37. Kapitel

Die Klimaanlage im Verhörraum funktionierte immer noch nicht richtig. Masclau hatte einen Ventilator in den Raum gestellt, der nicht mehr tat, als laut brummend die stickige Luft von hinten nach vorne zu schieben. Isabelle beobachtete den Mann, der vor ihr an dem Resopaltisch saß. Olivier Rybaud schien die Hitze in dem engen, fensterlosen Raum nichts auszumachen. Er trug ein schwarzes Hemd, die Ärmel hatte er bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Seine Haare reichten bis knapp auf den Kragen und waren über dem rechten Ohr in einem breiten Streifen ausrasiert. Rybaud saß da mit durchgedrücktem Rücken und schien einen Punkt an der Wand zu fixieren. Für Isabelle wirkte er nicht wie ein Mordverdächtiger bei der Vernehmung, eher wie jemand, der sich um einen Job bewarb und einen seriösen Eindruck erwecken wollte.

Das Einzige, was Isabelle bisher über den Mann wusste, war, dass Rybaud allein in seinem Elternhaus in Pierrefeu du Var wohnte. Er hatte vor ein paar Jahren Vater und Mutter bei einem Autounfall verloren. Nach der Schule hatte er einige Semester Tiermedizin studiert, das Studium aber noch vor dem ersten Examen abgebrochen. Den Grund dafür wollte er Leon nie erzählen, so hatte es Leon ihr jedenfalls berichtet. Leon hatte bei Isabelle immer wieder die Zuverlässigkeit seines Assistenten und dessen tadellose Arbeit gelobt. Rybaud sei ein stiller Mensch, der so gut wie nie über sein Privatleben sprach. Alles, was Leon über ihn sagen konnte, war, dass er jeden Morgen pünktlich im Institut erschien und sich nur selten beschwerte, wenn er Überstunden machen musste. Einen wortkargen Geist, hatte Leon ihn oft genannt, mit dem er da den Autopsiekeller teilte.

Isabelle war am Morgen um kurz nach neun in der Klinik Saint-Sulpice aufgetaucht, mit dem Ziel, Rybaud zu sprechen, bevor er mit seiner Arbeit anfing. Nicht nur weil sie so schnell wie möglich die Verdächtigungen klären wollte, die gegen Leons Assistenten in der Luft lagen. Isabelle hatte auch keine Lust, sich länger als unbedingt nötig in den Räumen der Gerichtsmedizin aufzuhalten. Der Geruch nach Formalin, die kalte Luft der Klimaanlage und die fensterlosen Räume mit dem künstlichen Licht verursachten bei ihr ein Gefühl der Beklommenheit.

Sie war nicht alleine gekommen. Es war ihr Wunsch gewesen, dass Lieutenant Masclau sie begleitete. Isabelle wollte vermeiden, dass ihr noch einmal ein Zeuge, ja vielleicht sogar ein Verdächtiger entwischen konnte. Schließlich war Patrick bis heute noch nicht wieder aufgetaucht. Trotz der umfangreichen Fahndung.

Isabelles Sorge erwies sich als unnötig. Rybaud war sofort einverstanden, Masclau und sie ins Präsidium zu begleiten. Er wollte nicht allzu lang an der Seite von Polizisten in der Klinik gesehen werden, Gerüchte verbreiteten sich schnell in dieser angespannten Zeit.

Als Rybaud Lieutenant Masclau zum Streifenwagen begleitet hatte, war Isabelle von einer Schwester aufgehalten worden. Sie trug den hellgrünen Schutzanzug des medizinischen Personals der Intensivstation. An ihrem Overall war ein Schildchen befestigt, mit rotem Kreuz und ihrem Namen, Nicole. Sie hatte ihre Haare mit einem grauen Band nach hinten gebunden, und ihre Augenbrauen waren kräftig nachgezogen. Komisch, sie macht sich älter, als sie ist, dachte Isabelle. Schwester Nicole betonte, dass sie eigentlich nichts gegen Monsieur Rybaud sagen wollte, ganz im Gegenteil, er sei ein zuvorkommender Kollege, sehr zuvorkommend sogar.

