Über den Weinstöcken hing zarter Nebel, und am Himmel funkelten die Sterne. Ein leichter Wind strich über die Hügel, und der Geruch von frischem Grün hing über den Weinbergen. Die Zeit nach Mitternacht liebte der Mann ganz besonders. Es war die Zeit, zu der die Menschen schliefen und zu der sie träumten. Die Stunden, in denen es ganz still war. Sogar die Frösche hatten aufgehört zu quaken, nur in den Korkeichen schrie eine Eule. Das war seine Zeit, und der Mann fühlte sich so glücklich und unbeschwert wie schon seit Tagen nicht mehr. Die Leute dachten immer, dass das, was er tat, leicht war. Aber das war es nicht. Es war ein gewaltiges Ereignis, das seine volle Konzentration und körperliche Disziplin verlangte. Schon bei der Vorbereitung ging sein Puls in die Höhe. Aber dabei fühlte er sich frei und dem Gefühl von absolutem Glück nahe. Dann befand er sich wie im Rausch. Es war dieses überwältigende Glücksgefühl, das ihn dazu brachte, Dinge zu tun, die andere Menschen nicht einmal denken konnten. Er fühlte sich wie – Gott.
Der Mann lächelte, als eine große Nachtmotte mit ihren Flügeln sein Gesicht streifte. Er hatte sie nicht gesehen, weil er in Gedanken gewesen war. Sie schreckte ihn nicht.
Der Mann spürte keine Schuld bei den Erinnerungen an seine Taten. Manchmal nahm er sich vor, die Dinge einfach ruhen zu lassen. Abzuwarten, bis die Menschen sich wieder beruhigt hatten. Bis sie etwas anderes fanden, das sie aufregte, ihnen Furcht einflößte. Eine Feuersbrunst, ein Erdbeben oder ein Terroranschlag irgendwo weit weg in der Welt.
In Wirklichkeit warteten sie doch nur darauf, dass er in ihr Leben eingriff, Schicksal spielte. Es könnte jeden treffen, hatten die Zeitungen geschrieben, so wie der Blitz oder ein Erdbeben. Aber das stimmte nicht. Er bestimmte, was geschah, er allein, und er wählte sorgfältig aus. Denn was er den Menschen brachte, war eine Botschaft. Die Menschen beobachteten sein Werk mit einer Mischung aus Angst und Lust; Lust nach dem Grauen, das über allem lag. Die Menschen waren schockiert von dem Unglück, das er anrichtete, und sie waren ihm gleichzeitig dankbar, dass er sie verschont hatte. Darum pilgerten sie zu den Stätten des Grauens, solange noch der Geist des Bösen darüber schwebte. Sie brauchten ihn als eine Art Blitzableiter für ihre dunklen Gedanken.
Gelegentlich dachte der Mann, es wäre genug. Er könnte endlich ein paar Wochen in die Hügel fahren. In dem alten Haus sitzen und den Grillen zuhören. Es war sein refuge , sein Zufluchtsort, kein Haus, sondern mehr eine Ruine, ein alter Stall. Er hatte es zufällig gefunden, irgendwo mitten in der Macchie, eingewachsen zwischen Ginster, Rosmarin und Zistrosen. Die Ruine war sicher über 100 Jahre alt und lag so versteckt in der Wildnis, dass nie jemand vorbeikam. Jedenfalls niemand, der sich dafür interessierte. Er hatte vorsichtig das Dach repariert, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, es zu kaufen. Aber dann müsste er sich mit Behörden auseinandersetzen. Es würde Aufmerksamkeit erregen, und der Zauber dieses Platzes würde vergehen.
Er hatte sich nur nach Ruhe gesehnt. Da war dieses Weib aufgetaucht und hatte ihn provoziert. Sie hatte eine Bemerkung über ihn gemacht, da war er todsicher. Dann hatte sie mit ihrem Begleiter auch noch über ihn gelacht. Noch einen Moment zuvor, als er in dieses Café gehen wollte, hatte sie ihn wie Luft behandelt. Hatte ihn einfach zur Seite gedrängt, als wäre er unsichtbar, als gäbe es ihn nicht. War einfach weitergegangen und hatte ihn sogar gezwungen, zwei Schritte zurückzuweichen, um ihr Platz zu machen. In diesem Augenblick hatte sie ihr Schicksal besiegelt. Er verachtete Frauen, und er verachtete die Männer, die sich solchen Frauen unterwarfen. Ganz besonders, wenn es solche Weicheier waren wie in diesem Fall. Ein blasshäutiger Student. Was fand sie an dem Schwächling, ein Versager auf ganzer Linie. Ließ sich von ihr wie ein Tanzbär an der Nase herumführen. Sie war jung, noch keine 18 Jahre, aber sie wusste schon genau, wie man Männer demütigte, wie man sie quälte. Sie hatte nicht geahnt, mit wem sie sich in diesem Moment vor dem Café angelegt hatte; dass er sich die Art von Behandlung nicht mehr gefallen ließ. Ja, er hatte den Mut gefunden zurückzuschlagen.
