zu sagen, jedenfalls dachte der Täter, er hätte die Frau getötet«, sagte Leon.

»Aber sie war nicht tot?«, fragte Rybaud.

»Nein, irgendwann in der vergangenen Nacht ist sie noch einmal zu sich gekommen.«

»Sie hat versucht, die Straße zu erreichen«, überlegte der Assistent.

»Sie hat uns eine Nachricht dagelassen«, sagte Leon, »die Leine. Warum?«

Rybaud zuckte mit den Schultern, und die beiden Männer schwiegen eine Weile. Leon spürte, dass es Rybaud große Überwindung kostete, sich die Tat in all diesen Details vorzustellen. Oder brauchte er sich diese Dinge vielleicht gar nicht vorzustellen? Waren für ihn diese Erinnerungen ganz real? Mit einem Kopfschütteln vertrieb Leon den Gedanken.

»Sie hatte keine Chance«, sagte Rybaud nach einer Weile.

»Nein. Die hatte sie nicht.« Leon sah seinen Assistenten an.