39. Kapitel

Es war natürlich nur eine Theorie, sagte sich Leon. Das Blöde daran war, dass er sie mit niemandem besprechen konnte. Er hatte bei Zerna angerufen, war aber gar nicht erst mit ihm verbunden worden. Die eine Hälfte der Gendarmerie war im Moment damit beschäftigt, Rybaud eines vierfachen Mordes zu bezichtigen; die andere war auf der Suche nach Patrick Favre. Niemand war an Theorien über eine Menschenjagd interessiert. Es gab so viel handfestere Motive. Eifersucht zum Beispiel oder den cholerischen Wutanfall eines Psychopathen.

Die einzige Person, der Leon sich mit seiner Theorie anvertrauen konnte, war Isabelle, aber die war gerade unterwegs. Eine Zeugin hatte sich gemeldet, die behauptete, dass sie Patrick auf einer einsamen Straße beobachtet hatte, wie er ein totes Kaninchen aufsammelte. Unter normalen Umständen hätte die Polizei eine solche Meldung in den Müll geworfen, aber im Fall Patrick Favre war das eine glaubwürdige Spur.

Im Miou servierte Yolande Leon einen Café au lait. Sie hatte wie üblich eine ihrer zu engen Blusen an, deren obere Knöpfe geöffnet waren. Yolande wischte den Tisch ab und beugte sich dabei so weit vor, dass Leon gar nicht anders konnte, als einen Moment auf ihren Busen zu schauen, der ihm so plötzlich die Sicht versperrte. Eilig wandte er den Blick ab.

Yolande bewunderte den Docteur. Und sie hoffte jedes Mal, dass er ihr etwas über seine Arbeit verraten würde. Gelegentlich machte Leon der Frau des Cafébesitzers die Freude und verriet ein kleines Detail aus einem anhängigen Fall. Nichts Wichtiges natürlich. Gerade nur so interessant, dass sie damit keinen Schaden anrichten konnte, wenn sie vor ihren Gästen mit Insider-Wissen glänzte.

»Wie sieht es aus, Docteur?« Yolande senkte ihre Stimme. »Stimmt es, dass das Pärchen in den Hügeln nackt war, als der Killer es überfallen hat?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Leon und senkte ebenfalls seine Stimme. »Schließlich war keiner dabei.«

»Aber später, als sie gefunden wurden, da waren sie nackt?«

»Was soll ich Ihnen erzählen, Yolande«, sagte Leon. »Wenn Sie doch sowieso schon alles wissen.«

»Ach, Docteur, nun kommen Sie schon«, forderte Yolande und stieß Leon mit der Schulter an.

»Yolande, bringst du das bitte nach draußen zur fünf«, rief Jérémy, der seine Frau nie aus den Augen ließ, und stellte einen großen Eisbecher auf die Theke.

Michel, Edmonde und Lambert standen an der Bar und sahen zu Leon und Yolande herüber.

»Ich glaube, man wartet auf Sie«, meinte Leon mit einem Nicken in Richtung Bar.

»Ach die«, sagte Yolande desinteressiert, obwohl es ihr schmeichelte, dass die Männer sie beobachteten. »Wollen mal wieder die Welt verbessern. Schimpfen auf die Flics und fantasieren was von einer Bürgerwehr – den Falcons de la nuit , den Nachtfalken.«

»Na, dann haben wir ja nichts zu befürchten«, sagte Leon. »Sie wissen doch: Hunde, die bellen, beißen nicht. Vor allem dann nicht, wenn sie genug Rosé getrunken haben.«

»Ich weiß nicht, Docteur.« Yolande wischte mit einem feuchten Lappen über den Tisch und stellte den Café au lait vor Leon. »Manchmal habe ich Sorge, sie könnten doch mal Ernst machen.«

Leon sah der Frau des Wirts einen Augenblick hinterher, als sie zurück zum Tresen ging. Vielleicht sollte er mal mit Isabelle über die Männer reden, die sich im Miou trafen und sich die Nachtfalken nannten. Andererseits kannte er die meisten der Gäste schon seit Jahren. Sie machten gerne große Sprüche, besonders wenn sie das eine oder andere Glas zu viel intus hatten. Doch den dicken Pizza-Mann konnte Leon nicht einschätzen, er war erst kürzlich zu der Gruppe gestoßen.

Für Bruno Lambert würde Leon die Hand nicht ins Feuer legen. Er hatte in der Autopsie miterlebt, wie verzweifelt der Vater des ermordeten Mädchens war.