»Aber?«, hatte Isabelle nachgehakt, die sich einmal mehr fragte, warum Zeugen, die sich bei der Polizei meldeten, immer betonen mussten, dass sie so etwas normalerweise nie tun würden, aber in diesem Fall eben doch.

Vor ein paar Tagen hatte Schwester Nicole beobachtet, wie Rybaud versucht hatte, den Spind von Colette Lambert zu öffnen. Als sie dazukam, war er im Treppenhaus verschwunden. Sie konnte nicht sagen, ob Rybaud den Spind tatsächlich geöffnet hatte oder nicht. Der Schrank war mit einem Zahlenschloss gesichert. Als sie später nachgesehen hatte, war der Schrank verschlossen gewesen. Nicole gab an, dass sie nicht zur Polizei gegangen war, weil sie erst einmal mit Colette über den Vorfall hatte sprechen wollen. Schwester Nicole hatte sich auch nach der Erkenntnis über Colettes schrecklichen Tod nicht direkt bei der Polizei gemeldet, weil sie gedacht habe, es wäre nicht wichtig. Aber jetzt, wo die Flics Monsieur Rybaud mitnahmen …

»Wonach haben Sie in dem Spind gesucht?« Isabelle sah, dass Rybaud nervös seine Hände rieb.

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, hakte Isabelle nach.

»Ich weiß schon. Schwester Nicole, richtig?« Rybaud saß steif auf seinem Stuhl und wich Isabelles Blick aus, als wollte er so verhindern, dass sie in seine Seele blickte.

»Sie wissen doch, dass wir keine Namen von Zeugen herausgeben«, sagte Isabelle.

»Würde mich aber interessieren«, antwortete Rybaud. »Wenn so was passiert, merkt man erst, wie viele Feinde man hat.«

»Wenn was passiert?«, ging Masclau dazwischen.

»So etwas wie in den letzten Tagen. Sie wissen, was ich meine …«, sagte Rybaud.

»Ist das Ihre Umschreibung für zwei grausame Doppelmorde?«, fragte Masclau.

»Morde sind immer grausam«, gab Rybaud kühl zurück, doch dabei bewegte er sich, als wäre ihm das Sitzen auf dem harten Stuhl unbequem.

»Ist Ihnen überhaupt klar, worum es hier geht?«, fragte Masclau.

»Schon gut«, unterbrach Isabelle den Lieutenant, doch Masclau achtete nicht auf sie.

»Vier Menschen sind tot.« Er hielt dem Zeugen die Hand mit vier aufgestellten Fingern hin. »Und Sie hatten ein Verhältnis mit einem der Opfer.«

»Das stimmt nicht. Ich habe nur … das war nur eine Freundschaft.«

»Jetzt hören Sie auf, hier Mist zu erzählen!« Masclau stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, und sein Gesicht war keine Armlänge mehr von Rybaud entfernt. »Wir sind doch keine Idioten. Natürlich hatten Sie was mit Colette Lambert.«

»Das ist nicht wahr«, verneinte Rybaud und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß zwar nicht, was diese Braut an Ihnen gefunden hat, echt nicht.« Masclau sah den Verdächtigen an, der seinem Blick auswich. »Aber fest steht: Colette wollte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Und dann ist da plötzlich dieser Surfer aufgetaucht. Wie heißt er noch, Jess Knight?«

»Weiß nicht«, Rybaud zuckte mit den Schultern.

»Das wissen Sie ganz genau«, setzte Masclau nach. »Da sind Sie ausgeflippt. War doch so?«

»Nein, das stimmt so nicht. Das ist nicht wahr.«

»Lieutenant Masclau, jetzt ist es genug.« Isabelles Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen.

Masclau erhob sich.

»Muss ich mir das gefallen lassen?« Rybaud sah zum ersten Mal Isabelle an, seitdem sie die Befragung begonnen hatten. »Ich habe gesagt, dass ich voll kooperiere. Ich habe auch nicht auf einem Anwalt bestanden, obwohl er mir zusteht, und jetzt redet dieser Mensch mit mir, als wäre ich ein Mörder?«

»Sie wollten mir sagen, was Sie im Spind von Colette Lambert gesucht haben.« Isabelle ging auf Rybauds Bemerkung nicht weiter ein.

