Polizeichef Zerna saß hinter seinem Schreibtisch und war stinksauer. Gerade war ihm der zweite Verdächtige durch die Lappen gegangen. Dieses Mal nicht durch Flucht, sondern durch die Intervention der eigenen Behörde. Vor einer Viertelstunde war Zerna vom Haftrichter in Toulon darüber informiert worden, dass die U-Haft von Olivier Rybaud ausgesetzt worden war. Das von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Material rechtfertigte angeblich keinen Tatverdacht und damit auch keine Untersuchungshaft.
»Wenn ich mir vorstelle, dass dieser Kerl bei den Obduktionen seiner eigenen Opfer dabei war.« Zerna fasste sich demonstrativ an den Kopf.
»Noch steht nicht fest, ob Rybaud in irgendeiner Verbindung zu den Morden steht, Commandant«, erinnerte Leon höflich an die Fakten.
»Was sind Sie jetzt, auch noch sein Anwalt? Wer sagt uns, ob er bei den Obduktionen nicht Spuren verwischt oder neue gelegt hat. Gelegenheit hätte er ja genug gehabt!«
»Diesem Typen würde ich alles zutrauen«, sagte Masclau und sprach damit aus, was Zerna dachte. »Der ist echt schräg.«
Im Büro des Polizeipräsidenten hatte sich nur der engste Kreis der Gendarmerie versammelt. Neben dem Polizeichef und seiner Stellvertreterin waren auch Masclau, Kadir und Leon im Raum. Alle mussten stehen. Nur Zerna lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, der hinter seinem Mahagonischreibtisch stand.
Eigentlich hatte Leon sich vorgenommen, nur die anderen reden zu lassen. Aber jetzt musste er einfach ein paar Dinge richtigstellen. Selbst falls Rybaud tatsächlich etwas mit der Sache zu tun haben sollte.
»Olivier Rybaud ist seit acht Jahren mein Assistent und mein engster Mitarbeiter in der Pathologie«, sagte Leon. »Bis heute hat er sich ausschließlich durch große Zuverlässigkeit und hohe fachliche Kompetenz ausgezeichnet.«
»Der Kerl, der den Surfern die Kehle durchgeschnitten hat, hatte auch fachliche Kompetenz«, murmelte Masclau.
»Schon gut, schon gut, Docteur.« Zerna hob beide Hände, als müsste er sich bei Leon entschuldigen. »Ich hatte heute noch einen Anruf. Aus dem Innenministerium. Sie können sich ja denken, was die wollten.«
»Wir arbeiten so schnell wir können«, sagte Isabelle.
»Das ist Toulon aber nicht schnell genug«, antwortete Zerna.
»Was wollen die denn noch von uns, verdammt noch mal?«, brauste Masclau auf.
»Ganz einfach: Die wollen den Täter, und zwar am besten heute.« Zerna klang bedrohlich ruhig.
»Und wie soll das bitte gehen?«, fragte Masclau trotzig.
»Suchen Sie. Finden Sie Belastungszeugen gegen diesen Rybaud. Beschatten Sie ihn. Der Mann ist offensichtlich ein Killer. Solche Leute machen Fehler.« Zerna klang genervt.
»Dafür brauchen wir mehr Leute«, verteidigte Isabelle ihre Mannschaft. »Sagen Sie das denen in Toulon.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Zerna packte den Hörer und bellte ein kurzes »Ja?«. Er hörte sich ein paar Sekunden an, was der Anrufer zu sagen hatte, dann brüllte er »No!« und knallte den Hörer zurück auf das Telefon.
»Diese verdammten Surfmeisterschaften«, fluchte Zerna. »Ständig rufen Journalisten an. Das war ein Sender in Australien. Die haben gefragt, ob wir mit weiteren Morden rechnen.«
»Die Menschen haben Angst«, sagte Isabelle.
»Wundert Sie das? Und was ist jetzt mit Patrick Favre? Hat der Besuch bei seinem Vater was gebracht oder nicht?«, fragte Zerna und warf dabei einen vorwurfsvollen Blick auf das Pflaster, das seine Stellvertreterin auf der Stirn trug und das alle daran erinnerte, dass ihr bereits ein Verdächtiger entkommen war.