»Bonsoir, Docteur.« Véronique war neben seinem Tisch aufgetaucht. »Hätten Sie einen Moment Zeit für eine ältere Dame in Schwierigkeiten?«

»Bonsoir ! Es wäre mir eine Ehre, einer Dame aus ihren Schwierigkeiten heraushelfen zu dürfen.« Leon sah sie an. »Worum geht es denn, Madame?«

»Es geht um meine Ehre«, sagte Véronique mit gespieltem Pathos.

»Ich stehe für jedes Duell zur Verfügung.« Leon stand schwungvoll auf.

»Da sind zwei junge Burschen«, berichtete Véronique, »die haben gesagt, gegen so eine alte Frau wie mich im Boule anzutreten, wäre pietätlos.«

»Die haben wirklich ›pietätlos‹ gesagt?«

»Bei meiner Ehre.«

»À l’attaque ! Madame Véronique«, sagte Leon, »nehmen wir uns diese Burschen vor.«

Leon griff zu seinem Ledernetz mit den abgewetzten Boulekugeln, das wie immer über seiner Stuhllehne hing, und folgte der zähen, kleinen Frau.

Véronique hatte recht gehabt. Die beiden Herausforderer waren wirklich Jungen, beide um die 20. Beide muskulös und gut trainiert. Sie trugen Bermudas, und ihre sonnengebräunte Haut war ein Zeichen dafür, dass sie die Hälfte ihrer Zeit auf dem Wasser verbrachten. Auf ihren T-Shirts und Basecaps prangten die Logos bekannter Surfbretthersteller. Die Jungen hatten freundliche, offene Gesichter. Trotzdem wechselten sie einen spöttischen Blick, als Véronique in Begleitung von Leon am Bouleplatz aufmarschierte.

»Ich dachte, Sie kämen mit jemand Jüngerem, Madame«, sagte der Blonde. Sein Partner war dunkel und glatt rasiert. Nur in der Mitte seines Schädels hatte er die Haare auf zwei Zentimeter Länge zu einer Bürste stehen lassen.

»Wir könnten Ihnen ja einen Punkt vorgeben«, sagte der blonde Junge.

Das war frech, aber auch nicht ganz ernst gemeint.

»Ich dachte immer, nur die Kinder hätten einen Wurf frei«, entgegnete Leon, der das Spiel mitspielte, und der junge Mann grinste ihn an.

»Darf ich Sie mal was fragen?«, sagte der Junge mit dem Bürstenschnitt. »Gibt’s hier eine Seniorenresidenz oder so was?«

Der Blonde kicherte. »Mein Opa wohnt in so ‘nem Heim. Ich wusste gar nicht, dass die da alleine rausdürfen.«

»Spielen oder reden?«, fragte Leon, der sich ein Lächeln nur schwer verbeißen konnte.

Leon und Véronique waren ein eingespieltes Team. Ihre Siege über vorlaute Touristen waren legendär. Sie hatten schon viele Boulspieler vom Platz gefegt, die sie großspurig herausgefordert hatten. Doch dieses Mal schien irgendetwas anders zu sein, dachte Leon. Diese Jungs, die vom Alter her seine Söhne hätten sein können, wirkten konzentriert, erfahren und souverän.

Die erste Runde ging an Leon und seine Mitspielerin. Aber in der zweiten Runde gaben die beiden Jungs richtig Gas und lagen schließlich mit vier Kugeln vorne. Für den Hauch eines Augenblicks hatte Leon das Gefühl, dass Véronique und er dieses Match verlieren könnten.

Leon und Véronique hatten sich schon während der Runde ein paar anerkennende Blicke zugeworfen. Vorsicht, diese Jungs sind gut, sollte das heißen. Jetzt lief alles auf die entscheidende dritte Runde hinaus. Véronique hatte sich eine frische Zigarette in den Mund gesteckt und angezündet. Die Surfer sahen die alte Frau mit der Gitanes im Mundwinkel verblüfft an.

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass die Dinger einen umbringen können, Madame?«, der jüngere der beiden Surfer rieb mit einem Lappen seine Boulekugeln blank.

»Ja«, antwortete Véronique gelassen.

»Scheint Sie nicht besonders zu beeindrucken?«

»Ich werde im Herbst 84«, antwortete Véronique.