Der Mann erschrak: Er hatte sich dem Bauernhaus schon bis auf wenige Meter genähert, so in Gedanken versunken war er gewesen. Er wurde leichtsinnig, das durfte nicht passieren. Er blieb stehen und nahm den Rucksack ab, um ihn hinter einer Regentonne neben dem Eingang zu verstauen. Fast geräuschlos umrundete er das Haus. Ein Mas , wie man hier sagte, ein Steinbau mit hellblauen Fensterläden. Ein altes Haus, aber gepflegt und mit viel Liebe renoviert. Neben der Eingangstür war eine Messingplatte befestigt, auf der der Name des kleinen Weinguts prangte: Le Lézard – die Eidechse. Der Mann lief zur Hintertür, die man über die Terrasse erreichte. Die Tür war gut geölt und nicht verschlossen. Wie sollte sie auch? Er selbst hatte vor ein paar Tagen das Schloss so manipuliert, dass sich der Schlüssel nicht mehr bis zum Anschlag einführen ließ. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter. Geräuschlos schwang die Tür auf. Er betrat das Haus. Er war schon ein paar Mal hier gewesen und kannte sich gut aus. Esszimmer, der große Kamin gegenüber der Tür zur Küche.
Der Mann schob sich an den Stühlen vorbei. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Wer würde auch schon mitten in der Nacht in das Haus einsteigen? Er lächelte. Er würde die Treppe hinauf in den ersten Stock gehen, dort wo die Schlafzimmer waren. Dann würde er sich seine beiden Opfer ansehen. Und danach das Haus wieder verlassen. Er wollte das Mädchen und ihren Freund nur sehen. Er wollte sehen, wie sie ahnungslos im Bett lagen. Er wollte ihre Hilflosigkeit spüren. Zu wissen, dass man sein Opfer in jeder Sekunde töten könnte, das war fast noch schöner als der Akt der Bestrafung selber. Er war noch nie in ein fremdes Haus eingestiegen. Das Risiko war hoch, aber die Versuchung noch größer, und er hatte ihr nachgegeben.
Die Treppe führte in einen Gang, die erste Tür zum Bad, die zweite Tür ins Schlafzimmer, sie stand weit offen. Der Mann bewegte sich wie in Zeitlupe auf den Türrahmen zu. Inzwischen war der Mond aufgegangen und tauchte den Raum in hartes weißes Licht, das allen Dingen ihre Farbe nahm, wie auf einer alten Fotografie. Er ließ die Hand in seine Tasche gleiten und holte das Messer heraus. Er wollte es nicht benutzen, sagte er sich. Nur für den Fall.
Der Mann schob sich wie ein Geist aus der Dunkelheit in das Zimmer hinein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Augen sich an die Lichtverhältnisse angepasst hatten. Dann sah er das breite Doppelbett. Es war leer. Er war irritiert. Hatte er sich in den Räumen vertan? Vorsichtig machte er ein paar Schritte zurück, ging zurück in den Gang. Der nächste Raum war ebenfalls leer. Jetzt fiel ihm auf, dass nichts in den Zimmern auf Bewohner schließen ließ. Im Gegenteil: Alles war ordentlich aufgeräumt worden. Tagesdecken über den Betten, die Stühle ordentlich um den Esstisch geordnet. Das Haus war leer. Sie hatten ihn betrogen! Sie waren abgereist. Einfach so. Dafür würden sie leiden müssen.
Der Mann verschwand aus dem Haus genauso unauffällig, wie er es betreten hatte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Bis auf eine Kleinigkeit. Er stieß die Vase auf dem Esstisch um, dass sie zerbrach.
Nur eine Kleinigkeit, dachte der Mann, aber sie würde der Frau zu denken geben, eine winzige Störung im friedlichen Bild des aufgeräumten Wohnzimmers. Es würde sie irritieren und ihr Angst machen. Er war vielleicht unaufmerksam gewesen, aber ihre Zeit würde kommen. Er musste nur ein wenig warten, bis ihr langweiliger Freund sie das nächste Mal besuchen würde.