»Monsieur Favre weiß nicht, wo sein Sohn ist«, antwortete Isabelle. »Zumindest behauptet er das.«
»Sie sind anderer Meinung?« Zerna hatte den leisen Zweifel in ihrer Stimme gehört.
»Wir haben Hinweise, dass Patrick Favre seinen Vater regelmäßig besucht, um nach ihm zu sehen.«
»Sie sehen Favre nicht als Täter?« Der Polizeichef lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Nein«, sagte Isabelle ruhig. »Ich kenne Patrick Favre. In den vergangenen drei Jahren hat es sieben Anzeigen gegen ihn gegeben.«
»Na also«, sagte Zerna zufrieden. »Das ist doch schon mal ein Anfang.«
»Diebstahl auf dem Markt, ein Auto ausgeräumt«, begann Masclau.
»Das war ein Cabriolet, das offen stand«, korrigierte Isabelle den Lieutenant.
»Zwei Mal Schlägereien mit betrunkenen Touristen«, fuhr Masclau fort, »und einmal ist er auf eine Frau losgegangen. Alle Anzeigen wurden kassiert oder wegen Geringfügigkeit nicht weiterverfolgt.«
»Was sagt unser Médecin Légiste?« Zerna sah Leon an.
Einen winzigen Moment fragte sich Leon, ob er das Team der Gendarmerie über seine jüngsten Überlegungen aufklären sollte. Dass es sich bei dem Mörder möglicherweise um einen Mann handelt, der Jagd auf seine Opfer macht. Aber welche Beweise hatte er für diese verwegene Theorie? Ein paar blutige Eichenblätter und Erinnerungen an Jagdausflüge mit seinem Großvater, als er zehn Jahre alt gewesen war. Das konnte er der Gendarmerie nationale nicht einfach so erzählen. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Er brauchte dringend deutlichere Spuren.
»Docteur?«, Zerna riss Leon aus seinen Gedanken. »Ihre Einschätzung?«
»Diese Taten setzen gute Planung voraus. Perfekte Planung. Der Ort, die Zeit, die passende Situation – alles muss stimmen. Dieser Täter bereitet sich akribisch vor. Er zelebriert seine Taten. Schon die Vorbereitung verschafft ihm Nervenkitzel, es erregt ihn.«
»Woher wollen Sie das denn wissen?«, unterbrach ihn Masclau und erntete einen scharfen Blick von Isabelle.
»Er sucht sich seine Opfer genau aus«, fuhr Leon ungerührt fort. »Er beobachtet sie. Legt sich auf die Lauer. Und nach der Tat arrangiert er seine Opfer. Wie auf einem Bild. Er will, dass wir wissen, was er tut.«
»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Docteur«, sagte Zerna mit blasiertem Unterton. »Das ist doch reine Spekulation. Vielleicht hören wir auch nie wieder was von dem Kerl.«
»Ich fürchte, den Gefallen wird er uns nicht tun«, sagte Isabelle.
»Da gebe ich ihr recht«, sagte Leon. »Triebtäter hören nicht einfach auf zu morden. Sie legen vielleicht eine Pause ein, aber sie kommen wieder.«
»So wie Patrick Favre?«, fragte Masclau. «Der zwischendurch ein paar Viecher aufschlitzt, um nicht aus der Übung zu kommen?«
»Eidechsen«, spezifizierte ihn Isabelle.
»Na gut, dann eben Eidechsen.«
Zerna beobachtete einen Moment schweigend sein Team.
»Haben Sie etwas bemerkt?« Der Polizeichef lehnte sich nach vorn, stütze sich auf den Tisch und sah Leon listig an. »Ihre Täterbeschreibung passt genau auf Ihren Assistenten Rybaud: Ein Pedant ohne Freunde, ohne Empathie, ein Einzelgänger.«
»Wenn so einem die Freundin ausgespannt wird, Patron«, kombinierte Masclau weiter, »ist doch klar, dass er dann durchdreht.«
»Ich will mehr über den Hintergrund des Verdächtigen wissen«, sagte Zerna. »Ich möchte, dass der Kerl wieder festgenommen wird. Je früher er hier in der Zelle sitzt, umso besser für die ganze Stadt.«
»Wir sind an ihm dran«, beruhigte ihn Lieutenant Masclau.
