Leon war früh aufgewacht. Das dachte er zumindest – aber als er die Hand nach Isabelle ausstreckte, musste er feststellen, dass das Bett neben ihm bereits leer war. Aus der Küche drang Gelächter nach oben. Er sah auf die Uhr: Es war bereits nach acht! Er hatte tief geschlafen. Seit einiger Zeit erinnerte er sich nicht mehr an seine Träume. Er hatte das anfangs aufs Alter geschoben, immerhin stand er kurz vor der entscheidenden Wendemarke von 50 Jahren. Aber dann hatte er gemerkt, dass er sehr wohl träumte, sein Gehirn die Träume jedoch zunehmend mit der Wirklichkeit verschwimmen ließ. In Zeiten wie jetzt, in denen er intensiv einem Fall nachspürte, konnte es passieren, dass ihm sein Gedächtnis einen Streich spielte.
Er duschte kurz und heiß. Ein befreundeter Arzt hatte ihm zwar geraten, immer mit der eiskalten Dusche das morgendliche Badezimmerritual zu beenden, weil das angeblich den Kreislauf in Schwung bringen und Sauerstoff durch seine Muskeln jagen würde. Aber Leon gefiel es, heiß zu duschen und dann ein wenig zu frösteln, wenn er sich abtrocknete, während seine Muskeln noch etwas weiterdösen durften.
Pass auf, sonst wirst du schrullig!, sagte sich Leon, als er sein Hemd zuknöpfte. Er grinste sein Spiegelbild an. Dann ging er nach unten in die Küche. Leon begrüßte Isabelle mit einem Kuss und nahm Lilou kurz in den Arm und drückte sie.
»Ich habe gedacht, du wärst schon los, Verbrecher jagen.« Lilou hatte sich ihr Lieblingsmüsli aus dem Bioladen angerührt.
»Die Verbrecherjagd überlasse ich deiner Mutter«, sagte Leon. Er war mit seinem Teller zum Herd gegangen und lud sich aus der Pfanne Rührei mit Speck auf.
»Deine Mutter müsste die Verbrecher erst mal erwischen«, murmelte Isabelle selbstkritisch.
»Da bin ich im Vorteil«, sagte Leon, »in der Autopsie läuft dir keiner davon.«
»Puh«, Lilou schüttelte sich demonstrativ. »Ich könnte deinen Job nicht machen.«
»Tote haben eine Menge zu erzählen.«
»Ich unterhalte mich lieber mit den Lebenden«, sagte Lilou.
Isabelle lachte. »Geht mir genauso, Lilou.«
»Seid ihr mit diesem Patrick Favre weitergekommen?«, erkundigte sich Leon.
Lilou sah neugierig auf. Sie wollte nichts von dieser Unterhaltung versäumen. »Glaubst du echt, dass der Patrick all die Leute umgebracht …?«
»In meinem Job geht es nicht darum, was ich glaube, sondern was ich beweisen kann«, wiegelte Isabelle ab.
Und was kannst du beweisen?« fragte Lilou.
»Nichts. Er ist bisher nur ein Zeuge. Wie viele andere auch.« »Ich glaube, Patrick ist harmlos«, sagte Lilou. Sie hatte sich festgelegt. »Aber du hast ihn verhaftet.«
»Nein, wir wollten ihn nur befragen, und da ist er abgehauen«, sagte Isabelle.
»Er hat dich gestoßen«, sie deutete auf das Pflaster an Isabelles Kopf.
»Hat er nicht«, sagte Isabelle. »Er hat mich angerempelt, als er abgehauen ist«, stellte sie klar. »Du weißt doch, wie er sein kann.«
»Aber du bist doch die Polizeichefin?«, sagte Lilou.
»Stellvertreterin«, korrigierte Isabelle.
»Ich finde, Polizeichefin klingt besser.«
»Finde ich auch. Lilou hat recht«, pflichtete ihr Leon bei. »Wer macht denn die ganze Arbeit auf dem Präsidium?«
»So viel mache ich auch wieder nicht«, meinte Isabelle.
»Weißt du, was Sonia gesagt hat, der Patrick war‘s«, sagte Lilou. »Hundert Pro.«
»Wer ist Sonia?«, fragte Leon.
»Sonia aus meiner Klasse.« Lilou verdrehte die Augen. »Ist eine schreckliche Angeberin.«
»Woher will sie das denn wissen?«, fragte Isabelle.
»Von ihrem Dad, Charles Dupui.« Sie sah Leon an.
»Stadtrat Dupui? Der hat sich doch schon zwei Mal für den Front National aufstellen lassen«, sagte Leon abfällig. »Aber nicht mal die wollten ihn.«
»Jedenfalls hat Sonias Vater gesagt, so einer wie Patrick gehört weggesperrt, für immer«, meinte Lilou. »Ist doch krass, oder?«
Leon und Isabelle sahen Lilou an.
»Das ist nicht nur krass, sondern dämlich«, meinte Leon trocken.
»Was hast du Sonia geantwortet?«, fragte Isabelle ihre Tochter.
»Ich hab ihr gesagt, dass Patrick ein harmloser Kerl ist, und dass ihr Dad einen an der Waffel hat.«
»Patrick hat einen todkranken Vater, um den er sich kümmert«, in Isabelles Stimme lag eine Spur von Mitleid.
»Echt jetzt?«, wunderte sich Lilou. »Ich weiß, Patrick ist autistisch. Aber ein bisschen merkwürdig sieht er schon aus«, sagte Lilou. »Das müsst ihr zugeben.«
»Für sein Aussehen kann er nichts.«
»Na ja, ein bisschen vielleicht schon«, erwiderte Lilou schulterzuckend.
»Deswegen muss er noch lange kein Mörder sein«, sagte Leon.
»Warum versteckt er sich dann?«, fragte Lilou.
»Vielleicht weil er Angst hat vor Leuten wie dem Vater von Sonia.«
Für einen Moment war die Stimmung in der Küche angespannt, und Leon wechselte das Thema: »Ich habe gedacht, ihr wolltet die ganze Woche in Le Lézard bleiben.«
»Oscar musste zurück nach Lyon. Die schreiben morgen eine Klausur«, erklärte Lilou. »Und alleine in Le Lézard … wirklich nicht.« Sie schüttelte sich wie ein kleiner, nasser Hund.
»Seit wann das denn? Es ist doch so schön da und so ruhig«, meinte Isabelle.
»Warum gehen wir nicht mal wieder alle zusammen hin«, fragte Leon. »Übers Wochenende.«
»Le Lézard ist super – solange keine Spanner ums Haus schleichen«, stellte Lilou fest.
»Was meinst du? War da jemand auf dem Gelände?«, Isabelle klang sofort besorgt.
»Sag ich doch.«
»Das hast du mir gar nicht erzählt. Habt ihr ihn erkannt?«,
»Oscar hat ihn gar nicht gesehen. War ja auch schon dunkel«, sagte Lilou. »Aber ich habe ihn gesehen. Er stand vorm Fenster zur Küche und hat reingeglotzt.«
»Vielleicht hast du ihn dir nur eingebildet?«
»Ich weiß doch, was ich gesehen habe«, sagte Lilou beleidigt. »Es hat geblitzt, und da stand er.«
Leon sah Isabelle an.
Mit einem Zögern erwiderte sie: »Ich könnte jemanden vorbeischicken, der sich mal im Haus umsieht.«
»Gute Idee«, sagte Leon.