»Nichts, gar nichts«, sagte der Verdächtige. »Ich habe den Schrank nicht mal aufgemacht.«

»Sie haben sich aber daran zu schaffen gemacht?« Isabelle ließ nicht locker. Sie mussten vorankommen, und es war offensichtlich, dass Rybaud mehr wusste, als er zugeben wollte.

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Masclau stand neben der Tür und schien nur darauf zu warten, dass der Gefangene einen Fluchtversuch wagte. Er würde sich diesen Kerl aus dem Leichenkeller nur zu gerne einmal vorknöpfen.

»Ja, ich habe kurz vor ihrem Spind gestanden«, gab Rybaud schließlich zu. »Vielleicht wollte ich ihn auch aufmachen.«

»Warum, was haben Sie gehofft, darin zu finden?«

»Ich habe gar nichts gehofft«, sagte Rybaud. »Ich wollte einfach wissen, wer der Kerl war, wegen dem sie mich nicht mehr angerufen hat.«

»Das klingt für mich nach Liebeskummer«, meinte Isabelle.

»Sie verstehen das nicht, oder?« Rybaud schüttelte den Kopf. »Kann man denn nicht etwas für eine Frau empfinden, ohne dass man gleich ein Verhältnis hat?«

»Doch, das kann ich gut verstehen«, sagte Isabelle freundlich. »Ist nur ein wenig ungewöhnlich heutzutage.«

Isabelle hatte in über 20 Jahren Polizeidienst gelernt, dass sie gegenüber einem Verdächtigen niemals Gefühle entwickeln durfte. Sie musste nüchtern und sachlich die Aussagen mit den Ermittlungen abstimmen und neue Hinweise herausfiltern, denen sie und ihre Kollegen dann nachgehen konnten. Aber irgendwie rührte sie dieser schlaksige Mann. Wie er so hilflos dasaß und man ihm die enttäuschte Liebe regelrecht ansah. Was für ein einsamer Mensch, dachte sie.

»Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt mit Colette Lambert?«

»Das weiß ich nicht mehr genau. Ein paar Tage bevor … bevor das alles passiert ist. Ich war mit ihr verabredet. Wir wollten etwas essen gehen, nach Feierabend. Einfach nur ein bisschen reden.«

»Aber Sie waren nicht zusammen beim Essen?«, fragte Isabelle.

Rybaud schüttelte den Kopf. »Sie hat spontan abgesagt, und ich war sauer.«

»Wie sauer?«, fragte Isabelle.

»Wir haben gestritten«, sagte Rybaud und wich Isabelles prüfendem Blick aus. »Ich bin vielleicht ein bisschen laut geworden.«

»Sie meinen, Sie haben sie angeschrien?«, fragte Isabelle nach, aber er zuckte nur mit den Schultern.

»Nein, nicht angeschrien. Ich habe mich nur geärgert.«

»Das war alles?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt: Zwischen uns lief nichts mehr, schon seit Monaten nicht.«

In diesem Moment klopfte es, und die Tür ging auf. Mohamed Kadir kam mit einem Computerausdruck ins Verhörzimmer und gab ihn Isabelle. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und ging wieder.

»Sie sagten gerade, dass Sie seit Monaten kaum noch Kontakt hatten«, sagte Isabelle. »Wie war das an dem Tag, als Sie sich gestritten haben?«

»Keine Ahnung«, versuchte sich Rybaud zu erinnern. »Ich glaube, ich hatte ihr eine SMS geschickt.«

Isabelle betrachtete einen Moment den Ausdruck. »Genau gesagt waren es an diesem Tag zehn SMS und 14 Anrufe auf ihrem Anrufbeantworter.« Isabelle hielt den Ausdruck hoch. »Das ist die Liste aller Anrufe, die Colette Lambert am fraglichen Tag auf ihrem Smartphone erhalten hat.

»Ich muss jetzt zurück in die Klinik«, sagte Rybaud und wollte aufstehen.

Sofort stand Masclau hinter dem Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Nicht so eilig, Monsieur Rybaud«, sagte Isabelle. »Wir haben noch eine Menge zu besprechen.«