»Außerdem überprüfen wir alle Männer im fraglichen Alter rund um Le Lavandou, die wegen sexueller Gewalttaten bereits mit der Polizei zu tun hatten«, ergänzte Kadir. »Ist ‘ne ziemlich lange Liste.«
»In Ordnung. Wir verstärken noch mal die Präsenz der Gendarmerie in Lavandou«, ordnete Zerna an. »Nach Einbruch der Dunkelheit soll alle zehn Minuten eine Streife die Promenade entlangfahren. Die Menschen sollen sehen, dass wir was tun für ihre Sicherheit.«
Eine Viertelstunde später saßen Isabelle und Leon auf einer Bank an der Uferpromenade. Während in der Wache, keine zehn Minuten zu Fuß entfernt, die Fahndung nach dem geheimnisvollen Serienkiller auf Hochtouren lief, war es Isabelle gelungen, sich wenigstens für eine halbe Stunde aus dem hektischen Betrieb auszuklinken. Eine halbe Stunde, in der sie in aller Ruhe mit Leon die jüngsten Entwicklungen besprechen konnte.
Es war ein heißer Tag, kein Wind, das Meer dunkelblau glitzernd und still wie ein See. Jetzt, am Nachmittag, schleppten sich die Touristen, müde vom Mittagessen, zurück an den Strand. Dort würden sie unter ihren viel zu kleinen Schirmen einschlafen und keine Stunde später mit einem feuerroten Sonnenbrand wieder aufwachen.
Es waren auffallend weniger Touristen als sonst am Strand. Wo waren die Männer mit ihren umgehängten Kästen, aus denen sie Popcorn und gebrannte Mandeln verkauften? Wo waren die Kinder, die sonst vor den Eisdielen Schlange standen? Die Ladenbesitzer machten besorgte Gesichter, und in den Bistros und Cafés liefen die Fernseher mit den Nachrichtensendungen rund um die Uhr. Als würden alle nur auf eine Nachricht warten: dass der Mörder gefasst wäre und das Leben endlich wieder seinen geregelten Lauf nehmen könnte.
Isabelle hielt Leon eine kleine Pappschale voller frischer Brombeeren hin, die sie im Vorbeigehen bei La Pomme d’Amour gekauft hatte.
Er nahm sich eine Beere. Sie war köstlich, zuckersüß und warm von der Sonne.
»Ich bin froh, dass du es vor den anderen nicht erwähnt hast«, sagte Isabelle
»Und du, was hältst du davon?«
»Ganz ehrlich?« Isabelle hielt Leon noch mal die Beeren hin. Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Du glaubst also ernsthaft, dass irgend so ein Kerl Menschen jagt? So wie man Füchse und Hasen jagt?«
»Darauf weisen jedenfalls die Spuren hin.«
»Welche Spuren? Du hast ein paar blutige Blätter, okay. Und so was wird bei der Jagd verwendet, um Tiere zu markieren, auch klar.«
»Du glaubst, ich liege falsch?«
»Ich glaube, du verrennst dich da in was, Leon. Was du da hast, ist keine echte Spur.«
»Dieser Mensch geht auf die Jagd, und er will, dass wir seine Trophäen bewundern. Das spüre ich einfach.«
»Wenn sich neue Spuren ergeben sollten, können wir ja noch mal drüber reden.«
»Was ist mit diesem Albatros?«, fragte Leon.
»Über den wissen wir nur, dass er der Sonne hinterherreist und Drogen vertickt«, Isabelle sah auf ihre Uhr. »Ich muss zurück.«
»Na gut«, sagte Leon. »Ich fahr noch mal ins Labor. Es könnte heute später werden.«
»Arbeite nicht so lange, mon chéri .« Sie küsste ihn auf den Mund und ging davon.
Was bist du für ein Lügner, dachte Leon, während er ihr nachsah. Warum sagst du ihr nicht, was du wirklich vorhast?
Isabelle drehte sich noch einmal kurz um und winkte ihm zu, dann ging sie weiter.
Leon folgte ihr mit dem Blick. Was sollte er nur tun?