»Im Ernst …?« Die beiden sahen Véronique an, als hätte sie gesagt, sie könnte übers Wasser laufen.

»Natürlich nur, wenn unser Herr nicht andere Pläne mit mir hat«, Véronique sah kurz prüfend in den Himmel hinauf, nahm einen tiefen Zug und stieß dann mit Genuss den Rauch aus. »In meinem Alter kann man so was ja nie wissen.«

»Wir müssen die dritte Runde nicht spielen.« Der blonde Junge klang jetzt besorgt, als ob Véronique es vielleicht nicht bis zum Ende des Spiels schaffen würde.

»Nein, müssen wir echt nicht!« Der Junge mit dem Bürsten-Haarschnitt sah seinen Freund an. »Sagen wir doch einfach, es steht unentschieden.«

Véronique und Leon wechselten einen kurzen Blick. Inzwischen hatten sich ein paar Zuschauer eingefunden. Sie wollten dabei sein, wenn die vorwitzigen Surfboys von den alten Profis zurechtgestutzt wurden. Ein Unentschieden war keine Option.

Véronique ging in die Knie und zeichnete schwungvoll mit einem Stein einen Halbkreis in den Staub. Sie stand auf, trat hinter die Linie und warf das Bouchon, das Schweinchen, wie hier die kleine hölzerne Führungskugel genannt wurde. Die Kugel flog weit, stieß gegen die Begrenzungsbalken und prallte ein paar Meter zurück. Véronique ging in die Knie und warf ihre erste Kugel locker aus dem Handgelenk. Sie rollte auf das Bouchon zu und blieb direkt daneben liegen. Zustimmendes Gemurmel von den Zuschauern.

Die Gegner warfen und glichen den Vorsprung aus. Zweimal sah es so aus, als wären die Surfer nicht mehr zu schlagen, doch jedes Mal konnten Leon und seine Partnerin mit den Herausforderern gleichziehen. Jetzt hatten die Surfer eine Kugel Vorsprung. Dann war wieder Leon dran, er hatte noch zwei Kugeln. Er musste die gegnerische Kugel unmittelbar neben dem Bouchon treffen, nur so würde er das Ruder herumreißen können. Das bedeutete, er musste hoch werfen, und seine Kugel musste steil hereinkommen, damit sie den Gegner wegsprengte und seine Kugel in die beste Position brachte. Ein mutiger Schritt, der sofort von den Zuschauern diskutiert wurde.

Als sich Leon in den Halbkreis stellte, verebbten die Gespräche. Leon konzentrierte sich ganz auf seinen Wurf. Er hörte den Wind im Blätterdach der Platanen rauschen und das Klirren eines Kaffeelöffels in einer Tasse. Leon nahm Maß, schwang die Kugel und ließ sie in der Aufwärtsbewegung los. Die Kugel beschrieb eine saubere Ellipse und schlug mit einem metallischen Klack die gegnerische Kugel zur Seite. Die Zuschauer applaudierten. Aber es war noch eine gegnerische Kugel im Spiel.

Der blonde Junge ging zum Abwurfpunkt. Dabei rieb er seine letzte Kugel mit dem Tuch blank, als hätte das irgendeine Art von Wirkung. Leon war klar, was der Junge vorhatte. Wenn er im Spiel bleiben wollte, dann musste er den Wurf von Leon wiederholen. Nur dass bei diesem Contre Sec , dem Wurf, bei dem die Kugel die des Gegners vom Platz schob und dessen Position einnahm, diesmal Leons Kugel angegriffen wurde.

Der junge Mann ging in die Knie und warf. Er hatte sich nicht besonders konzentriert, nicht Maß genommen, nicht einen Augenblick vor dem Wurf still verharrt, nicht versucht, die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Er hatte seine Kugel einfach nur geworfen, quasi im Vorbeigehen, als hätte er noch etwas Wichtigeres zu erledigen. Es machte ein geräuschvolles Klack, Leons Kugel sprang gegen den Begrenzungsbalken, und die Kugel des Jungen blieb wie eingemauert liegen. Jetzt führten die Herausforderer wieder das Spiel an.

Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen. Dann gab es vereinzelt Applaus. Aber der Zauber war vorbei, noch bevor er richtig begonnen hatte.

Leon stand da und dachte, dass er gerade eine neue Art von Boule erlebt hatte. Wahrscheinlich würde es demnächst eine App geben, die den perfekten Wurf auf dem Handy errechnete. Einen Wurf ohne Gefühl, ohne Diskussionen, mit einem Sojariegel als Snack zwischendurch statt einem backfrischen Croissant; ein Smoothie in der Hand statt einem Rosé.

