Jetzt fuhr sie schon zum dritten Mal zur Familie Favre in die Hügel des Massif des Maures. Die schmale Straße war leer, und der Asphalt glänzte dunkel und nass von dem kurzen Regenschauer, der gerade über das Land gezogen war.
»Halt an«, sagte Isabelle zu Masclau, der hinter dem Steuer saß.
»Isabelle, für so was haben wir jetzt echt keine Zeit.« Masclau klang genervt. Er ahnte, was Isabelle vorhatte.
»Ich entscheide, ob wir Zeit haben.« Das klang strenger, als Isabelle es gemeint hatte. Aber sie war schließlich Capitaine und damit Masclaus Vorgesetzte. Schon aus Prinzip durfte sie solchen Widerspruch nicht durchgehen lassen.
»Ich meine ja nur, wir haben mittags auch noch die Besprechung.« Masclau hatte bemerkt, dass er sich im Ton vergriffen hatte.
»Da vorne.« Isabelle deutete zu einer Gruppe Felsen.
Masclau lenkte den Wagen auf den Kiesstreifen, der die Fahrbahn begrenzte, und Isabelle stieg aus.
»Stell den Motor ab«, bat sie und machte ein paar Schritte in das kniehohe Unterholz. Dort blieb sie stehen und sah sich um. Dann schloss sie für einen Moment die Augen. Die Sonne war wieder durch die Wolken gebrochen.
Es gab viele Arten, die Provence kennenzulernen. Man konnte über endlose Straßen durch die Hügel fahren, von einem fantastischen Aussichtspunkt zum nächsten. Man unternahm einen Spaziergang durch einen der verträumten Orte, in denen die Zeit stehen geblieben war. Oder man ging in ein Restaurant wie das La Tonnelle oder das La Vavouille und ließ sich von den Köstlichkeiten der südfranzösischen Küche überraschen. Es gab aber noch eine Methode, mit der man mehr über das Land erfuhr als mit allen anderen: Man erforschte die Provence mit der Nase, am besten an einem heißen Sommertag wie diesem, an dem ein kurzer Regenschauer über die aufgeheizte Landschaft gezogen war. Man stellte sich dann mitten in die Natur und atmete einfach tief ein und aus. Erst roch die Luft nur nach feuchter Erde. Aber plötzlich, nur wenige Sekunden später, konnte man den Duft von Salbei und Rosmarin wahrnehmen oder von blühendem Oleander und Mimosen. Und wenn man Glück hatte, konnte man sogar einen Hauch von wildem Lavendel riechen. Isabelle betrachtete noch einen Augenblick die Regentropfen, die auf den Blättern der Pflanzen in der Sonne glitzerten. Es war der perfekte Augenblick. Eine Viertelstunde später, und die Sonne hätte diese Duftwolke längst wieder verdampft. Isabelle ging beschwingt zum Auto zurück und setzte sich auf den Beifahrerplatz.
»Jetzt kannst du weiterfahren, Didier«, sagte sie und ließ das Fenster runter.
»Darf ich dir mal was sagen?«
»Nein«, sagte Isabelle. Sie saß entspannt auf dem Beifahrersitz und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen.
Sie hatte an diesem Vormittag bereits drei Mal bei Monsieur Favre angerufen. Jedes Mal hatte sie höflich gefragt, ob sich sein Sohn bei ihm gemeldet hätte, und jedes Mal hatte der Mann wortlos aufgelegt.
Die ersten Tage nach dem Mord am Strand hatte die Gendarmerie in der Nähe des Hauses der Favres einen Streifenwagen zur Beobachtung abgestellt, vergeblich. Keine Spur des flüchtigen Patrick. Daraufhin hatte Polizeichef Zerna die Überwachung abgeblasen. Schließlich konnte die Gendarmerie von Lavandou nicht vor das Haus jedes Zeugen einen Polizeiwagen abstellen. Es war jetzt an der Zeit, dass Isabelle ein ernstes Wort mit Pierre Favre, dem Vater von Patrick, sprach.
Das Haus der Favres lag wie verlassen da. Das Tor stand offen. Masclau war auf den Hof gefahren und hatte das Polizeiauto unter der großen Platane am Eingang geparkt. Jemand hatte offenbar die Oleanderhecke gestutzt, aber die abgeschnittenen Äste noch nicht weggeräumt. Auf dem Tisch der Veranda standen ein Aschenbecher und zwei Dosen Bier. Isabelle hob eine an.
