Es war spät geworden, und Jérémy hatte längst die Neonbeleuchtung des Schildes abgeschaltet, das in schwungvoller Schrift Café Chez Miou verkündigte. Die Stühle auf der Terrasse waren ineinandergeschoben und mit einem Draht und einem Schloss gesichert. Das war kein wirklicher Schutz gegen Diebe, aber es genügte, um alkoholisierte Touristen davon abzuhalten, nachts die Korbstühle an den Strand zu schleppen, um sich dort noch ein paar letzte Dosen Bier zu genehmigen.
Die Glastüren waren verriegelt und die Musik abgeschaltet. Nur ein besonders aufmerksamer Passant hätte bemerkt, dass tief im hinteren Teil des Cafés noch ein schwaches Licht brannte und ein paar Stammgäste zusammensaßen. Es war allerdings nicht das letzte Glas Rosé oder ein allerletzter Pastis, der sie hier so spät in der Nacht zusammengebracht hatte. Die Männer hatten ganz andere Pläne. Sie saßen um einen Glastisch, auf dem eine Karte der Gegend aufgefaltet war. Zwei Stellen waren eingekreist. Die Tatorte.
»Du bist sicher, dass Patrick abgehauen ist?«, fragte Michel.
»Dieser neue Flic …«, Edmonde musste nachdenken.
»Peyron«, half Jérémy.
»Genau, dieser Peyron ist bestimmt nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, aber so was wird er ja wohl noch wissen.« Edmonde, der Pizza-Mann, hatte die unangenehme Angewohnheit, mit der rechten Hand seinen Speckbauch anzuheben, wenn er näher an den Tisch rücken wollte.
»Wie viel hast du ihm gegeben?«, wollte Jérémy wissen.
»Ist doch scheißegal, wie viel er ihm gegeben hat«, unterbrach Bruno Lambert. Der Vater, der gerade erst seine Tochter verloren hatte, sah angeschlagen aus. Sein Gesicht war grau, und um die Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet. Eine Schweißperle hinterließ eine glitzernde Spur hinter seinem Ohr und rann den Hals hinunter. Er wirkte krank, wie jemand, der tagelang nicht geschlafen hatte und vergeblich versuchte, sich den Schmerz von der Seele zu saufen.
»Gut, wir wissen jetzt, wer es war. Nur darauf kommt es an. Ist doch so.« Lamberts Stimme hatte einen heiseren Ton angenommen, als könnte es der Unternehmer gar nicht mehr abwarten, den gefassten Plan in die Tat umzusetzen.
»Wir wissen eben nicht, wer es war«, widersprach Jérémy. »Wir wissen nur, nach wem die Polizei sucht.«
»Was soll denn jetzt diese spitzfindige Scheiße schon wieder?«, fragte Lambert.
Jean-Claude mischte sich zum ersten Mal ein. Der Ex-Legionär hatte bisher schweigend in seinem Rollstuhl gesessen und an einem Glas Pastis genippt. »Bruno hat recht«, meinte Jean-Claude. »Dieser Patrick hat sie nicht mehr alle. Wisst ihr, dass der in der Klapse war? Der muss jeden Tag Tabletten schlucken, damit er nicht ausflippt.«
»Hat er wohl diesmal vergessen«, niemand lachte über Michels Scherz.
»Der Kerl ist ein totaler Psycho, aber wen interessiert das schon?«, sagte Bruno verbittert. »Solche Leute können bei uns doch machen, was sie wollen. Und was tun wir? Wir zahlen denen auch noch den Psychiater.«
»So schlimm ist es bei uns auch wieder nicht«, meinte Jean-Claude.
»Halt die Klappe, Jean-Claude«, blaffte Lambert ihn an, »was machst du überhaupt hier?«
»Lass ihn in Ruhe. Brauchst dich nicht gleich so aufzuregen«, beschwichtigte ihn der Pizza-Mann.
»Nicht aufregen …«, sagte Bruno, und auf seiner Stirn schwoll eine einsame Ader an. »Scheiße, dieser Patrick hat meine Tochter abgeschlachtet. Verstehst du das überhaupt: abgeschlachtet!«
»Du musst dich beruhigen, Bruno«, der Pizza-Mann legte dem verstörten Vater freundschaftlich die Hand auf den Arm. »Sie ist tot, Mann«, sagte er ganz leise, und jetzt liefen Lambert nicht mehr nur Schweiß, sondern auch Tränen über die Wangen. Er nahm eine frische Papierserviette vom Stapel und wischte sich übers Gesicht. Die anderen Männer sahen betroffen zur Seite.
»Ihr habt sie nicht gesehen.« Bruno schüttelte den Kopf, als könnte er so die Bilder der Autopsie loswerden. »Er hat sie aufgeschlitzt wie ein Tier. Aus ihrer Seite da … da hingen ihr die verdammten Eingeweide heraus. Ich will mich nicht beruhigen. Nicht bevor wir diese Sache erledigt haben.«
»Was für eine Sache soll das genau sein«, fragte Jean-Claude.
»Roll nach Hause, alter Mann«, Edmonde schob eine Bank zur Seite, die dem Rollstuhl im Weg war.
»Lass ihn«, bat Jérémy. »Jean-Claude ist in Ordnung.«
»Ich möchte nur eines wissen: Seid ihr bei der Sache dabei?«, sagte Bruno.
»Ich weiß immer noch nicht genau, wie das genau ablaufen soll.« Michel wurde der Plan unheimlicher, je mehr er Gestalt annahm.
»Das wirst du dann schon sehen«, sagte der dicke Edmonde.
»Ich kann doch wohl mal fragen«, sagte Michel.
»Nein, kannst du nicht. Entweder du bist für uns oder gegen uns«, beendete Lambert die Diskussion.
»So einfach ist das ja auch wieder nicht«, meinte Jérémy.
»Doch, genau so einfach ist es«, meinte Edmonde. »Wir tun dieser Stadt einen Gefallen, vergesst das nicht. Wir helfen den Flics, weil die nicht weiterkommen und weil keiner diese Gegend besser kennt als wir.«
»Also, wer ist dabei?«, fragte Lambert und hob die rechte Hand wie zum Schwur.
Die anderen Männer im Miou sahen sich abwartend an. Nach ein paar Sekunden hob Edmonde ebenfalls die Hand. Dann folgte die Hand von Michel, dann die von Jérémy. Nur Jean-Claude ließ die Hände im Schoß liegen.
»Du bist auch dabei«, sagte Michel zu dem Rollstuhlfahrer.
»Nein«, erwiderte Jean-Claude ruhig.
»Wenn du quatschst, Jean-Claude …«, Michel ließ es wie eine Drohung klingen.
»Gute Nacht, und vergesst eure Ku-Klux-Klan-Kapuzen nicht.«
Damit rollte Jean-Claude hinaus in die Nacht.