Jetzt hielt Leon die letzte Kugel des Spiels in der Hand. Und plötzlich waren alle Blicke wieder auf ihn gerichtet. Würde er es schaffen, seinen letzten Wurf zu wiederholen? Würde er diesen beiden jungen Burschen zeigen können, dass Boule so viel mehr war, als nur Kugeln über einen staubigen Platz rollen zu lassen? Leon stellte sich in den Wurfkreis, als eine kleine Windböe Staub unter den Platanen aufwirbelte. Leon warf, und noch bevor die Kugel den Boden erreichte, wusste er, dass sie verloren hatten. Seine Kugel verfehlte den Gegner und rollte wirkungslos gegen den Begrenzungsbalken. Kein Applaus, keine anerkennenden Sprüche, nur beifälliges Gemurmel, als sich die Zuschauer langsam verliefen.

»Sie haben sehr gut gespielt.«

Das wohlmeinende Kompliment des dunkelhaarigen Surfboys war fast noch schmerzhafter als die Niederlage.

»Danke«, sagte Leon. »Hier haben wir eine Regel: Die Verlierer laden die Gewinner auf einen Drink ein.«

»Für uns bitte nur eine Cola«, sagte der Blonde lächelnd. »Wir müssen morgen früh raus zum Training.«

»Habe ich mir fast gedacht«, sagte Leon, und zu Véronique: »Für Sie einen Pastis?«

»Könnte helfen, über die Niederlage hinwegzukommen.« Véronique lächelte die beiden jungen Männer an. »Ihr wart richtig gut.«

Sie saßen noch ein paar Minuten an einem der Café-Tische. Die Jungs tranken ihre Cola, und Leon war bemüht, die Konversation aufrechtzuerhalten. Wenig später verschwanden die Herausforderer und ließen Leon und seine Mitspielerin etwas frustriert mit ihren Drinks zurück.

»Eben habe ich mich zum ersten Mal gefühlt, als wäre ich 50«, sagte Leon.

»Sie sind 50.«

»Danke, dass Sie mich daran erinnern«, sagte Leon.

»Nehmen Sie es wie ein Mann.«

»Jetzt reden Sie wie meine Mutter.« Leon hob sein Glas, und Véronique prostete ihm zu.

Es war inzwischen dunkel geworden. Ein Einsatzfahrzeug der Gendarmerie fuhr an der Promenade entlang. Das Blaulicht zuckte durch die anbrechende Nacht. Vom Meer her wehte die Abendbrise. Es roch nach Seetang und nach warmem Sand. Véronique sah dem Polizeiauto nach.

»Die werden ihn nicht finden«, sagte sie.

»Wen?«

»Na, Patrick Favre natürlich. Ist ja auch kein Wunder. Wussten Sie, dass sein Vater bei den Flics war?«

Leon sah sie überrascht an.

»Nicht hier in Lavandou. In Fréjus. Ist schon lange her«, fügte sie erklärend hinzu.

»Nein, habe ich nicht gewusst.«

»Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.« Véronique sah Leon an. »Sagt man das nicht so?«

»Sie denken, die Gendarmerie von Lavandou schützt einen potenziellen Mörder?«, fragte Leon ungläubig.

»Nein, natürlich nicht. Aber alte Verbindungen sind immer nützlich. Wenn die Flics zu Favre kommen, dann weiß der Alte garantiert schon vorher Bescheid.«

»Denkt der Vater, sein Sohn hätte damit etwas zu tun?«, fragte Leon.

Wenn jemand über die Gemütslage der Bewohner von Lavandou Bescheid wusste, dann war das Véronique.

»Sagen Sie es mir.« Véronique zuckte mit den Schultern. »Sie sind der Médecin Légiste, Sie haben die Verbindungen.«

»Die Rechtsmedizin kann nur forschen, nicht spekulieren«, wich Leon diplomatisch aus.

»Es gibt ‘ne Menge Leute in der Gegend, die Patrick für einen harmlosen Spinner halten. Aber einige würden ihn am liebsten gleich am nächsten Baum aufhängen.«

»Was denken Sie, Véronique?«

Véronique sah Leon einen Moment an. »Ich habe Angst, dass es schon bald das nächste Pärchen erwischen könnte.«