Die drei Männer hatten den verschrammten Lieferwagen unter einer Platane abgestellt. Das war kein besonders gutes Versteck, aber abends um zehn mussten sie keine Spaziergänger mehr fürchten. Schon gar nicht hier am Rande der Einkaufszentren, wo sich auch das Winterlager für Boote befand, das den schönen Namen Refuge de Bateau trug. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich dabei um knapp zwei Hektar staubiges trockenes Land am Fuße eines Hügels, mitten in der Pampa. Hier ließen Bootseigner im Winter ihre Schiffe versorgen. Wenn sie gewusst hätten, wie gleichgültig diese Aufgabe vom Pächter dieses Bootslagers gehandhabt wurde, hätten sie ihre Schätze wahrscheinlich woanders in Obhut gegeben.
Um diese Jahreszeit war das Gelände so gut wie leer. Die meisten Boote wurden Ende Juni zu Wasser gelassen und erst Ende September, bevor die Herbststürme einsetzten, wieder zurück ins Winterlager gebracht. Dort sollten sie dann repariert und hergerichtet werden für die nächste Saison. Zumindest war es das, was der Eigentümer des Winterlagers seiner zahlenden Kundschaft versprach. In Wirklichkeit geschah so gut wie nichts mit den Booten. Nur die wenigsten bekamen einen der begehrten Plätze in der Halle. Die meisten Boote standen draußen bei Wind und Wetter und wurden gelegentlich von Mäusen bewohnt, die sie als Schutz in der kalten Jahreszeit nutzten.
Die drei Männer pirschten sich geduckt an das Gelände heran. Obwohl sie davon ausgingen, dass es verlassen war und dass es eben darum dem Mann, nach dem alle suchten, als Versteck diente. Vor einem rostigen Maschendrahtzaun, der von Glyzinien überwuchert war, blieben sie stehen.
»Gib mir mal die Zange, Michel.« Lambert packte den Bolzenschneider, den ihm der Mann vom Tabac-Laden reichte, und begann, den Zaun aufzuschneiden. Der Bolzenschneider hatte keine Probleme mit dem verrosteten Drahtgeflecht.
»Ich hab ein mieses Gefühl bei der Sache«, flüsterte Michel und sah nervös in alle Richtungen, aber da war niemand. »Ein ganz mieses Gefühl.«
»Jetzt mach hier mal nicht einen auf Panik«, sagte Edmonde, der Pizza-Mann.
»Na, los, kommt schon.« Lambert zog den Zaun zur Seite, und die Männer zwängten sich nacheinander durch die Lücke.
Lambert hatte den Tipp mit dem Bootslager von Antoine bekommen.
»Nur unter uns, Bruno«, hatte Antoine gesagt, »ich hätte da vielleicht ‘ne Idee, wo sich das Schwein versteckt, der das mit deiner Tochter … du weißt schon.«
Antoine war ein ortsbekannter Alkoholiker und der Besitzer des Winterlagers für Boote. Ihm war aufgefallen, dass jemand in dem alten Kutter übernachtet hatte, der im hintersten Teil des Geländes aufgebockt war. Das Boot hatte mal einem Lehrer gehört, den aber Nierenprobleme außer Gefecht gesetzt hatten. Das war jetzt fast sieben Jahre her. Seitdem rottete der Kutter vor sich hin. Aber innen war er angeblich noch gut in Schuss, hatte Antoine behauptet – das ideale Versteck für einen, der auf der Flucht war. An die Flics wollte sich Antoine mit seinen Informationen lieber nicht wenden.
»Die Flics vermasseln die ganze Sache doch nur wieder«, hatte er Lambert gesagt.
Lambert ahnte, dass Antoine auch ganz pragmatische Gründe hatte, die Flics nicht in seinem Bootslager herumschnüffeln zu lassen. Nicht für alle Boote im Lager hatte Antoine gültige Papiere.
Darum waren sie jetzt alle hier, waren mitten in der Nacht in das Winterlager eingedrungen, auf der Suche nach einem brutalen Serienkiller. In wenigen Minuten würden sie das Schwein stellen und dann … Bei dieser Vorstellung spürte Lambert eine angenehme Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen. Das Hochgefühl, das ihn bereits begleitete, seit er die Entscheidung gefällt hatte, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, erfüllte ihn von Neuem – es war das Einzige, was ihn seit Colettes Ermordung aufrecht hielt. Er würde endlich etwas tun, er würde sich rächen für alles, was dieser Scheißkerl seiner Tochter und den anderen angetan hatte.
Inzwischen war der Mond aufgegangen. Die Welt schimmerte silbern im blassen Licht. Die Männer waren in die Hocke gegangen und beobachteten das Gelände. Sie befanden sich zwischen den aufgebockten Booten, am Fuß des Hügels. Von hier ließ sich die Anlage gut überschauen. Nichts rührte sich.
»Es muss eins von den alten Booten da drüben sein«, flüsterte Edmonde, während er konzentriert durch das Fernglas sah. Es waren einige alte Holzboote zu erkennen, die offenbar schon jahrelang auf dem Trockendock lagen und zum Teil schon von Ranken und Gebüsch überwuchert waren.
»Gib mal her«, forderte Michel und griff nach dem Fernglas.
»Es muss der kleine Kutter ganz am Ende der Reihe sein. Der mit den blauen Decksaufbauten«, sagte Bruno Lambert.
