Am liebsten am Strand spazieren ging Leon in den frühen Morgenstunden oder wie jetzt am späten Nachmittag. Die Buchten waren wie leer gefegt, die Familien zu Hause beim Essen, die Singles in den Cafés und Bistros. Leon genoss es, an der Wasserlinie entlangzulaufen, wenn die Abendbrise übers Meer strich und die kleinen Wellen den Sand unter seinen Füßen wegzogen. Leon und Isabelle waren stehen geblieben, um der Sonne nachzusehen, die irgendwo hinter den Hügeln unterzugehen schien und die Berge im Westen mit einem bläulichen Licht überzog.
»Glaubst du wirklich, dieser Patrick wäre zu einer solchen Tat fähig?«, fragte Leon.
»Du sagst doch immer, dass jeder Mensch zum Mörder werden kann«, antwortete Isabelle.
»Ich kenne den Mann ja kaum«, Leon zeichnete mit seinem Zeh Kreise in den feuchten Sand. Er deutete auf das Pflaster an Isabelles Stirn. »Tut es noch weh?«
»Ich habe mich wie eine blutige Anfängerin benommen«, brummte Isabelle und klang dabei frustriert.
»Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen. Schließlich hat er dich angegriffen.«
»Was ist, wenn er es noch mal tut?« Sie sah Leon an. »Wenn er noch jemanden ermordet, und ich hätte es verhindern können.«
»Ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Doch, Leon, das beschäftigt mich. Heute im Büro, da habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass jemand reinkommt und den nächsten Mord meldet.«
»Ich bin Patrick gelegentlich mal in der Tankstelle begegnet. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass er mit den Morden zu tun hat.«
»Du willst mich nur trösten«, murmelte sie mit einem Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst und sah Leon an: »Patrick besitzt alle Merkmale, die auf einen Serienmörder zutreffen.«
»Nämlich?«
»Er ist ein Einzelgänger, und er hat das richtige Alter. Er kennt sich in der Gegend gut aus. Er neigt zu Jähzorn. Er hatte öfter Ärger mit der Polizei, und eine Sache wurde in der Pressekonferenz gar nicht angesprochen: Patrick ist zur fraglichen Zeit in der Nähe des Tatortes gesehen worden.« Isabelle war weitergegangen.
Leon lief ein paar Schritte hinter ihr her. »Jetzt warte doch mal«, sagte er. »Hast du nicht selbst erzählt, wie rührend er sich um seinen Vater kümmert?«
»Und was ist mit der toten Katze in der Garage? Und warum hat er mich angegriffen und ist untergetaucht?«
»Weil er nichts mit der Polizei zu tun haben wollte. Da ist er nicht der Einzige«, sagte Leon und sah Isabelle an. »Ich muss dich was fragen.«
Isabelle hatte sich gebückt und eine kleine Muschel aufgesammelt, kaum größer als eine Fingerkuppe. Sie drehte die Hand und betrachtete die Muschel im warmen Licht der untergehenden Sonne.
»Wenn man bedenkt, dass der ganze Strand aus solchen Muscheln besteht«, sagte sie. »Was meinst du, wie lange dauert es, bis diese Muschel vom Meer zu Sand verrieben worden ist?«
Leon betrachtete sie, wie sie da stand mit ihren dunklen Haaren, durch die der Wind blies, und ihren warmen Augen, die sie gegen die letzten Sonnenstrahlen zusammenkniff. Was für ein verrückter Zufall, dachte er. Es gab eine Zeit nach dem Tod von Sarah, da konnte er sich nicht vorstellen, jemals wieder mit einer Frau zusammen zu sein. Und ausgerechnet hier, in einer kleinen Stadt am Meer, hatte er die Frau getroffen, mit der er für den Rest seines Lebens zusammenbleiben wollte.
Isabelle hatte noch eine kleine Muschel aufgelesen. Sie wischte sie mit den Fingern sauber.
»Was wolltest du mich fragen?«
»Was?« Leon wurde aus seinen Gedanken gerissen.
»Du hast gesagt, du wolltest mich etwas fragen«, sagte sie.
»Wusstest du, dass Colette Lambert die Freundin von Rybaud war?«
»Du meinst, sie hatte etwas mit Olivier Rybaud aus der Rechtsmedizin?« Die Zweifel in Isabelles Stimme waren unüberhörbar.
»Er sagt Nein, das Ganze wäre rein platonisch gewesen.«
»Du weißt, was ich von Rybaud halte«, sagte Isabelle. Ihr war Leons Assistent von Anfang an unheimlich gewesen. Seine verschlossene Art und die Tatsache, dass er ihr nie in die Augen sah, hatten sie schon immer gestört. »Was sollte eine aufgeweckte und attraktive Frau wie Colette Lambert an so einem Gespenst wie Rybaud finden?«
»Er hat vielleicht verborgene Qualitäten«, sagte Leon und sah sie vieldeutig an.
»Blödmann.« Isabelle verpasste Leon einen Boxer auf den Arm. »Wusstest du denn, dass sie was miteinander hatten?«
»Nein, ich habe nur mal in der Klinik mitbekommen, wie sie sich gestritten haben.«
»Was hat er dir noch erzählt?«
»Nichts«, sagte Leon, »ich habe ihm gesagt, er sollte unbedingt zur Polizei gehen und sagen, was er weiß.«
»Gute Idee.«
»Doch, da ist noch was«, sagte Leon, und sie sah ihn an, »er kennt angeblich den Tatort.«
»Im Ernst? Das ist eine kleine Lichtung mitten in der Macchie.«
»Er sagte, er hätte ihr die Stelle einmal gezeigt«.
»Was hat er dir noch gesagt?«, wollte Isabelle wissen.
»Er redete davon, wie sehr ihn die Tatsache mitnimmt, dass er es war, der Colette den Platz gezeigt hat, wo sie später umgebracht worden ist.«
»Ab wann ist Rybaud morgen früh im Institut?«
»Sein Dienst beginnt um neun Uhr. Warum rufst du ihn nicht an?«
»Damit mir noch ein Zeuge durch die Lappen geht?«
Er griff nach ihrer Hand, und sie liefen durch den Sand zurück zu Leons Peugeot. Es war plötzlich kühl geworden, und Leon spürte ein leichtes Frösteln.