»Nur angebrochen«, sagte sie. »Sind noch ganz kalt.«
»Denkst du, er ist hier?« Masclau sah sich um.
»Glaube ich nicht«, sagte Isabelle. »Wenn er wirklich hier war, dann hat er uns garantiert kommen sehen und ist längst weg.«
»Ist da jemand?«, rief eine Stimme aus dem Inneren des Hauses. Dann hörte man einen heftigen Hustenanfall.
»Wir sind es, Monsieur Favre«, antwortete Isabelle laut und schob die Eingangstür ein Stück auf. »Capitaine Morell und Lieutenant Masclau von der Gendarmerie.«
»Kommen Sie nicht rein. Ich bin bewaffnet, ich kenne meine Rechte.«
Bei dem Wort »bewaffnet« zog Masclau sofort seine Dienstpistole.
»Hab ich schon gehört.« Isabelle sah auf Masclaus Waffe und schüttelte energisch den Kopf. Sie stieß vorsichtig die Tür weiter auf. »Wir sind ja sozusagen Kollegen.«
»Kollegen? Ganz bestimmt nicht.« Monsieur Favre kam langsam näher. Immer wieder blieb er schwer atmend stehen und hustete.
»Wir wollen nur mit Ihnen reden, Monsieur Favre«, sagte Isabelle. »Machen Sie es uns doch nicht so schwer.«
»Sie wollen meinen Sohn verhaften«, sagte Favre, »aber das lasse ich nicht zu. Der hat nichts getan, gar nichts.«
»Dann hat er auch nichts zu befürchten«, stellte Isabelle sachlich fest.
Im Dämmerlicht des Flurs tauchte Monsieur Favre auf. In der Hand hielt er einen verrußten Schürhaken. Der kranke Mann trug einen grünen Frottee-Morgenmantel, der voller Flecken war. Trotzdem erschien Isabelle das Haus aufgeräumter als bei ihrem letzten Besuch. Im Flur lagen keine Kleidungsstücke mehr am Boden, die Mäntel hingen ordentlich in der Garderobe, und durch die offene Küchentür konnte Isabelle erkennen, dass jemand zumindest das Geschirr gespült und ins Regal geräumt hatte. Unwahrscheinlich, dass der schwerkranke Monsieur Favre für so viel Ordnung verantwortlich war. Favre kam näher, noch immer den Schürhaken in der Hand, den er provozierend hin und her schwang.
»Legen Sie das Ding weg!«, blaffte Masclau den Mann an und legte die rechte Hand auf die Waffe in seinem Gürtelholster. »Jetzt.«
Isabelle spürte, wie sich die Atmosphäre mit Masclaus Zorn und Favres Verachtung auflud.
»Legen Sie es lieber weg, Monsieur Favre. Das Ding ist ja ganz schmutzig«, Isabelle zeigte auf den rostigen Schürhaken.
Isabelle hatte im Ton einer besorgten Tante gesprochen, und tatsächlich legte Favre den Schürhaken widerspruchslos auf die Kommode.
»Ihr Sohn war hier«, stellte Isabelle fest und sah sich um.
»Na und?«, Monsieur Favre ließ sich schwer auf einen der Gartenstühle der Veranda sinken.
»Sie wissen, dass Sie eine Straftat begehen, wenn Sie Ihren Sohn verstecken«, sagte Masclau.
»Blödsinn.«
»Sie rauchen zu viel«, sagte Masclau mit Blick auf den Aschenbecher.
»Sind Sie jetzt auch noch mein Arzt?« Favre musterte den Lieutenant mit herablassendem Blick. »Ich habe Lungenkrebs. Scheißegal, ob ich rauche oder nicht.«
»Warum versteckt sich Ihr Sohn?«, fragte Isabelle.
Favre begann wieder zu husten, diesmal war der Anfall heftiger. Er griff in die Tasche seines Morgenmantels, zog ein Papiertaschentuch heraus und hielt es sich vor den Mund. Es färbte sich rot.
»Wir haben nur ein paar Fragen an Ihren Sohn, das ist alles.«
»Und deswegen haben die Flics ihn gleich zur Fahndung ausgeschrieben?« Der Mann winkte ab. »Ich weiß doch, wie das bei der Polizei läuft.«
»Vorsicht, Monsieur Favre«, sagte Masclau.