»Na dann.« Edmonde stand auf, holte aus der Tasche seiner dunklen Windjacke eine schwarze Skimaske, die nur Augen und Mund frei ließ, und zog sie sich übers Gesicht. Auch seine beiden Begleiter setzten ihre Masken auf.
»Los jetzt«, sagte Lambert.
»Wartet«, sagte Michel, »wir gehen besser hinter den Booten lang. Da haben wir mehr Deckung.«
»Quatsch, wir gehen mittendurch«, widersprach Edmonde.
»Lass uns endlich loslegen.« Lambert marschierte los. Sie liefen quer über den Platz, der von einer maroden Halle begrenzt wurde. Am Kopf des Gebäudes war ein kleines Büro untergebracht. Darüber hing ein großes Schild, auf dem unterschiedliche Bootstypen abgebildet waren.
»Stopp, ich glaube, da ist jemand«, zischte Michel. Er hatte die Hand gehoben, als hätte er das Kommando über eine militärische Spezialeinheit und nicht über drei Männer, die sich zu ihrem Coup im Bistro verabredet hatten.
»Im Büro, hinter dem Fenster«, flüsterte Michel. »Ich glaube, da war gerade ein Licht.«
»Scheiße, du gehst mir so was von auf den Wecker mit deinem ängstlichen Getue«, blaffte Lambert den Mann an. »Jetzt machen wir‘s«.
Lambert kam keine zwei Schritte weit, als er gegen einen Balken stieß, der umkippte und laut scheppernd auf ein Blech stürzte. Der Lärm zerriss die nächtliche Stille wie eine Explosion. Im nächsten Moment ging das Licht in der Halle an. Die Männer drückten sich in den Schatten der Boote, als die Tür der Halle aufging und ein Mann herauskam. Er schwankte leicht. In der Hand hielt er eine Dose Bier.
»Hallo?«, rief der Mann.
Die drei Männer hielten still. Nur ein Hund bellte in der Nähe.
»Merde «, fluchte der Mann. »Verdammte Scheißköter. Macht bloß, dass ihr hier wegkommt!« Dabei schleuderte er die halb leere Dose in die Dunkelheit.
Der Mann knöpfte sich die Hose auf und pinkelte gegen eines der Boote. Dann verschwand er wieder in der Halle. Kurz darauf verlosch das Licht.
»Ich hab‘s doch gesagt, ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache«, flüsterte Michel.
»Das ist Antoine«, erklärte Edmonde. »Der ist blau, der merkt sowieso nichts.«
Geduckt schlichen die Männer an der Reihe von Holzbooten entlang und blieben vor dem kleinen blau-weißen Kutter stehen.
»Das hier muss es sein«, flüsterte Edmonde.
»Und wenn nicht?«, fragte Michel.
Edmonde antwortete nicht, sondern deutete nur auf den bunt bemalten Roller, der hinter einem Ginsterbusch lehnte.
»Ist das seiner?«, flüsterte Lambert.
»Na klar ist das seiner.«
»Und wie sollen wir ihn da runterkriegen?« Michel deutete nach oben zum Deck, das sich etwa zwei Meter über ihnen befand. An der Bordwand lehnte eine Leiter.
Edmonde legte den Finger an die Lippen und bedeutete den anderen, sich zwischen den Booten zu verstecken. Dann hob er einen Kieselstein vom Boden auf und warf ihn locker aufs Deck des Bootes. Er klapperte laut und vernehmlich übers Deck, aber nichts tat sich. Edmonde wiederholte das Manöver, wieder nichts. Nach dem dritten Mal war ein Geräusch aus dem Inneren des Bootes zu hören. Edmonde warf einen weiteren Kiesel. Etwas wurde zur Seite geschoben, und Edmonde machte einen Schritt in den Schatten des Nachbarboots. Im nächsten Augenblick erschien jemand an Deck. Es war Patrick Favre. Er schaltete eine kleine Taschenlampe ein, konnte die Männer aber nicht sehen.
»Antoine?«, rief er leise. »Bist du das?«
Wieder warf Edmonde einen Kiesel, diesmal hinter das Boot.
Die Taschenlampe zuckte in alle Richtungen.
Schließlich schwang sich Patrick über die Reling und stieg die Leiter hinunter. Die kleine Taschenlampe hatte er zwischen die Zähne geklemmt. Er erreichte den Boden und nahm die Lampe in die Hand. In diesem Moment sah er die drei Männer mit ihren schwarzen Masken. Sie stürzten sich gleichzeitig auf ihn.
»Was soll der Scheiß?«, konnte Patrick noch sagen, dann waren sie über ihm. Er wehrte sich nach Kräften.
Patrick war kein Kämpfer, aber er war zäh und in Panik. Gerade wollte er sich losreißen, als ihn ein Schlag gegen den Kopf traf. Lambert hatte einfach eine Holzlatte gegriffen und zugeschlagen. Das Holz hatte Patrick mit voller Wucht am Hinterkopf erwischt. Ohne einen Ton von sich zu geben, sackte er in die Knie und stürzte zu Boden.
»Und wie kriegen wir ihn jetzt in den Camion?«, fragte Michel.
»Halt endlich die Klappe und pack mit an«, sagte Lambert. Dann trat er dem Ohnmächtigen fest in die Seite.
»Hör auf!«, sagte Edmonde und schob Lambert zur Seite. »Dafür ist noch genug Zeit.«
Zu dritt packten sie den Ohnmächtigen und schleiften ihn zu dem Lieferwagen.