43. Kapitel

Leon saß auf der Terrasse des Hotel de la Calanque und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Gleich neben ihm, ebenfalls in einem der bequemen Lounge-Chairs, wartete Élise Simon darauf, dass er etwas sagte. Aber Leon war wie blockiert. Ein Schüler, dem man ein Kompliment für seine Leistung gemacht hatte und der nicht wusste, wie er Danke sagen sollte. Das Angebot, das ihm gerade unterbreitet worden war, war grandios, nein, es war sensationell. Madame Docteur Simon war nicht nur eine der bekanntesten Pathologinnen des Landes, sie war zudem die Leiterin der Rechtsmedizinischen Abteilung an der Universität von Toulouse. Was ihr Angebot anging, so war Leon unsicher, ob er Champagner bestellen oder besser ohne ein Wort aufstehen und davonlaufen sollte. Er entschied sich für den diplomatischen Weg: vorsichtige Verzögerung.

»Sie schweigen?«, fragte Madame Simon und sah ihn mit einem entwaffnenden Lächeln an. »Ist es nicht das, was Sie sich vorgestellt hatten, als wir uns das letzte Mal getroffen haben?«

»Es hat mich … ich meine, es geht jetzt alles so schnell. Ich konnte Ihnen ja meine Arbeit noch gar nicht richtig vorstellen.«

»Wir beobachten Ihre Arbeit schon seit einer ganzen Weile, Docteur Ritter. Wir kennen Ihre Veröffentlichungen, und wir wissen, dass Sie bisweilen ungewöhnliche Wege gehen. Aber genau das ist es, was wir suchen. Wir möchten das Image der Rechtsmedizin an der Universität Toulouse aufpolieren. Wir glauben, dass Sie der Richtige dafür wären. Eine Mischung aus modernem Wissenschaftler und leidenschaftlichem Mediziner.«

»Das ist sehr freundlich, Madame«, sagte Leon vorsichtig. »Und seien Sie versichert, dass Ihr Angebot sehr genau meinen Vorstellungen entspricht.«

»Na also, das hören wir doch gerne.« Sie hob ihre Cafétasse wie ein Weinglas und postete ihm zu.

»À votre santé , Docteur.«

»À la vôtre. « Leon hob zögernd seine eigene Tasse. Über seinem Lächeln lag ein Schatten.

Natürlich war das Angebot der Universität von Toulouse mehr als interessant. Eine Professur an der renommierten Uni, Leitung der Rechtsmedizinischen Abteilung, Forschungsmöglichkeiten. Der Job wurde mehr als ordentlich bezahlt. Außerdem dürfte er zwischendurch Gutachten schreiben, was auch in finanzieller Hinsicht nicht zu verachten war. Alles perfekt, wenn da nicht diese 508 Kilometer wären. Genauso weit war die Universität Toulouse von Lavandou entfernt. Den Job anzunehmen, würde bedeuten, von Montag bis Freitag in Toulouse zu wohnen und Isabelle und Lilou nur noch am Wochenende zu sehen. Wie lange würde das gut gehen? Aus einer Woche würden nach und nach mehrere werden. Man würde sich immer seltener sehen – nicht auszudenken. Er fürchtete sich vor einer Trennung. Die Vorstellung einer Wochenendbeziehung bereitete ihm tiefe Sorge.

Das war auch der Grund gewesen, warum er bisher mit niemandem über das Angebot der Universität gesprochen hatte. Tief in seinem Inneren war er von Anfang an gegen diesen Job gewesen. Er hatte doch in Lavandou alles, was er wollte. Eine verantwortungsvolle Aufgabe in der Klinik. Eine Abteilung, die er leiten und gestalten durfte, und er war dabei nicht alleine. Er war mit Isabelle zusammen. Seiner großen Liebe. Wäre er wirklich bereit, das alles hintanzustellen?

Natürlich genoss er auch das Gefühl der Anerkennung. Aufmerksamkeit zu bekommen mit dem, was er tat. Wie oft hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, als Professor im Hörsaal einer renommierten Universität zu stehen. Hatte er sich das nicht immer erträumt? Doch das war, bevor Isabelle und Lilou in sein Leben getreten waren, bevor er nach Südfrankreich gezogen war, bevor er das Städtchen Lavandou kennen und lieben gelernt hatte. Freunde gefunden hatte, respektiert und geschätzt wurde. Lavandou war nicht Toulouse, ganz und gar nicht, aber es war zu seinem Zuhause geworden, und das aufzugeben konnte er sich einfach nicht vorstellen.

Jetzt saß er hier mit dem Jobangebot seines Lebens und einem rabenschwarzen Gewissen. Vielleicht hätte er weniger Begeisterung zeigen dürfen, als das erste vorsichtige Angebot der Uni an ihn herangetragen worden war. Stattdessen war er bei den Verhandlungen vage geblieben, und jetzt wusste er nicht mehr, wie er aus dieser Falle wieder herauskommen sollte.

»Ich muss Sie um etwas mehr Zeit bitten«, sagte Leon.

In diesem Moment sah er Isabelle. Oder glaubte er nur, sie zu sehen? Eine dunkelhaarige Frau, die an der Bar vorbeiging und kurz zu ihnen herübersah. Leon hatte sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Als er einen weiteren Blick in ihre Richtung warf, war sie verschwunden. Hatte er sich getäuscht? Jetzt hinter ihr herzulaufen, wäre peinlich gewesen. Vor allem auf die Gefahr hin, dass er sich irrte.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Madame Simon.

»Ja, ich dachte, ich hätte jemand gesehen«, sagte Leon. »Es gab heute sehr viel zu tun im Institut.«

»Dann ist Café au lait aber das falsche Getränk«, sagte Docteur Simon.

»Beim nächsten Mal.«

»Das klingt gut.«

»Ich muss noch mit der Familie reden.«

»Auf die Singles unter den Wissenschaftlern«, sie hob ihre Tasse.

»Ich muss gehen. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

»Überlegen Sie nicht zu lange.« Die Medizinerin lächelte, aber Leon wusste, dass die Bemerkung durchaus ernst gemeint gewesen war.