»Sonst was?«, provozierte Favre weiter. »Schlagen Sie mich sonst zusammen? Nur zu.«
»Lieutenant Masclau, bitte«, mahnte Isabelle ihren Kollegen.
»Den da sollten Sie besser nicht zu Zeugenbefragungen mitnehmen«, Favre machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung Masclau.
»Wir können auch gerne zusammen zur Wache fahren«, drohte Masclau. »Vielleicht fällt Ihnen dann ja ein, wo Ihr Sohn ist.«
»Ein alter, kranker Mann im Bademantel auf der Wache«, sagte Favre. »Na, das wird ein Spaß.«
Isabelle sah, dass Masclau vor Wut kochte. Wenn er mit diesem Favre alleine gewesen wäre, hätte er ihn wahrscheinlich längst geschnappt und erst mal kräftig gegen die Wand gedrückt.
»Wenn Ihr Sohn sich stellt, könnten wir uns die ganze Fahndung sparen«, Isabelle sah Favre freundlich an.
»Mein Sohn hat ein paar Probleme, das weiß ich selber«, Favre griff zu der Bierdose und nahm einen Schluck.
»Das ist ja wohl die Untertreibung des Tages«, sagte Masclau abfällig.
»Masclau …«, sagte Isabelle. Diesmal klang es wie eine letzte Warnung.
»Stimmt doch«, sagte Masclau, »Patrick hat nicht nur ein paar Problemchen, und das wissen Sie ganz genau.«
»Er befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung, falls Ihr Kollege das meint«, sagte Favre an Isabelle gewandt.
»Das ist aber noch lange keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen«, versuchte Masclau es noch einmal. »Wir müssen trotzdem mit ihm reden.«
Isabelle sah ihren Kollegen strafend an.
»Gehst du schon mal zum Wagen und gibst an die Zentrale durch, dass wir uns eine halbe Stunde verspäten«, bat sie. »Ich komm gleich nach.«
Ohne Favre noch einmal anzusehen, verschwand Masclau über die Veranda und setzte sich beleidigt in den Wagen.
»Es ist sehr wichtig, was ich Ihnen jetzt sage«, sagte Isabelle, nachdem sie sich einen Moment lang stumm angesehen hatten. »Es gibt ein paar Leute in dieser Stadt, die würden Patrick gerne loswerden.«
»Denken Sie, das wüsste ich nicht«, sagte der Vater und hustete. »Patrick ist schwierig, das stimmt. Deswegen ist er ja auch in dieser Behandlung. Aber er ist kein schlechter Mensch. Ganz und gar nicht.«
»War er hier im Haus, in den letzten Tagen?«, fragte Isabelle.
»Wen habe ich denn, der sich kümmert, wenn die Schmerzen kommen?«, sagte Favre leise.
»Warum holen Sie sich keine professionelle Hilfe? Das läuft doch alles über den Sozialen Dienst. Der schickt ihnen jemanden. Ein-, zweimal in der Woche. Das würde für Sie bestimmt vieles leichter machen.«
»Ich will keine Fremden im Haus haben.«
»Bitte, Monsieur Favre, reden Sie mit Ihrem Sohn.« Isabelle legte ihre Karte auf den Tisch. »Das ist meine Nummer, da kann er mich Tag und Nacht erreichen.«
»Jetzt sind Sie freundlich zu mir«, sagte der kranke Mann. »In Wirklichkeit wollen Sie Patrick doch auch nur einsperren.«
»Glauben Sie das wirklich, Monsieur Favre? Warum?«
»Weil Sie keinen anderen Verdächtigen haben«, erwiderte Favre. »Ich weiß schon. Irgendwann tauchen sogenannte Beweise auf, und dann schnappt man sich den, den die Polizei sowieso schon die ganze Zeit im Visier hat.«
»So läuft das vielleicht woanders, aber nicht hier bei uns.«
»Ich bin müde. Ich muss mich hinlegen.«
»Kann ich noch etwas für Sie tun?«
»Ja, gehen Sie und nehmen Sie Ihre Karte wieder mit.«
»Die lasse ich hier. Vielleicht brauchen Sie sie ja doch noch irgendwann.«